Arnaldur Indriðason – Eiseskälte: Erlendur Sveinssons 11. Fall: Island-Krimi

Gruselkrimi: Von Untoten, Grabräubern und der Liebe der Fischer

Ohne Abschied zu nehmen, ist Kommissar Erlendur in die Ostfjorde gereist – dorthin, wo er als Kind seinen kleinen Bruder im Schneesturm verloren hat. Jahrzehnte zuvor hatten sich hier dramatische Szenen abgespielt: Englische Soldaten gerieten in ein tödliches Unwetter und eine junge Frau verschwand spurlos. Deren Schicksal zieht Erlendur in seinen Bann: Er will unbedingt herausfinden, was sich damals zugetragen hat, so schmerzlich es für ihn auch sein mag, Ereignisse aus dieser Zeit ans Licht zu bringen. (Verlagsinfo)

Der Autor

Arnaldur Indridason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

Die Erlendur-Krimis von Indridason:

1) Menschensöhne
2) Todesrosen
3) Nordermoor
4) Todeshauch
5) Engelsstimme
6) Kältezone
7) Frostnacht
8) Kälteschlaf
9) Frevelopfer
10) Abgründe
11) Eiseskälte
12) Nacht über Reykjavik

Handlung

Immer wieder setzt sich Erlendur heimlich in die Ostfjorde Islands ab, denn hier ist er aufgewachsen. Hier hat sich vor einigen Jahren, als er zehn Jahre alt war, auch die größte Tragödie seines Lebens ereignet, als er seinen Bruder Bergur in einem Schneesturm verlor, in dem er und sein Vater um ein Haar fast selbst umgekommen wären. Zwei Jahre später zogen seine Eltern, Sveinn und Aslaug, nach Reykjavik, fort von allem Unheil.

Doch seitdem ist es ihm ein Bedürfnis, vermisste Personen zu finden oder wenigstens deren Schicksal aufzuklären. So erzählt ihm jetzt ein Fuchsjäger namens Boas, dass im Januar 1942 in einem schlimmen Wintersturm sowohl eine Kompanie britischer Soldaten in schwere Not geriet als auch eine junge Frau namens Matthildur spurlos verschwand. Sie hätte eigentlich den Briten begegnen müssen, denn sie wollte am gleichen Tag über den gleichen Pass wie diese. Und 60 Männer kann man ja schlecht verfehlen, oder?

Weitere Details erfährt Erlendur von einer steinalten Frau, die als Lehrerin tätig war und sich als Matthildurs Schwester Hrund erweist. Matthildurs Mann Jakob Ragnarsson, ein Seemann, ist schon längst in einem Sturm auf See umgekommen, aber sein bester Freund Ezra lebe noch, sagt sie. Und dass Mathildur als Geist umgehe, sei einfach nur Unfug, bekräftigt sie. Die alten Isländer, die glauben auch noch an Trolle und Elfen, pah!

Ezra ist ebenfalls schon betagt, aber er lebt keineswegs im Altenheim, sondern hält sich mit dem Verkauf von Trockenfisch über Wasser. Er bietet Erlendur ein paar Kilo davon an – lecker, findet der Käufer. Der gibt sich als eine Art Historiker aus, der nach dem Bergunglück im Januar 1942 forscht, bei dem zwölf Briten – und eine gewisse Matthildur – umkamen.

Klar hat Ezra schon von der gehört, ein feines Frauenzimmer, eine von drei Schwestern. Die dritte Schwester Ingunn zog nach Reykjavik und heiratete dort. Das war kurz bevor Matthildur Jakob heiratete. Einer ihrer Söhne ist Ingenieur am neuen Aluminiumwerk, das am Fjord errichtet wird. Und dieser Jakob, wie war der so? Allmählich wird Ezra misstrauisch, denn Erlendurs Fragen werden doch ziemlich persönlich.

