Arnaldur Indridason – Nacht über Reykjavik

Der Kommissar in jungen Jahren: ein unkonventioneller Ermittler

Der junge, grüblerisch veranlagte Erlendur Sveinsson hat vor Kurzem seine Tätigkeit als Streifenpolizist in Reykjavík aufgenommen. In den Nachtschichten lernt er die dunklen Seiten der isländischen Hauptstadt kennen: betrunkene Autofahrer, häusliche Gewalt, Einbrüche, Drogenhandel. Ihn bewegt das Schicksal von Randfiguren der Gesellschaft. An einem Wochenende wird ein Obdachloser in einem Tümpel am Stadtrand ertrunken aufgefunden, und eine junge Frau verschwindet spurlos. Beide Fälle lassen Erlendur keine Ruhe, und er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln … (Verlagsinfo)

Der Autor

Arnaldur Indridason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

Die Erlendur-Krimis von Indridason:

1) Menschensöhne
2) Todesrosen
3) Nordermoor
4) Todeshauch
5) Engelsstimme
6) Kältezone
7) Frostnacht
8) Kälteschlaf
9) Frevelopfer
10) Abgründe
11) Eiseskälte
12) Nacht über Reykjavik

Weitere Romane:

1) Gletschergrab
2) Tödliche Intrige
3) Codex Regius

Handlung

In den frühen siebziger Jahren arbeitet Erlendur Sveinsson noch bei der Verkehrs- und Streifenpolizei, lange bevor er zum Kommissar in der Mordkommission aufsteigt. Er hat mit seinen beiden Kollegen Gardar und Marteinn (alle auf Island duzen einander) alle Hände voll zu tun, um Verkehrsunfälle, Diebstähle, Einbrüche, häusliche Streitigkeiten, Drogenschmuggel und Gefängnisausbrüche zu bearbeiten. Das bedeutet eine Menge Nachtschichten. Die findet seine Freundin Halldora kontraproduktiv, denn so hat sie wenig Gelegenheit, ihn nachts zu sehen.

Da er aber ein rebellischer Einzelgänger ist, hält er sich fern von fröhlicher Geselligkeit und Gemeinschaft, hat deshalb auch gewisse Menge freier Zeit, die er sinnvoll zu nutzen versteht: Er liebt es (aus sehr persönlichen Gründen), wahre Berichte über den Überlebenskampf auf Island zu lesen. Er wälzt auch alte Akten über vermisste Personen. Ihm ist selbst nicht ganz klar, warum ihn dieser Opferkreis so beschäftigt, aber findet es unverantwortlich, vielleicht sogar unmoralisch, dass nach diesen Schicksalen von verschwundenen Kindern, Frauen und Männern nach kurzer Zeit kein Hahn mehr kräht.

So wie nach dem alten Hannibal. Erlendur begegnete dem alten, alkoholabhängigen Obdachlosen mehrmals, darunter auch in dem Keller voller Schrott und Krimskrams, in dem ihn ein nachsichtiger Hausbesitzer hausen ließ. Später behauptete Hannibal, jemand habe ihn dort verbrennen wollen. Ein Jahr später hat Erlendur Gelegenheit, sich dieses Kellerloch, das der Besitzer gerade ausräumt, anzusehen: Die Balken sind ganz schön verkohlt. Aus dem Feuer wollen ihn die Brüder im Nachbarhaus gerettet haben, doch Hannibal behauptete, sie wollten ihn verbrennen.

Schließlich fanden Jungs vor einem Jahr beim Abenteuerspiel seine Leiche. Sie trieb mitten in einem alten seichten Tümpel, der beim Torfstechen übriggeblieben war und sich mit Wasser gefüllt hatte. Der grüne Anorak, aus dem plötzlich ein halbes Gesicht erschien, versetzte sie in Panik, und sie fielen alle von ihrem selbstgebauten Floß ins kalte Wasser. Erlendur war derejnige, der die Leiche aus dem Wasser zog. Die Theorie der Kripo lautet, dass der Obdachlose im Suff in Wasser gefallen und ertrunken sei. Die Obdachlosen, die Hannibal kannten, behaupten, er sei ins Wasser gestoßen worden. Mord, Selbstmord oder Unfall? Als Schnüffler will Erlendur Gewissheit haben.

