Elly Griffiths – Gezeitengrab

Das geschieht:

Broughton Sea’s End ist ein Dorf an der Küste der ostenglischen Grafschaft Norfolk. See und Wind setzen der Sandsteinküste zu, von der immer wieder große Teile abrutschen. Archäologen untersuchen diese Trümmer nach interessanten Relikten. Dieses Mal finden sie ein modernes Massengrab: In einer bisher unterirdischen Höhle liegen sechs Skelette, die Hände gefesselt, die Schädel durchschossen. Der Fall geht an Detective Chief Inspector Harry Nelson von der Polizei Norfolk. Er zieht die Forensikerin Dr. Ruth Galloway zu Rate, die bald erkennt, dass die Knochen noch kein Jahrhundert in der Erde ruhen.

Aus Deutschland reist der Militärhistoriker Dieter Eckhart an. Er hat Post von einem ehemaligen Mitglied der „British Home Guard“ aus Broughton bekommen. Der alte Hugh Anselm wollte von einem Kriegsverbrechen erzählen, starb aber kurz darauf. Trotzdem konnte Eckhart Belege für ein nazideutsches Kommandounternehmen finden: 1940 gingen an vielen englischen Stränden Spione heimlich an Land, um die Invasion Englands durch Hitlers Truppen vorzubereiten. Auch in Broughton sollten sich im September sechs Männer einschleichen – und verschwanden spurlos.

Offenbar hat die „Home Guard“ sie erwischt und kurzen Prozess mit ihnen gemacht – ein eindeutiges Kriegsverbrechen, das ein schlechtes Licht auf britische Kriegshelden werfen könnte. Unter den Hauptverdächtigen sind ausgerechnet Buster Hastings, der Sohn eines einflussreichen Europa-Abgeordneten aus Broughton, und Archie Whitcliffe, der Großvater von Inspektor Nelsons Vorgesetzten. Beide Nachfahren reagieren wenig erfreut auf diesen Abschnitt ihrer Familiengeschichten.

Als kurz darauf der alte Archie Whitcliffe einen verdächtig raschen Tod stirbt, wird Nelson misstrauisch. Die Mitglieder von Buster Hastings Einheit haben einst per Bluteid geschworen, den Massenmord zu verschweigen. Offenbar sorgt jemand mörderisch für die Einhaltung. Doch wer könnte dies sein, sind doch die alten Recken jetzt alle tot …?

Die Nazis vor der Haustür

Je länger ein Krieg zurückliegt, desto kritischer werden die Rückblicke. Nachdem die unmittelbar vom Geschehen vor und hinter der Front Betroffenen gestorben sind, kann man sich auch zuvor sakrosankten Kapiteln der Kriegsgeschichte widmen. Nicht jeder Held war tatsächlich einer, und manchmal heiligte selbst der hehre Zweck die Mittel nur theoretisch. Kriegsverbrechen können und dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Begangen wurden sie trotzdem auf allen Seiten.

Nach England haben es die Nazis nie geschafft. Zwar sollte die Insel schon 1939/40 im Zuge des Unternehmens „Seelöwe“ erobert werden, doch der Kriegsverlauf machte dem einen Strich durch die Rechnung. Spätestens nach dem Angriff auf die Sowjetunion und der für das Deutsche Reich verheerenden „Luftschlacht um England“ (Sommer 1940) war an eine Invasion nicht mehr zu denken.

Die Briten blieben indes wachsam. Sie profitierten wieder einmal von einer Grenze, die mit der Meeresküste identisch war. Aus der Luft würde der Gegner wohl nicht mehr kommen, aus dem Meer steigen konnte er immer noch. Also hielten die Männer der „(British) Home Guard“ die Augen auf und die (meist aus militärischen Restbeständen zusammengeklaubten) Waffen bereit.

Mancher Krieg will kein Ende finden

Es gibt Menschen, die sich auf wundersame (oder furchtbare) Weise verändern, wenn man ihnen Macht und eine Armbinde verleiht. Solche Zeitgenossen mutieren von der grauen Maus zum wilden Recken, der davon träumt, den Feind niederzuringen. Wenn ein solcher Buster Hastings zur falschen Zeit am richtigen Ort ist, kann dies fatal enden. Gelegenheit und Waffen sind vorhanden, der Gegner ist hilflos, die Aufregung groß, die Disziplin eher klein: So wurde Busters Einheit plötzlich zu einer Gruppe von Mördern und Mittätern.

Schwamm bzw. Sand drüber: Dies konnte bis 1945 funktionieren. In der Gegenwart denkt man freilich anders über die Notwendigkeiten eines Krieges. Deshalb ermittelt nun die Mordkommission. Die eigentlich Verantwortlichen mögen längst tot sein, doch sie haben Nachfahren, die es gar nicht schätzen, dass aus dem Großvater, der den Nazis die Stirn bot, plötzlich ein Großvater wird, der dieselben in die Hinterköpfe schoss. Gegen diese Schmach hilft auch die „Gnade der späten Geburt“ nur bedingt, weshalb verständlich ist, dass Busters Sohn, der prominente Abgeordnete, besonders verdächtig wirkt.

Leider muss der erfahrene Krimi-Leser feststellen, dass Griffiths sich nicht gerade ein Bein ausgerissen hat, als sie ihren Plot entwarf. Die Fallgeschichte läuft rund und hinterlässt keine offenen Fragen. Bei genauer Prüfung muss der Autorin zudem zugestanden werden, dass sie den wahren Täter schon sehr früh unauffällig ins Geschehen bringt. Dennoch taucht er anschließend lange unter und letztlich reichlich unvermittelt auf. während die übrigen Verdächtigen ausführlich vorgestellt werden und man sie sich plausibel als Übeltäter vorstellen kann. Die Logik wird einer Überraschung (sowie einem nicht gerade gelungenen ‚Action‘-Finale) geopfert, die anders als der von Busters Crew am Strand versteckte Sprengstoff nicht wirklich zündet.