Bei Ingunns Sohn darf Erlendur in alten Papieren wühlen. Hier stößt er auf einen in der Zeitung abgedruckten Nachruf auf den ehrenwerten Seemann Jakob Ragnarsson aus Eskifjördur. Darüber hat jemand dick das Wort SCHEUSAL geschrieben. Anscheinend war Jakob doch nicht so ehrenwert, wie der Nachrufschreiber glauben machen wollte.

Von Ingunns Freundin Ninna, die im Altenheim wohnt und trotz ihres Alters noch hellwach ist, erfährt Erlendur, warum Jakob ein derartiges „SCHEUSAL“ war. Allmählich beschleicht ihn ein finsterer Verdacht: Vielleicht hat es Matthildur damals nicht einmal bis in die Berge geschafft…

Mein Eindruck

Kälte ist das titelgebende Motto dieses Erlendur-Falls. Die Geschichte erforscht die Formen und Folgen von Kälte bis in die unheimlichsten Verzweigungen. So kommt unser Lieblingskommissar auf seine bislang verrückteste Idee: Als Jakob Ragnarsson nach seinem Schiffbruch in der Bucht von Eskifjördur ins Eishaus gebracht und vom Vertretungsarzt für tot erklärt wurde, war er mitnichten tot.

Die Eiseskälte sorgte dafür, dass seine Lebensfunktionen wie Herzschlag und Atmung auf ein absolutes Minimum herabgesenkt worden war, sodass es schien, als sei kein Atemhauch mehr in ihm. Theoretisch hätte ihm dies das Leben retten können. Ihm zum Verhängnis wurde allerdings, dass ausgerechnet sein Rivale Ezra die Aufsicht über das Eishaus hatte und seinen Sarg zu zimmern hatte…

Wie schrecklich die Kälte wüten kann, die ein Schneesturm auf dem Gletscher des Vatnajökull-Vulkans bringt, mussten im Jahr 1942 sechzig britische Soldaten erfahren, die vom Sturm überrascht wurden. Nur 48 von ihnen konnten gerettet werden, erfroren oder von den wilden Bächen fortgerissen. Es war die gleiche Nacht, in der Matthildur angeblich in den Bergen verschwand.

Erlendurs Trauma

Eine sehr persönliche Parallele dazu bildet Erlendurs eigenes Schicksal. Dessen wahre Natur wird uns nur in bruchstückhaften Erinnerungen überliefert, die in Erlendurs Verstand Albträume hervorrufen. Dies ist das Trauma, das seinen ganzen späteren Lebensweg bestimmen sollte und wird deshalb bis in kleinste, seltsamste Einzelheiten hinein verfolgt.

Als er zehn Jahre alt war, wollte Erlendur mit seinem Vater, einem Schafzüchter und Musiker, in den Bergen nach versprengten Schafen suchen, um sie in Sicherheit zu bringen. Doch es war Erlendur, der darum bat, dass auch sein zwei Jahre jüngerer Bruder Bergur mitkäme. Widerwillig gaben Vater und Mutter ihr Einverständnis. Bergur nahm das kleine rote Spielzeugauto mit, das auch Elendur begehrte – und es tauchte erst Jahrzehnte später in der Hütte des Fischers Ezra wieder auf. Nur um eine weitere hoffnungsvolle Suche nach Bergur auszulösen.

Im plötzlich einsetzenden Schneesturm verliert sich jede Sicht, jede Richtung verschwindet, der Wind drückt den Menschen erst in die Knie, dann auf den Boden. Erlendur verlor mit schwindendem Bewusstsein seinerzeit den Handkontakt zu seinem Bruder, der nie wieder gesehen wurde. Er selbst kam mit knapper Not davon, ebenso sein Vater, der von da an jeden Lebensmut verlor.

Der seltsame Wanderer

Das Allerseltsamste an diesem Unglück ist jedoch in Erlendurs Erinnerung die Warnung eines einsamen Bergwanderers, der in Bergur eine „schöne Seele“ erkannt und vor dem Verlust des Jungen gewarnt hatte. Die Attribute dieses Wanderers sind ein großer knorriger Stock, eine zuvorkommende Haltung, aber nicht etwa noch eine Augenklappe und zwei Raben auf den Schultern. Dennoch lässt er sich für den Sagenkundigen leicht als eine Verkörperung von Odin, dem Wanderer, erkennen. Mit dieser Figur erlaubt sich der Autor eine poetische Freiheit, die ihm aber jeder Isländer, der die alten Sagen mag, verzeihen wird.