Jetzt, ein Jahr später, begegnet Erlendur dem Anführer der Jungs wieder. Da erinnert er sich, dass Hannibal in einem der Rohre der Heißwasserleitung hauste. Hier stößt er auf einen Schicksalsgenossen Hannibals: Vilhelm raucht unentwegt und hat später viel über Hannibal zu erzählen. Weitere Kontakte führen Erlendur zu einem Obdachlosenheim, zu Hannibals Verwandten und Nachbarn sowie zu einem Kriminellen der besonders brutalen Sorte: Ellidi ist Schmuggler, aber auch Schläger. Er scheint die Landstreicher unter seiner Fuchtel zu haben.

Durch den Kontakt zu den Obdachlosen erfährt Erlendur von Thuri: Sie war, sehr zu seinem Erstaunen, eine Zeitlang Hannibals Freundin und erregte so die Eifersucht Bergmundurs, eines gewalttätigen Landstreichers, der auf sie Anspruch erhob. Die ehemalige Alkoholikerin lebt in einem Heim für süchtige Frauen, ist seit vier Monaten „clean“ und berichtet in klaren Sätzen, dass Hannibal immer gut zu ihr war, dass er aber auch ein Talent hatte, sich selbst Ärger zu bereiten. Noch mehr verblüfft sie den Polizisten, als sie erwähnt, sie habe unter Hannibals ehemaligem Versteck in der Heißwasserleitung einen goldenen Ohrring gefunden.

Auch Rebekka, Hannibals jüngere Schwester, hat dafür keine Erklärung. Und Hannibals älterer Bruder droht ihm sogar mit schweren Konsequenzen, sollte sich Erlendur nicht aus dieser Familienangelegenheit heraushalten. Aber der goldene Ohrring erinnert den Cop an ein Detail, das zu einer Frau passt, die vor einem Jahr in diesem Stadtviertel verschwand…

Mein Eindruck

Die verschlungene Handlung nähert sich nur langsam in Spiralen dem Zentrum des Rätsels, das Hannibals Tod umgibt. Aber diesen Spiralen zu folgen lohnt sich allemal. Als hätte er selbst auf der Straße gelebt, beschreibt der Autor die Leben und Schicksale der Landstreicher, die auf der Straße, in zugigen Kellern und Heißwasserleitungen leben. (Reykjavik bezieht seine Heizwärme kostenlos aus Heißwasserquellen.) Sie trinken miesen Alkohol, stinken zum Himmel, haben schlechten Sex (wenn überhaupt) und werden von allen ausgenutzt und beschimpft.

Insbesondere in der ersten Hälfte des Buches steht Hannibals Schicksals im Mittelpunkt, das bei einem Autounfall am Hafen eine tödliche Wende erfuhr. Rebekka, seine Schwester, ist die einzige Person, die bereit ist, davon zu erzählen. Hannibal selbst hat dieses Kapitel, das ihm die Liebe seines Lebens raubte, tief in seinem Herzen unter einem Panzer verschlossen und wehrt jeden Versuch ab, ihn zu bemitleiden oder ihm zu helfen. Er büßt sein ganzes Leben – für einen Fehler, an dem er sich die Schuld gibt. Doch es ist Rebekka, die sich die Schuld gibt.

Für Erlendur ist dieser Schicksalsschlag von ganz besonderer Bedeutung. Er verlor seinen bruder auf einer Wanderung in den ostisländischen Bergen und gibt sich seitdem selbst die Schuld daran. Hätte er nicht länger, härter, intensiver suchen müssen? Daher rührt auch sein anhaltendes Interesse an Berichten über den Überlebenskampf in der Natur der Insel, die jede Art von Sorglosigkeit gnadenlos bestraft.

