Endlich ist es so weit, Henning Mankell hat ernst zu nehmende Konkurrenz auf dem aktuellen Krimisektor bekommen und sie kommt nicht aus Schweden, wo ich lange nach adäquatem literarischem Ersatz gesucht habe, nein, diese Konkurrenz kommt aus Island!
_Leichen im Keller_
In Nordermoor, einem Stadtteil Reykjavíks, wird die Leiche eines alten Mannes gefunden. Es handelt sich hierbei um Holberg, der zunächst noch einen recht harmlosen Eindruck macht, doch schnell entdeckt Kriminalkommissar Erlendur dunkle Schatten in Holbergs Vergangenheit. Ein Foto, welches in der Wohnung des Ermordeten gefunden wird, entlarvt Holberg als Vergewaltiger, und auch die Dateiensammlung auf seinem Homecomputer spricht Bände; hier ist jemand ermordet worden, um den kein Mensch trauern wird und der noch ganz andere Leichen im Keller begraben hat …
Gleichzeitig verschwindet eine Braut von ihrer eigenen Hochzeit, in Nordermoor werden zwei Schwestern überfallen und Erlendurs drogenabhängige Tochter Eva Lind steht mit Geldsorgen und schwanger vor der Tür ihres Vaters. Doch damit nicht genug, im Laufe der Ermittlungen kommt einiger Schmutz Nordermoors ans Tageslicht, Erlendur muss weit in der Vergangenheit suchen, um Mordmotive zu finden und auch um einen von Holbergs Kumpanen ausfindig zu machen, der seit einem Vierteljahrhundert verschwunden ist.
_Krimi der Extraklasse_
Auf der Suche nach interessanter Krimiliteratur schaut man schon lange nicht mehr nur nach Schweden, für Anne Holt reist man auch gerne nach Norwegen und für Arnaldur Indridason umso lieber nach Island. Seit ich auf der verzweifelten Suche nach lesenswerter Spannungslektüre neben Henning Mankell bin, kommt Indridason seinem schwedischen Kollegen nah wie kein anderer. „Todesmoor“ läutet dabei in Deutschland die Kriminalreihe rund um Kommissar Erlendur ein, obwohl rein chronologisch „Menschensöhne“ den Auftakt zu dieser Reihe darstellt. Doch keine Angst, die Unkenntnis der beiden ersten Romane rund um Erlendur, von denen Band 2 noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, stört den Lesegenuss kein bisschen.
Arnaldur Indridason lässt mit „Nordermoor“ das Herz des Krimiliebhabers höher schlagen, von der ersten Seite an packt uns das Geschehen rund um Erlendur und die in Nordermoor geschehenen Verbrechen. Immer wieder lässt uns der Autor an entscheidenden Stellen im Unklaren; so erfahren wir erst sehr spät, welche Botschaft der Mörder am Tatort zurückgelassen hat, über welche Erlendur und seine Kollegen so sehr rätseln. Auch zwischendurch enthält Indridason uns Informationen vor, die der Kommissar soeben erfahren bzw. vermutet hat; auf diese Weise fesselt uns der Autor auf jeder Seite mehr an sein Buch, da wir endlich alle Rätsel entschlüsselt haben wollen.
Der Kriminalfall könnte dabei kaum vielschichtiger sein, als er uns hier präsentiert wird. Zunächst sieht alles ganz einfach aus, doch schon das Foto aus Holbergs Wohnung, auf dem das Grab eines kleinen Mädchens abgebildet ist, lässt erahnen, in welchen Tiefen Erlendur forschen muss, um hinter das Geheimnis diesen Mordes blicken zu können. Ganz nebenbei geschieht ein Überfall auf zwei Schwestern in Nordermoor und eine Braut läuft von ihrer eigenen Hochzeitsfeier davon und hinterlässt ebenfalls eine kryptische Botschaft. Ganz allmählich nähert sich Erlendur mit seinen Nachforschungen dem Kern des Verbrechens, bald muss eine zweite Frau gesucht werden, die wahrscheinlich ebenso von Holberg vergewaltigt wurde wie Kolbrún, deren Tochter in dem Grab beerdigt wurde, welches auf Holbergs Foto zu sehen ist.
