Arnaldur Indriðason – Nordermoor [Erlendur 3]

In der isländischen Hauptstadt Reykvavík wird ein alter Mann umgebracht. Das Opfer war ein Gewaltverbrecher, der vom Gesetz gedeckt wurde, bis ihn nun die Vergeltung ereilte. Kommissar Erlendur Sveinsson folgt hartnäckig den Spuren eines Verbrechens, das alle Beteiligten gern unter den Teppich gekehrt sähen … – Endlich wieder ein Krimi aus Skandinavien, der die kollektiven Vorschussbeeren verdient, die hierzulande für Texte aus dem Norden allzu großzügig vergeben werden. Tragik, Spannung, dazu ein leiser aber kundig eingesetzter Humor: „Nordermoor“ ist das gelungene deutsche Debüt eines Schriftstellers, der sein Handwerk versteht.

Das geschieht:

Nordermoor heißt ein Viertel in Reykvavík, der Hauptstadt von Island, jener hoch im Nordatlantik gewissermaßen in Sichtweite des Nordpols gelegenen Vulkaninsel, die für ihre urwüchsige Landschaft, das raue Klima und ihre schwerblütigen, aber handfesten Bewohner bekannt ist.

Den Rentner Holberg hat man in seiner kleinen Wohnung gefunden tot, den Schädel mit einem gläsernen Aschenbecher eingeschlagen. Gestohlen wurde nichts, stattdessen hinterließ der Täter eine kryptische Nachricht, die zunächst niemand versteht: „Ich bin er.“ Betraut mit dem Fall wird Kriminalkommissar Erlendur Sveinsson. Er findet am Tatort eine erste Spur; das Foto eines Grabes. Begraben liegt dort ein Mädchen, das nur vier Jahre alt wurde. Kolbrún, die Mutter, beging Selbstmord, ein Opfer des Schicksals, aber auch der Polizei: Das Kind entsprang einer Vergewaltigung, der Täter war Holberg. Dieser hatte alles abgestritten und von einem korrupten Beamten Schützenhilfe erhalten. Die Tat wurde niemals gesühnt, was nun anscheinend jemand nachgeholt hat.

Holberg entpuppt sich im Verlauf der Ermittlungen als Krimineller der übelsten Sorte ein Serienvergewaltiger und Pornograph, der vor seinen nicht minder skrupellosen Kumpanen mit seinen Untaten angab. Einer von diesen ist allerdings seit einem Vierteljahrhundert spurlos verschwunden, was Erlendur zu denken gibt.

Tief in der Vergangenheit liegt auch die bizarre Erklärung für den Mord an Holberg verborgen. So manches alte Grab muss die Polizei öffnen, um der gleichermaßen grotesken wie tragischen Lösung des Falls nahe zu kommen …

Island ist noch Krimi-Skandinavien

Seit besonders dem deutschen Krimi Feinschmecker der Wallander hervorragend mundet, werden die Fanggründe der skandinavischen Unterhaltungsliteratur von den hiesigen Verlagen eifrig nach weiteren lukrativen Bestsellern abgefischt. Dem Bastei Lübbe Verlag ist ein glücklich ein kapitaler Brocken ins Netz gegangen; sehr hoch in den Norden musste er dafür segeln.

„Nordermoor“ ist kein Thriller, der durch die Originalität seines Plots oder überraschende Wendungen auffiele. Statt dessen finden wir jene Konstellationen wieder, die hierzulande offensichtlich als Voraussetzung für einen ‚guten‘ Krimi aus dem Reich der Mitternachtssonne gelten. In Reykvavík ist es düster, die Wolken weichen nicht, es regnet und stürmt ständig. Die Isländer sind sämtlich mehr oder weniger melancholisch; das Leben ist halt hart dort, wo einem der Himmel auf den Kopf zu fallen droht.

Der Auftaktmord sowie der ganze Nordermoor Fall passen in dieses Ambiente. Er ist banal, dilettantisch, schmutzig. Dann entrollt sich doch eine verwickelte Vorgeschichte, die indes auch nicht zur Entwarnung Anlass gibt. Vergewaltigung, Amtsmissbrauch, Selbstmord sind nur (der Kalauer sei gestattet) die Spitze des Eisbergs, der aus dem trüben Nebel der Vergangenheit ragt.

Kleine Insel mit großer Vergangenheit

Diese Vergangenheit ist immer präsent in Island. Sprache, Regierungsform, Sitten und Gebräuche sind lebendige Zeugen der Wikingerzeit, wenn man es überspitzt ausdrücken möchte. Die Tage der Blutrache liegen noch nicht gar so weit zurück. Vergeben & Vergessen fällt diesem Menschenschlag schwer. Spannend ist das alles trotzdem zu lesen, denn wir Krimifreunde lieben ja bekanntlich das Gewohnte, das Arnaldur mit Geschick und liebenswert unperfekten Figuren präsentiert. Die exotische Kulisse trägt ihren Teil dazu bei, auf die Fortsetzung der Reihe neugierig zu machen. Es fehlen auch nicht die heute so beliebten Exhumierungsszenen und Pathologie Schnetzeleien, die Arnaldur teils zurückhaltend, teils drastisch schildert.