Die Nachtpatrouille

Den unschätzbaren Vorteil, den sich Erlendur bei seiner unkonventionellen Ermittlung verschafft, besteht in den zahlreichen Kontakten, die er während seiner Nachtstreife hat. Er lernt alle mögliche Arten von Delinquenten, Lügnern, Verbrechern und eben auch Landstreichern kennen. Zu meiner endlosen Bewunderung bleibt er fast immer ruhig und verständnisvoll, steckt die allfälligen Beschimpfungen weg und bleibt konsequent.

Gleichzeitig entsteht dadurch auch das Porträt einer Gesellschaft im Wandel. Es lohnt sich, ein wenig isländische Geschichte nachzuschlagen. Sie bestand nicht immer aus den taten heroischer Wikinger, die Grönland und Amerika entdeckten. Der erste (anerkannte) Siedler Ingolfur Arnasson, dessen Denkmal im Roman mehrmals erwähnt wird, war ein Verbrecher, der aus Norwegen fliehen musste. Das offizielle Jahr wird mit 874 angegeben, und da zum Erzählzeitpunkt die 1100-Jahrfeier vorbereitet wird, ergibt sich daraus als Erzähljahr 1974 – es wird niemals ausdrücklich erwähnt.

Im Jahr 1974 ist Island gerade mal 30 Jahre unabhängig, erst von den Dänen, dann von den Briten, die die Insel kurzerhand besetzten. Britische und amerikanische Kulturgüter hielten Einzug. Erlendurs Kollege schwärmt von amerikanischen Fastfood und fordert die Einführung der Pizza in speziellen Restaurants. Diese nennen Erlendur und Marteinn frotzelnd „Gardars Pisserien“. Es ist ein handfester Humor, der manchmal durchblitzt. Leider viel zu selten.

Der Ohrring

Die zweite Hälfte des Buches ist Erlendurs Suche nach der Besitzerin jenes Ohrrings gewidmet, der von Thuri unter Hannibals Versteck gefunden wurde. Es handelt sich um Oddny, eine junge Frau, die von ihrem Mann Gustaf unterdrückt wurde und ihr Vergnügen in den Nachtlokalen der Hauptstadt suchte, inklusive eines Liebhabers. Nach dem Besuch eines solchen Lokals verschwand sie praktisch in der gleichen Nacht, in der Hannibals Leben beendet wurde. Davon wird Erlendur immer mehr überzeugt, doch worin liegt der Zusammenhang? Gustaf, Oddnys Mann, hat ein wasserdichtes Alibi.

Schon jetzt legt Erlendur Charakterzüge eines Terriers an den Tag: Er kann nicht losolassen, wenn ihn ein Fall beschäftigt, beschwert sich Halldóra, und verbeißt sich immer mehr in einen Fall, bis er ihn gelöst hat. Gut so, kann der Leser da nur sagen – und der Erlendur-Fan sowieso. Schließlich wird seine Hartnäckigkeit mit einem spektakulären Fund belohnt…

Die Übersetzung

Coletta Bürling hat meines Wissens praktisch alle Indridason-Romane ins Deutsche übertragen. Dabei hat sie regelmäßig ausgezeichnete Arbeit geleistet, denn es ist sicherlich nicht einfach, das umgangssprachliche Isländisch in die deutsche Alltagssprache zu übertragen, insbesondere bei der Sprache der Landstreicher in diesem Band. Selbstredend kennt sie sich bestens mit der Geschichte der Insel und ihrer Bevölkerung aus.

Eine gewisse Herausforderung sind die Schriftzeichen der isländischen Sprache und Literatur. Wo die Briten auf der abgedruckten Landkarte einfach ein Th (stimmlos wie in „think“) schreiben dürfen, setzt die deutsche Fassung das Zeichen þ bzw. Þ. Das stimmhafte Th hingegen, das fast wie ein D ausgesprochen wird, sieht so aus: ð bzw. Ð. Der Laut Æ bzw. æ klingt ähnlich wie . Mehr Infos dazu unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Isl%C3%A4ndische_Sprache#Alphabet.

