Dexter, Gary – Why not Catch-21? The Stories Behind the Titles

_Plagiat oder nicht? Die Geschichte hinterm Titel_

Die meisten Buchtitel beschreiben, um was es im jeweiligen Buch geht, so dreht sich Dostojewskis „Schuld und Sühne“ um ebendies und „Brideshead Revisited“ zeigt eben diese Rückkehr. Aber es gibt eine Minderheit von Büchern, die recht sonderbar betitelt sind, geradeso als wären sie unabhängige literarische Artefakte. Die Geschichten hinter ihnen unterscheiden sich deutlich von den anderen. So hat Platons „Republik“ rein gar nichts mit der Republik zu tun; „Der Postbote klingelt immer zweimal“ dreht sich um die Mühen eines Drehbuchautors; und „Winnie Puuh“ schildert einen Schwan auf einem Teich.

Gary Dexter präsentiert 50 häppchengroße Texte über die Literaturgeschichte von 380 v. Chr. bis 1992, die Aufklärung bieten. (aus der Verlagsinfo)

_Der Autor_

Der britische Journalist Gary Dexter hat zahlreiche Beiträge für die Zeitungen „Guardian“, „Sunday Telegraph“ und „Spectator“ geliefert und schrieb Kolumnen für die „Times“ und die „Erotic Review“. Er ist zudem der Redakteur des Nachschlagewerks „Chambers Concise Biographical Dictionary“. Das heißt, er kennt auch die Lebensgeschichten der Autoren, deren Werke er würdigt.

_Inhalt_

Was heute als Platons „Republik“ oder „Politeia“ (380 v.Chr.) bezeichnet wird, hat mit Republikanern herzlich wenig am Hut. Der Schüler von Sokrates wollte nämlich den Mördern seines Mentors, der bekanntlich den Schierlingsbecher trinken musste, eins auswischen. So entwarf er eine ideale Staatsform, in der die Philosophen das Sagen haben. Allerdings erscheint es uns ein wenig fragwürdig, wie die Philosophen zu ihren Kindern kommen: durch öffentliche Massenorgien. Das zumindest verhindert Erbstreitigkeiten, sollte man meinen.

Eines der folgenreichsten Bücher ist zweifellos „Utopia“ von Thomas Morus. Das 1516 unter Humanisten in Latein produzierte und zirkulierende Buch zeigt schon im Titel sein Janusgesicht: „ou topos bzw. eu topos“ bedeutet sowohl „kein Ort“ als auch „schöner Ort“. Die Gesellschaftsform, die Morus entwarf, erscheint auf den ersten Blick als genau das, was wir uns sogar noch heute wünschen: gerechte Güterverteilung, selbstlose Manager, Scheidung in gegenseitigem Einverständnis, sogar die Inspektion des jeweiligen Ehegatten VOR der Hochzeit.

Andere Details sind indes irritierend: Die Nachttöpfe sind verachtungsvoll aus Edelmetall, sogar Frauen dürfen Priester werden – und der Gewährsmann, der dies alles erzählt, heißt ausgerechnet „Raphael, der Verbreiter von Unsinn“. Kann das Buch also wirklich ernst gemeint gewesen sein? Das muss sich wohl auch die Zensur gedacht haben, und so ließ sie Morus als Spaßvogel davonkommen. Vorerst …

„Gargantua und Pantagruel“ (1532) von Jean Rabelais ist eines der derbsten, lustigsten und lustvollsten Bücher, die je geschrieben wurden. Es handelt sich um gebildeten Unsinn, der immerhin das Adjektiv „gargantuesk“ hervorgebracht hat, das selbst Quentin Tarantino in „Kill Bill Vol. 2“ mit großem Effekt zu nutzen wusste (Darryl Hannah zitiert es vor Michael Madsen, der gerade am Biss einer Schwarzen Mamba krepiert.)

Doch was bedeuten all diese grotesken Namen? Wie der Autor zu zeigen weiß, bedeuten alle vorkommenden namen entweder „Durst“ oder „Gurgel“ oder „Saufen“, was den Leser schon mal auf die richtige Fährte führt: Wein wird hier symbolisch mit Literatur und Weisheit gleichgesetzt, aber Wein ist sogar noch wichtiger, um das grundlegende Problem des menschlichen Miteinanders zu lösen. Wie sagt doch das finale Orakel auf Pantagruels Frage, ob er heiraten solle: „Trink!“

_Mein Eindruck_

Und so weiter und so fort. Das Prinzip, nach dem die 50 Texte aufgebaut sind, ähnelt sich durchweg, wird aber zum Glück je nach Fall variiert. Wir erfahren natürlich, worum sich der jeweilige Buchtitel dreht, denn deshalb lesen wir ja Dexters Buch überhaupt. Außerdem bekommen wir erklärt, was sich der jeweilige Autor wohl dabei dachte, als er ihm diesen Titel gab, und welche Gründe ihn dazu brachten.