Das Leben ist – Seufzer! – schwer

Mindestens ebenso wichtig wie der Fall und manchmal noch viel wichtiger ist der Autorin die Darstellung von Menschen, die zwar Polizisten oder Wissenschaftler sind, sich aber ein Privatleben bewahrt haben, das etwa ebenso kompliziert ist wie jedes Mordrätsel (das sie übrigens nicht wie der klassische Detektiv freudig lösen, sondern als weiteres Beschwernis eines ohnehin schweren Daseins betrachten).

Hier ist die Nahtstelle, an der „Gezeitengrab“ bzw. die Ruth-Galloway-Reihe vom ‚reinen‘ Kriminalroman in den „Lady Thriller“ übergeht. Vor allem weibliche Leser lieben schwierige Liebes- und Alltagsgeschichten. Mit Ruth Galloway hat Griffiths eine Figur geschaffen, mit der frau mächtig mitfühlen kann: klug und irgendwie hübsch obwohl ein bisschen rund um die Hüften, unbemannt aber alleinerziehend überforderte Mutter mit ständig schlechtem Gewissen, während die betrogene Gattin des bußfertigen Kindsvaters (und nur sie) keine Ahnung von der Herkunft des Kuckuckskindes hat.

Zur Steigerung des Tragik-Faktors baut Griffiths zusätzlich Rückblenden ein, die Ruth in jüngeren Jahren im ehemaligen Jugoslawien zeigen, wo sie Massengräber untersucht. Auf diese Weise (und eher ungeschickt) versucht die Autorin die Zeitlosigkeit von Kriegsverbrechen und deren Folgen zu unterstreichen. Weiterhin hadert eine tüchtige Polizistin mit der anstehenden Traditionshochzeit, wird eine verliebte Frau in mehrfacher Hinsicht von einem geilen Bock aufs Kreuz gelegt und muss sich eine tüchtige Archäologin über ihren unreifen Galan ärgern. Diese und andere Probleme werden gern bei einer Tasse Tee ausgiebig durchdacht oder unter Frauen durchgesprochen: Passagen, die der Krimi-Freund problemlos überspringen aber ertragen kann, weil sie längst nicht so selbstzweckhaft die Handlung überwuchern wie beispielsweise in den Krimi-Epen der Elizabeth George.

Die Landschaft ist schön

Deutlich besser in der Realität geerdet wirkt „Gezeitengrab“, wenn Griffiths sich lokalkoloritisch dem küstennahen Norfolk widmet. Sie kennt Landschaft und Leute und hat ein Händchen für beider Darstellung. Als Gattin eines Archäologen kennt sie sich auch in historischer Spurensicherung gut aus, wie überhaupt der Polizeialltag abzüglich der oben genannten Gefühlswallungen unaufdringlich aber deutlich in die Handlung eingeht.

Hinzu kommt eine gesunde (und für den Rezensenten, der den Taschentuch-Thriller sehr skeptisch betrachtet, unerwartete) Dosis trockenen Humors, der allzu platt geratene Passagen entschärft. Selbst der ‚Druide‘ Cathbad, der leicht ins esoterisch Lächerliche abgleiten könnte, wirkt sympathisch, weil ihm der fanatische Ernst abgeht, mit dem solche Figuren gern assoziiert werden. Cathbad kündet außerdem vom reichen Wissen der Autorin um die Geschichte und Mythen Norfolks, die beide eine große Rolle in ihren Romanen spielen: Der Mensch ist hier noch mit dem Land verwurzelt, weshalb die Vergangenheit in gewisser Weise präsent (und gefährlich) bleibt.

„Gezeitengrab“ endet offen, doch nicht der Kriminalfall bleibt ungelöst, sondern Harry Nelsons Gattin schöpft Verdacht ob des Vaters der kleinen Katy. Für die Leserinnen mag dieses Finale ein Cliffhanger mit Donnerschlag sein. Nüchterne Leser warten auf einen weiteren Krimi, der von dieser unterhaltsamen (sowie hoffentlich etwas stärker auf das Verbrechen konzentrierten) Autorin in Großbritannien bereits vorgelegt wurde.

Autorin

Obwohl sie so kundig über Land und Leute der englischen Grafschaft Norfolk schreibt, lebt Elly Griffiths (geb. 1963) mit ihrer Familie in der südenglischen Grafschaft East Sussex und dort in der Seestadt Brighton. Das Wissen um die Sagen ihrer ‚Wahlheimat‘ verdankt sie einer spökerkiekerisch veranlagten Tante, ihre archäologischen Kenntnisse dem Gatten, der einen gut dotierten aber langweiligen Job als Bänker aufgab, um ein schlecht bezahlter Archäologe zu werden.

Elly Griffiths legte ihren ersten Kriminalroman 2009 vor. „The Crossing Places“ (dt. „Totenpfad“) wurde gleichzeitig Start einer kontinuierlich fortgesetzten Serie, in der die forensische Anthropologin Ruth Galloway und der Polizist Harry Neal beruflich und privat verzwickt miteinander verbandelt sind.

Website der Autorin

Paperback: 399 Seiten
Originaltitel: The House at Sea’s End (London : Quercus 2011)
Übersetzung: Tanja Handels
eBook: 703 KB
ISBN-13: 978-3-644-21221-3
www.rowohlt.de

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