Erlösung

Erlendurs Ermittlung gegen Jakob Ragnarsson und Ezra, den Fischer, wird sehr persönlich, aus den geschilderten Gründen. Sein Unterbewusstsein weiß, dass, wenn er das Schicksal der armen Matthildur ergründen und aufklären kann, er auch gute Chancen hat, das Schicksal seines eigenen Bruders aufzuklären. Es ist das beglückendste Leseerlebnis, dass dem Helden auf seine stille, sonderbare Art und Weise beides gelingt.

Die Wahrheit macht, nach den Worten des Apostels Paulus, nicht nur ihn frei, sondern auch Ezra, der am Verlust seiner Geliebten fast verzweifelt ist. In einer Szene wird nur angedeutet, dass Ezra gerade dabei, sich die Kugel zu geben, als Erlendur die erlösende Nachricht bringt: „Ich habe sie gefunden! Ich weiß, wo Jakob Ragnarsson ihre Leiche versteckt hat.“ Kein Wunder: Erlendur ist dafür zum zweifachen Grabräuber geworden.

Die Übersetzung

Coletta Bürling hat meines Wissens praktisch alle Indridason-Romane ins Deutsche übertragen. Dabei hat sie regelmäßig ausgezeichnete Arbeit geleistet, denn es ist sicherlich nicht einfach, das umgangssprachliche Isländisch in die deutsche Alltagssprache zu übertragen. Selbstredend kennt sie sich bestens mit der Geschichte der Insel und ihrer Bevölkerung aus.

Eine gewisse Herausforderung sind die Schriftzeichen der isländischen Sprache und Literatur. Wo die Briten auf der abgedruckten Landkarte einfach ein Th (stimmlos wie in „think“) schreiben dürfen, setzt die deutsche Fassung das Zeichen þ bzw. Þ. Das stimmhafte Th hingegen, das fast wie ein D ausgesprochen wird, sieht so aus: ð bzw. Ð. Der Laut Æ bzw. æ klingt ähnlich wie . Mehr Infos dazu unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Isl%C3%A4ndische_Sprache#Alphabet.

S. 273: „Wer hat dir davon erzählt?“ Die letzte Zeile dieser Seite ist ein in der Szene niedergeschriebener Satz. Während die Fragen und Antworten, die Erlendur mit dem Tauben austauscht, stets in Anführungszeichen stehen, fehlen diese an dieser Stelle. Das halte ich für einen Fehler.

S. 274: „Aber du kanntest dieses Jakob auch?“ Es sollte „diesen“ statt „dieses“ heißen.

Unterm Strich

In seinem elften Fall kehrt Kommissar Erlendur Sveinsson aus ganz persönlichen Gründen in seine alte Heimat zurück. Als er zwölf war, zeog er mit seinen Eltern in die Hauptstadt, vertrieben von einer Tragödie, die er zwei Jahre zuvor erlebt hatte: Er verlor seinen jüngeren Bruder in einem Schneesturm, und weil er derjenige gewesen war, der darum bat, dass Bergur mitkomme, gibt sich Erlendur bis heute die Schuld an Bergurs Tod. Nun ist es Zeit, wenigstens die Wahrheit, was damals, vor mindestens 50 Jahren, wirklich geschah, herauszufinden.

„In einem Fuchsbau findet man die erstaunlichsten Dinge“, verrät ihm der Fuchsjäger Boas. Und in der Tat stößt Erlendur auf zwei Objekte, die ihm darüber Aufschluss geben. Das erste ist ein kleines Spielzeugauto aus Metall, das er bei dem einsamen Fischer Ezra entdeckt… Von uralten Menschen wie Ezra erfährt er vom Schicksal der wie Bergur spurlos verschwundenen Frau Matthildur. Diese sechzig Jahre zuvor verschwundene Frau hätte eigentlich den britischen Soldaten in die Arme laufen müssen, die sich auf dem gleichen Passübergang befanden, dabei aber in einen Schneesturm gerieten.

