Indriðason, Arnaldur – Todeshauch

_Lebendig begraben?_

Im sogenannten Milleniumsviertel in Reykjavík finden Kinder beim Spielen auf einer Baustelle einen für sie interessanten Knochen. Zufällig beobachtet ein Medizinstudent eines der Kinder mit diesem Knochen und identifiziert ihn gleich als menschlichen Rippenknochen. Als der Student sich am Fundort umschaut, entdeckt er noch weitere Knochen, es scheint, als läge ein Gerippe unter der Erde begraben. Nun werden Kommissar Erlendur und seine Kollegen hinzugerufen. Erlendur beschließt, eine Gruppe von Archäologen mit der Ausgrabung des Skelettes zu beauftragen, doch wird er sich noch einige Zeit gedulden müssen, bis die Archäologen die Gebeine freilegen können und dabei eine dicke Überraschung erleben …

Gleichzeitig erreicht Erlendur ein verzweifelter Hilferuf seiner schwangeren Tochter Eva Lind, mit der er sich vor einigen Wochen zerstritten hatte. Zusätzlich zu dem Knochenfund muss sich Erlendur nun auch damit beschäftigen, seine Tochter ausfindig zu machen. Ihr Telefonat war nämlich leider unterbrochen worden, bevor Eva ihm sagen konnte, was vorgefallen ist und wo sie sich befindet. Diese Suche führt Erlendur in dunkle Gefilde Reykjavíks, bevor er seine Tochter schwer verletzt findet und sie gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus einliefern kann. Von nun an muss Erlendur allerdings um seine kranke Tochter bangen, die im Koma liegt und vielleicht nie wieder aufwachen wird.

Nebenbei lernen wir in Rückblenden eine Frau kennen, die mit einem gewalttätigen Mann verheiratet ist, der sie physisch und psychisch misshandelt und damit ihr Leben und das der drei Kinder zur Hölle macht. Erst nach und nach können wir erahnen, wie diese Familientragödie mit dem Leichenfund im Milleniumsviertel zusammenhängt …

_Früher war alles besser?_

Wieder einmal lässt Arnaldur Indriðason uns in die Vergangenheit reisen; wie schon in [„Nordermoor“, 402 so liegen die Hintergründe des aufzuklärenden Verbrechens auch hier etliche Jahre zurück. Die gefundenen Knochen werden etwa 70 Jahre alt geschätzt, sodass mit ziemlicher Sicherheit kein Mörder mehr verhaftet werden kann, auch wenn die Lage des Gerippes darauf schließen lässt, dass dort jemand vielleicht sogar lebendig begraben worden sein könnte. Erfreulicherweise stehen bei Indriðason nicht die Knochen im Mittelpunkt des Geschehens, wie bei seiner Autorenkollegin Kathy Reichs, sondern der bekannte isländische Krimiautor stellt die handelnden Personen und die menschlichen Opfer in das Zentrum.

Dabei versteht es Indriðason vorzüglich, uns die Figuren seines Romans vorzustellen. Besonders über Erlendur erfahren wir viel aus seiner eigenen – teilweise ebenfalls dunklen – Vergangenheit, und gerade seine menschliche Seite wird in seiner Sorge um Eva Lind erkennbar. Während er an ihrem Krankenbett sitzt, erzählt er ihr einige Episoden aus seiner Kindheit, die uns Erlendur in einem ganz anderen Licht sehen lassen als zuvor. Im Kontext dieses Buches wird Erlendurs eigene Familientragödie dabei besonders interessant. Viele Kleinigkeiten und Begebenheiten vervollständigen hierbei unser Bild vom Krimihelden, sodass er uns mit jedem Roman mehr ans Herz wächst und wir immer mehr mit ihm fühlen und ihm wünschen, dass er endlich zufriedener werden möge.

Sehr gelungen empfand ich die charakterliche Weiterentwicklung von Erlendurs Kollegen Sigurður Óli und Elínborg, über die wir wesentlich mehr erfahren als noch im Vorgängerroman. Speziell über Sigurður Ólis Privatleben berichtet Indridason recht ausführlich; so nehmen auch diese beiden Figuren langsam Gestalt an und gewinnen an Profil.

Ein großer Teil der Romanhandlung spielt in der Vergangenheit und erzählt die Geschichte von Grímur, der seine Frau brutal schlägt und auch seinen drei Kindern gegenüber kein gutes Wort fallen lässt. Besonders die kleine Mikkelina ist dabei Opfer seiner verbalen Attacken, da sie nach einer schweren Krankheit halbseitig gelähmt ist und sich daher nicht ohne Hilfe fortbewegen kann und auch das Sprechen aufgegeben hat. In diesen Sequenzen lernen wir auch diese Familie besser kennen und können das Ausmaß der Tragödie in etwa einschätzen.

