Derek Raymond – Der Teufel hat Heimaturlaub. Thriller (Factory 02)

Sympathy for the Devil Reloaded

Eine zerstückelte und gekochte Leiche wird gefunden – ein Fall für die ‚Fabrik‘, Scotland Yards Abteilung für ungeklärte Todesfälle. Der namenlose Sergeant stößt bald auf den Hauptverdächtigen: ein irischer Berufskiller mit sadistischen Gelüsten. Aber wer und was steckt dahinter? Wer ist der Auftraggeber? (Verlagsinfo)

Hinweis: Der Schreiber empfiehlt diesen Roman und die Besprechung erst ab 16 Jahren. Beschreibungen wie die auf S. 20 sind sehr drastisch und weit unterhalb der Gürtellinie.

Der Autor

Derek Raymond ((https://de.wikipedia.org/wiki/Derek_Raymond)) (* 12. Juni 1931 in London; † 30. Juli 1994 ebenda; eigentlich Robin William Arthur Cook) war ein britischer Schriftsteller, der überwiegend Noir-Romane schrieb.

Derek Raymond war der Sohn eines englischen Textilunternehmers und wuchs in London, seit 1937 auf dem Familienschloss in Kent auf. 1944 wurde er am Elitecollege Eton aufgenommen, brach die Schule allerdings drei Jahre später ab. In den 1950er Jahren lebte er in Paris, New York und Spanien, wo er wegen Beleidigung Francos zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. 1960 kehrte Raymond nach England zurück und veröffentlichte zwei Jahre später mit The Crust on its Uppers einen Roman über die Londoner Unterwelt. (Einer Quelle zufolge war er auch Lektor von Jean-Paul Sartre.)

In den späteren 1960er Jahren arbeitete er in London als Romanschreiber, Pornoproduzent, Glücksspielveranstalter und Taxifahrer. Zwischenzeitlich lebte er in einer anarchistischen Kommune in Italien, in den 1970er Jahren dann die meiste Zeit in Frankreich.

Den literarischen Durchbruch schaffte Derek Raymond in den 1980er und 1990er Jahren mit seiner Factory-Reihe um einen Sergeant der Abteilung A14 der Londoner Polizei, der es in den fünf Romanen der Reihe mit brutal zerstückelten Mordopfern zu tun bekommt und bei den Jagden nach den sadistischen Mördern zusehends in eigene psychische Abgründe getrieben wird. Der vierte Roman der Factory-Reihe Ich war Dora Suarez erhielt 1991 den Deutschen Krimi-Preis.

Derek Raymond war fünfmal verheiratet (alle Ehen wurden geschieden) und hatte einen Sohn und eine Tochter. Er starb im Juli 1994 an Krebs. (Wikipedia.de)

Frühe Romane (veröffentl. unter Robin Cook)

1962: The Crust on its Uppers
1963: Bombe Surprise
1966: The Legacy of the Stiff Upper Lip
1967: Public Parts and Private Places
1970: A State of Denmark
1971: The Tenants of Dirt Street

Französische Romane (veröffentl. unter Robin Cook)

1983: Le Soleil Qui S’Eteint
1988: Cauchemar Dans La Rue
Alptraum in den Straßen, dt. von Jürgen Bürger, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1990. ISBN 978-3-404-19138-3

Die Factory-Serie

1984: He Died with His Eyes Open
Er starb mit offenen Augen, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19074-4
==>1985: The Devil’s Home on Leave
Der Teufel hat Heimaturlaub, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19076-8
1986: How the Dead Live
Wie die Toten leben, Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1989. ISBN 978-3-404-19077-5
1990: I Was Dora Suarez
Ich war Dora Suarez
1993: Dead Man Upright
Profil eines Serienmörders [veröffentlicht unter Robin Cook], dt. von Pieke Biermann, Rotbuch, Hamburg 1996. ISBN 978-3-88022-373-8

Autobiografie

1992: The Hidden Files
Die verdeckten Dateien, dt. von Michael K. Iwoleit und Reinhold H. Mai, Dumont, Köln 1999. ISBN 978-3-7701-4782-3

Letzter Roman

1994: Not Till the Red Fog Rises
Roter Nebel, dt. von Angelika Müller; Maas, Berlin 1996