S. 242: „Er strich[t] sich über die Haare.“ Das T ist überflüssig.

S. 264: „leere Schlickertüten vom Kiosk“. Gemeint sind offenbar Tüten mit Süßigkeiten. „Wenn in friesischen Familien gefragt wird ‚Willst du was zu schlickern?‘, ist damit meist Lakritz gemeint, so beliebt ist die Leckerei im hohen Norden.“ Vgl. dazu www.schlickertuete.de. Der gleichnamige Laden von Julia Kasperski steht im Berliner Stadtteil Friedrichshain in der Warschauer Straße 67.

Unterm Strich

Man kann den leicht verständlich und straff erzählten Roman sicherlich in nur einem Nachmittag und Abend bewältigen. Ich war leider abgelenkt und brauchte am Wochenende zwei Tage. Besonders zu meiner Unterhaltung trug die Lösung der zwei Rätsel bei, mit denen sich Erlendur beschäftigt: In der ersten Hälfte steht Hannibals Schicksal im Vordergrund, in der zweiten das von Oddny. Daraus ergeben sich für den aufmerksamen Leser bemerkenswerte Parallelen und Kommentare – auch zu Erlendurs eigenem Leben.

Ein weiteres interessantes Merkmal dieses Krimis über Erlendurs Anfänge, das besonders die treuen Fans interessieren dürfte, sind seine Anfänge in Reykjavik und wie er sich zusammen mit seiner neuen heimat verändert. Die Zeit seiner Kindheit, die er in den Ostfjorden verbrachte, wurde bereits in „Eiseskälte“ erzählt, und es ist wohl eine gute Idee, auch diesen Roman zu kennen. Erlendur kam erst mit zwölf Jahren in die Hauptstadt, kurze zeit, nachdem der Verlust seines Bruders seine Familie stark belastet hatte.

Nun, im Jahr 1974, verfolgt er, wie Island amerikanisiert wird: Drogenschmuggler, Hotdog-Stände, ja, sogar Fotokopierer halten Einzug. Das Für und Wider dieser Neuerungen wird humorvoll abgewogen. Dieses Thema ist kein Zufall, sondern Notwendigkeit. Ein paar Verbrecher, auf die unser Lieblingsschnüffler stößt, importieren Schmuggelware aus den USA und vom Kontinent. Um dieses Zeug zu verhökern, bedienen sie sich Kleinkrimineller und Landstreicher – Erlendurs spezieller Klientel. Ist Hannibal den Schmugglern in die Quere gekommen? So lautet eine Theorie.

Schwächen

Was dem Roman, der sich mit seinen leichtverständlichen Erzählweise an eine sehr breite Leserschaft wendet, fehlt sind Action und Drama. Sicher, es gibt eine sehr anrührend geschilderte Katastrophe, bei der der junge Hannibal seine junge Frau verliert, doch ansonsten werden dramatische Ereignisse so dezent angedeutet, dass der Leser seine Vorstellungskraft aktivieren muss, um die Szene als Drama aufzufassen.

Abgebrühte Leser – die vielleicht lieber in einem Egoshooter-Spiel massenweise Leichen produzieren – dürften an dem Krimi daher kein gutes Haar lassen: Er bietet ihnen einfach zu wenig Nervenkitzel. Für weibliche Leser bietet er zu wenig Romantik: Erlendurs Gespräche mit Halldóra halten sich sehr in Grenzen, und wo ich eine Pärchenszene erwartet hätte, wurde sie – aus welchen Gründen auch immer – weggelassen. Das strafft die Handlung indes ungemein und lässt die Ermittlung flott vorankommen. Das kam meinen Wünschen bestens entgegen.

Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Originaltitel: Reykjavikur naetur, 2012
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling; mit 1 Landkarte & 1 Straßenkarte, mit Lesebändchen
ISBN-13: 978-3431039078

www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)