Zuletzt versucht Dexter eine Interpretation des Ganzen, nach dem Motto: Was wollte uns der Buchautor eigentlich damit WIRKLICH sagen? Denn wie schon bei Thomas Morus deutlich wird, kann der Titel auch dazu erfunden worden sein, um seinen Autor vor Verfolgung zu schützen. Die Gedanken sind zwar frei, aber die gedruckten Wörter sind es leider nicht immer und überall.

|Mein Leseerlebnis|

Ich habe mich dabei ertappt, immer weiter zu lesen. Ich hätte nicht gedacht, dass die britische Erstausgabe von „Moby-Dick“ (1851) eigentlich „The Whale“ hieß und vom Verleger um etwa ein Drittel gekürzt war, nämlich um alle schlüpfrigen Stellen. Und dass Hemingways erster Roman „Fiesta“ (1937) in den USA „The Sun Also Rises“ heißt, auf eine Bibelstelle verweist und eine sexuelle Bedeutung hat: Es geht um die Impotenz des Stierkämpfers Romero, der im Spanischen Bürgerkrieg (wie Hemingway selbst) eine Verletzung an seinen Genitalien erleidet und keinen mehr hochkriegt – was sich fatal auf seine Ehe und seine Männlichkeit auswirkt.

|Plagiat oder nicht?|

Hat T.S. Eliot abgeschrieben, als er seinen Klassiker „The Waste Land“ (1922) verfasste? Plagiate sind nicht erst seit Guttenberg ein Standardstreitpunkt im Verlagswesen und für jeden kritiker von großer Bedeutung. Ein paar Jahre vor Eliot veröffentlichte ein Südstaatendichter ein Gedicht namens „Waste Land“. In der Tat finden sich 18 parallele Motive. Dennoch handelt es sich nicht um ein Plagiat, und zwar dank der brutalen Einschnitte, die Eliots Redakteur Ezra Pound am Originalmanuskript vornahm, das noch den seltsamen Dickens-Titel „He do the police in different voices“ trug. Erst durch Pounds Bearbeitung kam der originäre Eliot-Sound zum Vorschein. Also kein Plagiat.

|Auswahl|

Richtig schräg ist manchmal auch die Auswahl. Dexter hat beispielsweise auch „The SCUM Manifesto“ (1967) berücksichtigt: Dessen Autorin Valerie Solanas schoss dreimal auf ihren Förderer Andy Warhol und hätte ihn um ein Haar getötet, sie verletzte dessen zwei Mitarbeiter / Freunde, bevor sie überwältigt werden konnte. SCUM steht für „Society for Cutting Up Men“, eine angeblich feministische Emanzipationsgesellschaft. Doch wie sich zeigt, ist die Autorin auch gegen jede Art von unterwürfigem Weibchen, die sie gleich auch mit massakrieren möchte. Das Manifest läuft auf eine paranoide Hasstirade einer einzelnen gegen den Rest der Welt hinaus.

|Missbrauch|

Solanas ist nur eines der vielen Beispiele, wie Autorinnen, aber auch Autoren von den Verlegern missbraucht worden sind. Solanas‘ Buch erschien ohne ihre Zustimmung zuerst in Frankreich. Das erste Buch eines Amerikaners, das überhaupt je veröffentlicht wurde, erschien ohne Wissen und Zustimmung der Autorin Anne Bradstreet 1650 zuerst in England. Sie selbst konnte erst später eine eigene Ausgabe veranstalten. Das Beispiel der gekürzten Erstausgabe von „Moby-Dick“ erwähnte ich bereits.

|Erstausgaben|

Überhaupt Erstausgaben: Es finden sich hier unglaubliche Geschichten dazu. So verkauften die Bronte-Schwestern Emily, Charlotte und Anne von ihrem ersten Gedichtband gerade mal zwei (!) von 1000 Exemplaren. Diese Erstausgabe ist heute eines der wertvollsten Bücher des 19. Jahrhunderts in englischer Sprache. Das erinnert an jene Buchfanatiker, die A. S. Byatt in ihrem Roman „Possession“ (sehr witzig verfilmt mit Jeremy Northam und Gwyneth Paltrow) porträtiert: Solche Leute gehen über Leichen.

|Theaterstücke und Kinderbücher|

Auch Theaterstücke hat Dexter ausgewählt, so etwa „The Homecoming“ von Harold Pinter, „Oleanna“ von David Mamet, „Waiting for Godot“ von Samuel Beckett und „Who’s afraid of Virginia Woolf?“ von Edward Albee.