Kälte und Verschwinden – diese beiden Phänomene führen Erlendur in seiner doppelten Ermittlung – die nie von irgendjemand genehmigt oder angestoßen wurden – in die Grenzbereiche menschlicher Erfahrung. Das ist das eigentliche Spannende und Faszinierende an dieser Geschichte, bei der der Leser nie weiß, was als nächstes kommt und wozu Erlendur noch fähig ist. Erlendur, so stellte sich zu meinem wachsenden Erstaunen heraus, ist zu absolut allem fähig. Er macht weder vor Gräbern noch vor Selbstmördern halt. Er lässt seine eigene Art von Gerechtigkeit walten, wenn es darum geht, ein zweites Verbrechen, auf das er gestoßen ist, zu beurteilen.

Der Verlauf dieser semi-öffentlichen Ermittlung ist recht leicht zu verstehen, obwohl die Ergebnisse immer erstaunlicher und gruseliger werden. Dies ist ein Gruselkrimi, der den Leser auf die Probe stellt. Nicht so sehr, was sein Nervenkostüm angeht, als vielmehr sein moralisches Empfinden. Ist es gerade noch okay, ein Grab zu schänden, oder dürfen es ruhig auch mal zwei sein?

Weniger leicht zu verstehen ist die in Bruchstücken präsentierte Erinnerung Erlendurs an jenen traumatischen Tag, als er seinen Bruder verlor. Dazu muss der Autor weit ausholen und sich aus großer Distanz, die Erlendurs ganze Familie umfasst, in Spiralen dem Kern der Tragödie nähern. Es gehört zur poetischen Freiheit dieser Erinnerungen, dass auch die Gestalt Odins auftaucht – der natürlich an keiner Stelle mit Namen genannt wird. Ein Isländer darf das tun, bei anderen Völkern bin ich mir nicht so sicher.

Alt und neu

Diese kriminologischen Aufräumarbeiten finden vor dem modernsten Hintergrund statt: Ein Staudamm wird gebaut, der ein Aluminiumwerk mit Strom versorgen soll. Der Staudamm, man weiß es aus John Boormans Spielfilm „Der Smaragdwald“, verändert die Landschaft. Aber das Bauwerk wie auch die Fabrik bedeuten einen Neuanfang für eine entlegene Region, die an Überalterung zu verkümmern droht.

Und diese Verkümmerung, dieses Verschwinden deckt Erlendurs Ermittlung deutlich auf: Er kann nur noch mit Leuten reden, die vor 60 Jahren mal in ihren Zwanzigern waren. Wen die See oder ein Schneesturm nicht verschlungen hat, der zählt jetzt im Altenheim seine Tage. Die Botschaft ist klar: Die Zeit drängt, mit den Leichen im Keller aufzuräumen, bevor man sich an den Neuanfang machen kann. Denn wer die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Der Auftrag

Das ist wohl auch der Anlass für den Autor gewesen, seinen Lieblingsermittler Erlendur zurück in die Vergangenheit zu schicken. Im zwölften Fall „Nacht über Reykjavik“ ermittelt Erlendur 1974 als Verkehrspolizist in einer doppelten Mordsache – ganz inoffiziell, wie es seine Gewohnheit ist. Und wie in „Eiseskälte“ gilt seine Suche den spurlos Verschwundenen, die kaum jemand mehr vermisst. Als Sprecher für die Toten hat er seinen Auftrag in früher Jugend – mit zehn – erhalten, und „Eiseskälte“ schildert auf faszinierende Weise, wie es dazu kam. Erlendur-Fans kommen also in beiden Romanen voll auf ihre Kosten.

Gebundene Ausgabe: 400 Seiten mit 2 Landkarten
Info: Furðustrandir, 2010
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
ISBN-13: 978-3785724620

www.luebbe.de

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