Durch die häufigen Szenenwechsel vom aktuellen Skelettfund zur vergangenen Familiengeschichte spielt Indriðason uns wohldosiert Informationen über die Hintergründe des Kriminalfalles zu, die uns ein Miträtseln ermöglichen und dadurch immer weiter Spannung aufbauen. Zu Beginn tappt der Leser noch völlig im Dunkeln, wir wissen nicht, was im Milleniumsviertel vor 70 Jahren vorfiel und ob dort überhaupt ein Verbrechen geschah. Dennoch ahnen wir durch die eingeschobenen Sequenzen sehr schnell, wo Erlendur suchen müsste, um seinen Skelettfund aufzuklären. Der Leser bekommt hier ganz bewusst einen Wissensvorsprung zugestanden.

Indriðason inszeniert eine regelrechte Schnitzeljagd, in der viele kleine Hinweise erst mit der Zeit eine Vermutung über die Vorgänge zulassen. Dabei werden verschiedene Fährten ausgelegt, von denen allerdings nur eine auf die richtige Spur führt. Der Spannungsbogen steigt kontinuierlich an und sorgt dafür, dass man „Todeshauch“ ab der Hälfte nur noch schwer aus der Hand legen kann. Zu viele Informationen hat man an die Hand bekommen, die „nur“ noch sortiert und zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden müssen. Aber natürlich hat Indriðason auch in diesem Roman einige Überraschungen für seine Leser parat.

„Todeshauch“ entspricht nicht dem typischen Strickmuster eines Kriminalromans, da kein Mörder gesucht werden muss, sondern lediglich ein Rätsel gelöst werden soll. Erlendur versucht fast schon verbissen, hinter das Geheimnis der Knochen zu kommen und geht mit wesentlich mehr Enthusiasmus ans Werk als beispielsweise sein Kollege Sigurður Óli, der vielmehr damit beschäftigt ist, sein Privatleben in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Ermittlungen werden sehr breit angelegt, viele verschiedene Personen werden als Zeugen herangezogen und die Polizisten sind darauf angewiesen, Angehörige und Nachbarn der damaligen Einwohner im Milleniumsviertel zu befragen. Ebenso wie schon in „Nordermoor“ führt Indriðason auch in „Todeshauch“ zahlreiche handelnden Figuren ein, die größtenteils nur einen flüchtigen Eindruck beim Leser hinterlassen. Schon nach dem Zuklappen des Buches entfallen einem viele Namen, weil sie keine große Rolle gespielt haben. Diese breit gefächerten Ermittlungen bringen daher auch den kleinen Nachteil mit, dass ein gutes Namensgedächtnis für die Lektüre dieses Buches hilfreich sein kann.

Auch in diesem Kriminalroman nimmt sich Indriðason eines wichtigen Themas an, er zeigt die Gewalttätigkeiten und Grausamkeiten auf, die Frauen und Kindern innerhalb der eigenen Familie zugefügt werden können, ohne dass Bekannte und Nachbarn etwas bemerken oder gar zu Hilfe eilen. Dabei bezieht der Autor wieder einmal Stellung und unterstützt die Opfer, versucht gleichzeitig aber auch, die Handlungsweise der Täter zumindest zu erklären, wenn auch nicht zu entschuldigen.

_Abwechslung vom Einheitsbrei_

Obwohl „Todeshauch“ mich nicht ganz so sehr mitreißen und begeistern konnte wie der Vorgängerroman, überzeugt auch dieser Krimi nahezu auf ganzer Linie. Indriðason zeigt wieder einmal sein Talent, die handelnden Figuren plastisch darzustellen, sodass sie uns wie Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen, mit denen wir einfach mitfiebern müssen. Auch der Spannungsbogen ist rundum gelungen, kontinuierlich wird die Handlung packender und spannender. Die vereinzelten Hinweise, die Indriðason im Laufe des Romans einstreut, fesseln uns immer mehr an das Buch und animieren zum Mitraten. Dabei werden selbstverständlich auch wieder falsche Fährten ausgelegt, die den Leser gekonnt an der Nase herumführen werden, die aber dennoch stets realistisch erscheinen und nicht bloß an den Haaren herbeigezogen wirken. Nur die vielen auftauchenden Romanfiguren könnten den Leser etwas überfordern, außerdem werden sich einige Krimifreunde sicher nicht mit diesem Fall anfreunden können, da am Ende kein Mörder verurteilt wird. Hier geht es lediglich darum, vergangene Rätsel zu lösen. Doch wie Indriðason meiner Meinung nach überzeugend zeigt, ist dies mindestens genauso spannend wie ein aktueller blutrünstiger Kriminalfall. Darüber hinaus ist „Todeshauch“ eine erfreuliche Abwechslung vom sonstigen Kriminalroman-Einheitsbrei, bei dem viele aktuelle Romane nur einen lauwarmen Aufguss bereits veröffentlichter Ideen darstellen. Indriðason bedient sich viel subtilerer Mittel, um seinen Romanen das gewisse Etwas mitzugeben.