Auch Kinderbücher werden nicht vergessen. So finden wir Milnes „Winnie the Pooh“ und „The Lion, the Witch, and the Wardrobe“ von C. S. Lewis gewürdigt.

|Schlüpfrigkeiten|

Als Kenner der erotischen Literatur kennt sich Dexter total auf diesem Feld aus. Er weiß um die Fallstricke, die etwa ein Erotikklassiker wie „Fanny Hill“ im 18. Jahrhundert zu umgehen hatte (was aber seinen Autor nicht vor dem Kerker bewahrte) und mit welchen Tricks der Autor Fielding im 18. Jahrhundert anwandte, um seine schlüpfrige Parodie „Shamela“ unters Volk zu bringen, das gerade voll auf den Bestseller „Pamela“ von Samuel Richardson (1740) abfuhr. Wunderbar sind die Fehden zwischen Autoren, Verlegern und Kritikern herausgearbeitet, ohne je langweilig zu werden.

_Unterm Strich_

Ich habe das Buch in nur wenigen Tagen gelesen. Der Autor hat zwar nur ein einziges deutschsprachiges Buch (das von Sigmund Freud) ausgewählt, aber als Anglist sind mir die meisten der Titel geläufig. Dennoch konnte ich selbst noch etliche Entdeckungen machen, so etwa das erste amerikanische Buch (von Anne Bradstreet) und den Sonnett-Band von Sir Philip Sidney. Dass Shakespeare auftauchen würde, war eh klar.

Überraschend viele erotische Klassiker sind hier zu finden, und auch etliche Theaterklassiker konnte ich entdecken (viele davon verfilmt, etwa „Wer hat Angst vor Virginai Woolf?“). Die Methode des Autors hilft nicht nur, einen rätselhaften Titel zu entschlüsseln (etwa „Oleanna“, das im Text des Stücks gar nicht vorkommt), sondern auch zu klären, ob sich etwa um ein Plagiat handelt.

Gerade Nabokovs „Lolita“ ist so ein Fall. Bekanntlich lebte der Russe ein Dutzend Jahre in Berlin und hatte die Gelegenheit, die 1916 veröffentlichte gleichnamige Erzählung eines gewissen Nazis namens Heinz von Eschwege alias Heinz von Lichfeld zu lesen. Diese weist verblüffende Ähnlichkeit zu Nabokovs Version auf: der Witwer, der einer blutjungen Schönheit in einem Gasthaus/Pension verfällt, was böse Folgen hat, als ihre Schwangerschaft deutlich wird.

Auch der Fall Freud ist nicht fern von einem Ruch des Plagiats. Denn der Wiener Psychoanalytiker übernahm den Begriff des Es von seinem wesentlich wilderen Kollegen George Groddek. Beide schrieben ein Buch darüber, standen in Korrespondenz, tauschten sich aus. Dies sind nur zwei Beispiele für Plagiatsverdachte.

Die Rätsel, die die Titel bilden, sind jedoch wesentlich reizvoller. Eine spannende, erhellende und mitunter amüsante Lektüre, alles in allem. Wer Literaturkritik im MTV-Stil, also häppchenweise, sucht, wird hier bestens bedient.

|Schwächen|

Bei allem Detailreichtum hat es doch der Autor (oder sein Verlag) versäumt, den Zugriff auf die einzelnen Werke etwas bequemer zu gestalten: Nirgendwo ist der Name des Autors eines Werkes vermerkt, weder im Inhaltsverzeichnis noch in der Kapitelüberschrift. (Nur Index und Bibliographie erleichtern die Suche.) In einer fleißigen Viertelstunde habe ich dies nachgeholt. Aber blöd, dass dies überhaupt nötig war. Und schön sieht’s auch nicht aus.

|Taschenbuch: 238 Seiten
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978-0711229259|
http://www.franceslincoln.com

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