„Kritiker Thomas Wörtche nannte Derek Raymonds Romane eine Mischung aus Poe, Kafka und Pulp. Gegen ihn wirken noch die schwarzen Klassiker vom Schlage eines David Goodis oder Jim Thompson fast wie sonnige Gemüter. Dies sind nicht nur die düstersten Bücher der Saison, sondern die schwärzesten Kriminalromane der 80er Jahre.“ (Verlagsinfo)

Handlung

Bei Scotland Yard gibt es die Abteilung A14, die als die unterste Gehaltsstufe gilt, auf die alle herabblicken: die Abteilung für ungelöste Todesfälle. Alle Helden in dieser Unterwelt des Yard sind namenslos, so auch der Ich-Erzähler. Täglich bekommt er von Charlie Bowman von der Abteilung „Serious Crimes“ eins reingewürgt, der sich für die A14 zu schade ist. Aber Bowman will, dass einer den anliegenden Job macht, und er ist sogar so gnädig, unseren Mann zum Fundort einer Leiche irgendwo im Osten Londons am Themseufer zu chauffieren. Aber hier hört der Spaß auf, und Bowman verkrümelt sich: Im Verteidigungsministerium ist irgendwie die Kacke am Dampfen.

Bowman hat die Presse zugelassen, und so stapft unser Mann zusammen mit dem jungen Reporter Tom Cryer die Stufen in den zweiten Stock eines Lagerhauses in Rotherhithe hoch. Da stehen sie, die fünf Plastiktüten, fein säuberlich in einer Reihe aufgestellt. Sie enthalten, wie der erste beamte festgestellt hat, die gekochten Einzelteile einer zerstückelten männlichen Leiche. „O ja, männlich, Mr. Cryer, sehen Sie dieses Becken – eindeutig männlich.“ Cryer kotzt sich die Seele aus dem Leib.

Unser Mann packt die Leichenteile aus und legt sie in die angemessene Form. Nichts fehlt, sogar der Kopf ist vorhanden – bis auf die Zähne allerdings, denn die hätten zur Identität benutzt werden können. Tja, und die Fingerabdrücke sind nicht vorhanden, wegen des Kochens. Man sieht also, Mr. Cryer, dass der Täter alles sorgfältig geplant hat, und jemand muss ihm wohl mit den ganzen Werkzeugen geholfen haben, so etwa mit der Tatwaffe: eine sogenannte Schlachtmaske ((https://de.wikisource.org/wiki/Die_Schlachtmaske)) . Ist im Grunde eine Nagelpistole, die dem Opfer durch besagte Maske einen zehn Zentimeter langen Nagel oder Hohlstift in den Schädel treibt. Fachmännisch sozusagen. Die Kleider des Toten dürfte man wohl in der nur 20 Fuß entfernten Themse finden, ebenso Schuhe, Armbanduhr und so weiter.

Es ist jedoch genau dieses methodische, mit kühlem Kopf erfolgte Vorgehen, das den Täter verrät: jemand, der nicht nur den Umgang mit Leichen und ihrer Zerstückelung gewohnt ist, sondern auch die fein säuberliche Verpackung und Zurschaustellung. Kurzum: ein Soldat auf Heimaturlaub. Er erledigte den Job für viel Geld im Auftrag eines Kunden. Daher der ganze Aufwand. Und der Tote? Offenbar ein Spitzel im Gangstermilieu, der aufgeflogen ist und beseitigt werden sollte.

So weit, so gut. Der Soldat ist leicht gefunden, wenn man ein wenig ohne Computer nachdenkt: Corporal William „Bully“ McGruder, geboren 1950 in Nordirland, selten befördert im Dienst der Army und sogar einmal wg. Gewalt gegen Kameraden sowie wg. Mordes verurteilt. Ist einfallsreich beim Morden: Klaviersaite als Garotte, Segeltuchnadel von zehn Zentimeter Länge – durchs Auge. Aggressiv, dünnhäutig und brutal. Genau unser Mann, Mr Cryer. Aber wer steckt dahinter, wer war sein Auftraggeber? Bestimmt ist das Opfer der Schlüssel. Der Haken ist natürlich: Es lässt sich nicht identifizieren.