Arnaldur Indridason macht viele verschiedene Handlungsstränge auf, die im Laufe des Buches weitergesponnen werden, einzig über den Überfall erfahren wir später fast gar nichts mehr. Jede andere Idee führt der Autor weiter aus, verstrickt sie in das Geschehen, schmückt dadurch seinen Kriminalfall aus und erhöht dabei immer mehr das Tempo seiner Erzählung. Am Ende bleiben keine Fragen offen; Indridason schafft es überzeugend, sämtliche Handlungsfäden zusammenzuführen und ihnen einen würdigen Abschluss zu verpassen.
In der Figurenzeichnung orientiert er sich doch deutlich am bekannten Erfolgsmuster, denn der Leser scheint einen fehlerhaften und zweifelnden Krimihelden zu wünschen und genauso wird uns auch Erlendur präsentiert. Er wird als um die 50 Jahre alt beschrieben, zudem hat er vor etlichen Jahren eine schmutzige Scheidung hinter sich gebracht und seitdem keinen Kontakt mehr zu seiner Exfrau. Beide Kinder aus dieser Ehe sind Problemkinder; in diesem Roman tritt Eva Lind auf, die trotz ihrer Schwangerschaft ihren Entzug nicht schafft. Später wird Erlendur sogar mit zwei Schlägertypen konfrontiert, die von Eva Lind Geld eintreiben wollen. Hinzu kommen gesundheitliche Probleme; Erlendur hat oftmals Schmerzen in der Brust und auch mit dem Rauchen kann er nicht aufhören, darüber hinaus plagen ihn nachts schlimme Albträume. Genau wie Kurt Wallander wächst einem auch Erlendur ans Herz, da er authentisch erscheint und wir seine Gefühle und Gedanken nachvollziehen können. Nur am Ende verrennt sich Indridason ein wenig zu sehr in die Kitschecke, aber das sei ihm in Anbetracht des ausgefeilten Kriminalfalles verziehen.
Vielleicht kann man Indridason vorwerfen, dass zu viele Personen in diesem kurzen Kriminalroman ihren Auftritt haben, denn etliche Figuren werden uns vorgestellt und spielen im weiteren Verlauf des Buches keine Rolle mehr. Das führt dazu, dass man sich einige Namen kaum noch merken kann und dass die meisten Personen einen nur flüchtigen Eindruck hinterlassen und kaum Profil bekommen. Dennoch merkt man an Indridasons Beschreibungen sehr gut, auf welche Personen es ankommt, denn diesen gibt er so viel Raum, dass der Leser sich ein Bild machen kann.
Thematisch hat Arnaldur Indridason sich ein heißes Eisen herausgegriffen, welches er offen kritisiert. Er schafft es hier, gewisse Praktiken so darzustellen, dass dem Leser deutlich wird, wie Indridasons eigene Meinung dazu ist. Während der Ermittlungen schreckt Erlendur nicht einmal davor zurück, das kleine vierjährige Mädchen exhumieren zu lassen, das in den 60er Jahren verstorben ist, obwohl die Mutter des Mädchens bereits vor lauter Trauer Selbstmord begangen und ihre Schwester immer noch unter den schweren Schicksalsschlägen zu leiden hat. Doch am Ende schreitet Erlendur zur Wiedergutmachung und zeigt erneut seine menschliche Seite.
_Lesen – marsch, marsch!_
„Nordermoor“ ist trotz seines geringen Umfangs von nur etwas mehr als 300 Seiten ein ausgeklügelter Kriminalroman, der exzellent zu unterhalten weiß. Indridason inszeniert einen gelungenen Spannungsbogen, der auf jeder Seite mitreißt, und erschafft mit Erlendur einen sympathischen Kriminalhelden, von dem wir unbedingt mehr lesen möchten. Während der Erzählung werden einige Leichen aus dem Keller ausgegraben, nur zu deutlich wird der Schmutz Nordermoors erkennbar, und mit Holberg zeichnet Indridason ein Mordopfer, mit dem wohl kein Leser auch nur einen Hauch von Mitleid haben wird. Jeder Krimifan dürfte an diesem Buch seine helle Freude haben!