Die Auflösung (welche hier selbstverständlich verschwiegen wird) ist freilich ungewöhnlich. Sie hätte an einem anderen Ort als auf Island nicht funktioniert. In dem Wissen darum, dass Arnaldur sie vor einem realen Hintergrund inszeniert, wirkt sie gleichzeitig grotesk und tragisch. Gleichzeitig verdeutlicht sie einmal mehr, wieso die Menschen von Island so sind wie sie sind: kaum 250000 Männer und Frauen, unter denen sich Unrecht und Verfehlungen wie schon gesagt nicht so einfach irgendwann verlieren, sondern präsent bleiben.

Kein Wunder, dass man 1996 damit begonnen hat, die genetischen Daten der gesamten isländischen Bevölkerung in einer zentralen Datenbank zu sammeln! Ein solches Projekt hat es noch nie zuvor gegeben die lange Isolation der Isländer macht es möglich, wobei Arnaldur in „Nordermoor“ denen eine Stimme gibt, die Kritik anmelden an der Erschaffung eines „gläsernen Volkes“.

Geliebte, weil skandinavische Tristesse

Erlendur Sveinsson ist wahrlich ein Bruder Wallanders nicht nur im Geiste. Die Lebensmitte hat er überschritten, er lebt allein. Aus einer schmutzig gescheiterten Ehe blieben ihm zwei Kinder, die beide halbwegs erwachsen und rauschgiftabhängig sind und ihren Vater entweder hassen oder um Geld angehen. Des Morgens rasselt es tüchtig in der Lunge, die Kollegen sind brummig, von der Bevölkerung werden die Ordnungshüter nicht gerade geliebt, die Welt verwandelt sich seiner Meinung nach in einen kriminellen und amoralischen Sumpf. So geht Erlendur (in Island pflegt man sich mit dem Vornamen anzusprechen) eher verbissen als enthusiastisch seinem Job nach, den er nichtsdestotrotz schätzt er wüsste ohnehin keine Alternative …

Das familiäre Happy End im Finale kann uns nicht täuschen: Es passt einfach nicht in die skandinavische Krimi Welt, dass Erlendur und seine inzwischen schwangere Tochter Frieden schließen und in Harmonie zusammenleben werden. Hier werden schon Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung getroffen. (Aus unerfindlichen Gründen startete der Verlag die deutsche Veröffentlichung der Erlendur Serie übrigens mit dem dritten Band …) Tatsächlich droht Vater, Tochter und Enkelkind neues Ungemach.

Dies mag dafür verantwortlich sein, dass uns des Kommissars Kolleginnen und Kollegen etwas flach vorkommen: Es fehlen die gemeinsamen Erlebnisse zweier Vorgängerbände. Dafür konzentriert sich das Interesse umso stärker auf die zahlreichen nur episodisch auftretenden Figuren. Täter und Opfer die Grenzen lässt Arnaldur immer wieder verschwimmen. Man sitzt halt wie gesagt auf einer Insel und versucht sich zu arrangieren.

Der einzige echte Strolch ist der alte Holberg. Für ihn lässt sich rein gar keine Entschuldigung finden. Allerdings ist er tot und kann sich deshalb nicht mehr zu Wort melden. Das eigentliche Unheil bringt er ohnehin ahnungslos über die Menschen. Trotzdem ist Arnaldur hier ein echter Widerling gelungen kein zynische Wortspiele drechselnder Glamour Killer à la Hannibal L., sondern ein ganz banaler, unauffälliger und deshalb umso bedrohlicher wirkender Alltagsstrolch.

Autor

Arnaldur Indriðason wurde am 8. Januar 1961 in Reykjavík geboren. Er wuchs hier auf, ging zur Schule, studierte Geschichte an der University of Iceland. 1981/82 arbeitete als Journalist für das „Morgunbladid“, dann wurde er freiberuflicher Drehbuchautor. Für seinen alten Arbeitgeber schrieb er noch bis 2001 Filmkritiken. Auch heute noch lebt der Schriftsteller mit Frau und drei Kindern in Reykjavík.

1995 begann Arnaldur Romane zu schreiben. „Synir duftsins“ – gleichzeitig der erste Roman einer Serie um den isländischen Polizei-Kommissar Erlendur Sveinsson – markierte 1997 sein Debüt. Jährlich legt der Autor mindestens einen neuen Titel vor. Inzwischen gilt er auch im Ausland als einer der führenden Kriminalschriftsteller Islands. Gleich zweimal in Folge wurde ihm der „Glass Key Prize“ – der Skandinaviska Kriminalselskapet (Crime Writers of Scandinavia) – verliehen (2002 für „Nordermoor“, 2003 für „Todeshauch“).

Drei seiner Romane hat Arnaldur selbst in Hörspiele für den Icelandic Broadcasting Service verwandelt. Darüber hinaus schrieb das Drehbuch zur Verfilmung seines Erlendur-Romans „Mýrin“ (2006, dt. „Nordermoor“) und zusammen mit dem Regisseur Óskar Jónasson das Script zum Thriller „Reykjavík-Rotterdam“ (2008), der 2012 als „Contraband“ (dt. „Contraband – Gefährliche Fracht) u. a. mit Mark Wahlberg und Kate Beckinsale als internationale Großproduktion neu verfilmt wurde.

Taschenbuch: 319 Seiten
Originaltitel: Mýrin (Reykjavík : Vaka-Helgafell 2000)
Übersetzung: Coletta Bürling
http://www.luebbe.de/heyne

eBook: 2524 KB
ISBN-13: 978-3-8387-1262-8
http://www.luebbe.de/heyne

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