Deshalb die exklusive Sonderbehandlung des Reporters. Nur sein „Recorder“ bringt die Story landesweit und auf der ersten Seite, und so dauert es nicht lange, bis sich ein Spitzel einen Batzen Geld dazuverdienen will: 5000 Pfund sind schließlich eine hübsche Stange Geld. Der erste Singvogel trägt den schönen englischen Namen Smitty und erweist sich als wahre Nachtigall. Er hat sogar die Adresse von Billy McGruder mitgebracht…

Mein Eindruck

Mit dem Fabrik-Mann hat der Autor eine Figur mit einer ausgefeilten Vergangenheit und einem regen Seelenleben geschaffen. So ist der 1941 geborene Cop beispielsweise mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet. Das liegt wieder an seinen vielfältigen Schuldgefühlen. Er gibt sich etwa die Schuld am Tod seiner kleinen Tochter Dahlia, dabei war es seine Frau Edie, die Dahlia vor einen Bus gestoßen hat. Das war 1979, da war unser Mann gerade mal 28. Als er vier war, erlebte er das Kriegsende, nachdem der Luftkrieg mit deutschen V2-Raketen Londons Wohnhäuser vielfach zerstört hatte.

Jetzt, sieben Jahre später, besucht er Edie in der Nervenheilanstalt, denn sie ist eindeutig zur Realität auf Abstand gegangen. Sie schmäht die „deutsche“ Königsfamilie, nennt sich selbst eine reinblütige Plantagenet – eine Königsfamilie, die ab 1159 über England herrschte. Und über Dahlia will sie lieber nicht sprechen. Schließlich muss der Pfleger ihr eine Beruhigungsspritze verpassen. Wieder mal hat sie sich ins Höschen gemacht. Früher, nach dem Krieg, hatten die Menschen mehr Würde und alle halfen einander, aber das ist seit den Sechzigern längst vorbei, findet er.

„Wohin ich gehe, dahin gehen die Gespenster.“ (S. 19) So sagt der Erzähler von sich selbst. Und wahrhaftig viele Gespenster reihen sich in seiner Nähe auf, allesamt Erinnerungen, an seine tote Tochter, an ermordete Kollegen, an seine wahnsinnige Frau – und nun kommen die Erinnerungen aus dem Kopf des Teufels hinzu. In drei langen Monologen breitet McGruder seine Lebensgeschichte vor dem Erzähler, seinem Richter und Beichtvater, aus. Soll er doch am Ende selbst das Urteil über ihn fällen.

Der Special Intelligence Branch SIB, die Geheimdienstabteilung der britischen Polizei, hat sich inzwischen unseren Chronisten gesichert, oder zumindest dessen intellektuelle Fähigkeiten, wenn schon nicht seine moralische Unterstützung. Wo Bowman von „Serious Crimes“ mit dem Dampfhammer agiert, setzt unser Mann das Skalpell an – oder einen Hebel. Als also Pat Hawes aus dem Gefängnis ausbricht, ahnt er schon, wo er ihn wiederfinden kann: bei McGruders verlassener, verborgen lebender Frau. Hier kommt es zum Showdown, doch der ganz anders aus als sich das etwa ein Bowman erhofft hätte…

Denn unser Mann ist hinter größerem Wild her. Ihn treibt die Frage, was der von McGruder getötete Spitzel eigentlich in jener Schuhfabrik im Norden zu suchen hatte. Denn sie war offenbar keine Schuhfabrik, sondern ein getarntes Elektroniklabor des Verteidigungsministeriums. Hier arbeitet ein ausgezeichneter Wissenschaftler namens Phillips im Auftrag, doch er hat noch einen zweiten Auftraggeber, der noch besser zahlt: die Russen.

Diesen Verrat kann er allerdings nur mit Rückendeckung des Verteidigungsministers begehen. Es ist eine der großartigen Szenen dieses Krimis, der sich flugs in einen Spionagethriller verwandelt, als unser Mann den Verteidigungsminister in dessen eigenem Heim zur Rede stellt und keinen Zoll zurückweicht. Denn er hat seinerseits die Rückendeckung der Spitze des Special Branch und des Polizeipräsidenten. So viel also zur Korruption in der Politik.

Die Übersetzung

S. 25: „das beste Porzellan aus zweiter Hand bei einer A[u]ktion in der Oxford Street erstanden.“ Das U fehlt.

S. 95: „Marks & Sparks“ = Spitzname für die Kaufhauskette Marks & Spencer; Insiderwitz. Hätte eine von Comparts Fußnoten verdient (s.u.).

S. 108: „…und ich meine, dass es der Gesundheit diese[s] Mannes schadet“: Das S fehlt.

S. 138: „und begann eine Entführung (!) in die Pathologie zu lesen.“ Es ist plausibler, dass ein Polizist nicht eine „Entführung“, sondern eine Einführung in die Pathologie liest.

S. 143: „Ich glaube, er ist im Bart’s.“ Gemeint ist das städtische Krankenhaus St. Bartholomew’s.

S. 202: „jenseits der Rabatte erstreckte sich eine weite[r] Rasenfläche“: Das R ist hier überflüssig.

S. 211: „dass ich mit die[s]em Überfall zu tun hatte.“ Das S fehlt.

S. 218: Zitat im Fließtext, ein Gedicht von Owen aus dem 1. Weltkrieg:

„Ein paar, ein paar, zu wenige für Trommeln und Triumphgeschrei /
Die schleppen sich vielleicht ganz still /
Ins Dorf herbei /
Auf kaum bekannten Wegen.“

S. 225: „Sehr bals WAR ich sie.“ Statt „bals“ sollte es besser „bald“ heißen.

S. 229: „sagte Foden zu[m] ihm.“ Das M ist überflüssig.

S. 125: Der Ich-Erzähler zitiert für sich ein Gedicht namens „Sorrow Lane“, das er in seiner Schulzeit gelernt hatte. Es ist zu lang, um es hier zu zitieren, obendrein ist es ziemlich sentimental – wie der Titel „Straße des Kummers“ schon vermuten lässt.

Hilfreiche Fußnoten finden sich auf den Seiten 74 und 197.

Unterm Strich

Ich habe diesen ungewöhnlichen Krimi in zwei, drei Tagen gelesen. Die unerwarteten Wendungen sorgen nicht nur für Spannung, sondern auch für Neugier auf das, was als nächstes kommen mag. Der Fall zieht offensichtlich immer weitere Kreise, und obwohl unser Mann vor Ort ganz unten in der Hierarchie der Polizei steht und dort bleiben will, schafft er es, ein hohes Tier auf der Ebene der Regierung zur Strecke zu bringen. Das macht ihn zum Helden der Underdogs, die sich nach irgendeiner Form von Gerechtigkeit sehnen. Insofern ist auch dieser Krimi, wie 99 prozent aller Krimis, eine moralische Parabel.

Der Protagonist hat ein genau und ausgiebig beschriebenes Seelenleben, und seine Sozialisation scheint in den fünfziger Jahren stattgefunden zu haben. Das erlaubt es ihm, einige kritische Urteile über die Endsechziger und Siebziger zu fällen (der Roman wurde 1985 veröffentlicht). Er weiß, dass sowohl diese Moden, als auch seine Vorgesetzten völlig austauschbar sind, bis hin zur Gesichtslosigkeit. Es wird viel telefoniert, aber wenig konferiert. Ein Vorgesetzter heißt sogar nur „Die Stimme“.

Ganz anders hingegen der Gegner. McGruder legt eine Beichte in drei Monologen ab, die sich über mehrere Seiten erstrecken. Das erweckt den Eindruck, als sollte der Leser Sympathie oder wenigstens Verständnis für ihn aufbringen. Die Eltern, die Nachbarn, die Armee, die Gangster – sie trugen allesamt nicht dazu bei, einen guten Menschen aus McGruder zu machen, ganz im Gegenteil. Auch sie werden dadurch Objekte der Kritik, denn schließlich haben sie einen „Teufel“ wie McGruder hervorgebracht. Als kleinen Akt der Rache spendiert ihm unser Mann einen Reisepass auf den Namen Angell („Engel“).

Für die vielen Druckfehler gibt es Punktabzug.

Taschenbuch: 237 Seiten
O-Titel: The devil’s home on leave, 1985;
Aus dem Englischen von Peter Robert.
ISBN 9783-404-190768

www.luebbe.de


Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)