Helene Tursten – Die Tote im Keller (Irene Huss 8)

Sklavinnen für Teneriffa

In einem alten Erdkeller, irgendwo in Göteborg, wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Sie wurde über einen langen Zeitraum gefangen gehalten, missbraucht und anschließend brutal ermordet. Die Identität des Mädchens bleibt lange Zeit im Dunkeln, denn niemand scheint sie zu vermissen. Erste Spuren führen Kriminalinspektorin Irene Huss (s.u.) ins Rotlichtmilieu, bis schließlich eine weitere Spur nach Teneriffa führt, wo sie nur denkbar knapp einem Attentat entgeht. Doch der Mörder ist näher, als die Ermittler ahnen.

Die Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren. Eine rheumatische Erkrankung zwang Helene Tursten im Alter von 39 Jahren ihren Beruf als Zahnärztin aufzugeben. Seit 1993 schreibt Tursten Kriminalromane. Sie lebt in Sunne/Värmland; ihr Ehemann ist ein ehemaliger Polizist.

Tursten erschuf die Figur der Inspektorin Irene Huss, die in Göteborg ermittelt. Die Protagonistin ist um die 40, Mutter zweier pubertierender Mädchen und ist glücklich verheiratet mit Krister. Sie ermittelt beruflich in Mordfällen und versucht gleichzeitig ihr Familienleben optimal zu regeln.

Die Irene-Huss-Reihe

1998 Den krossade tanghästen (Der Novembermörder, dt. von Christel Hildebrandt, btb, München 2000; ISBN 3-442-72554-2)
1999 Nattrond (Der zweite Mord dt. von Holger Wolandt, btb Verlag, München 2001, ISBN 3-442-72624-7)
2000 Tatuerad torso (Die Tätowierung, dt. von Holger Wolandt, btb, München 2002; ISBN 3-442-75065-2)
2000 Glasdjävulen (Tod im Pfarrhaus, dt. von Holger Wolandt, Goldmann, München 2004, ISBN 3-442-73233-6)
2002 Guldkalven (Der erste Verdacht, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt, btb, München 2005, ISBN 3-442-75135-7)
2004 Kvinnan i Hissen (Die Frau im Fahrstuhl, dt. von Holger Wolandt, btb, München 2004, ISBN 3-442-73257-3)
2005 Eldsdansen (Feuertanz, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt, btb, München 2006, ISBN 3-442-75162-4)
2006 En man med litet ansikte (Die Tote im Keller, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt; btb, München 2007; ISBN 3-442-75200-0)
2009 Det lömska nätet (Das Brandhaus, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt; btb, München 2009; ISBN 3-442-75226-4)
2010 Den som vakar i mörkret (Der im Dunkeln wacht, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt; btb, München 2010; ISBN 978-3-442-75279-9)
2012 I sykdd skuggorna (Im Schutz der Schatten, dt. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt; btb, München 2012; ISBN 978-3-442-75348-2)

Mittwintermord (eine Irene-Huss-Erzählung, dt. von Lotta Rüegger, in: Elche im Schnee. Die schönsten Wintergeschichten aus Schweden von Mankell bis Edwardson, Piper, München 2004; ISBN 3-492-24235-9)

Filme

Bisher wurden zehn der Irene-Huss-Krimis als Teile der Reihe Irene Huss, Kripo Göteborg verfilmt. Die schwedische Schauspielerin Angela Kovács, die auch aus den neuen Wallander-Verfilmungen der ARD-Reihe bekannt ist, spielt die Hauptrolle. Weitere Filme sollen folgen. In Schweden liefen die Filme bereits zwischen August 2007 und Februar 2008; in Deutschland vom 12. Juli bis 15. August 2009 sowie vom 8. April bis 25. Mai 2012 in der ARD.

2021 wurde die Serie mit Huss – Verbrechen am Fjord mit Karin Franz Körlof als Irenes Tochter und Polizeianwärterin Katarina Huss sowie Kajsa Ernst als Irene Huss fortgesetzt.

Handlung

Göteborg im Winter 2006. Zwei Streifenpolizisten wollen gerade nachts eine Vesperpause einlegen, als ein dringender Einsatzbefehl reinkommt: Zwei Autodiebe würden durch die Innenstadt mit hoher Geschwindigkeit in ihre Richtung fahren. Die beiden Cops schmeißen Kaffee und Sandwich über Bord, um schnellstens losfahren zu können. Selbstverständlich würden sie versuchen, den beiden Autodieben den Weg abzuschneiden, melden sie.

Unfall oder Mord?

Doch aus der erwarteten Verfolgungsjagd mit anschließender Schießerei wird nichts. Der heranrasende BMW lässt ihr Polizeiauto ziemlich alt aussehen, als er vorüberdonnert. Vor ihren Augen dann der Unfall: Sie überfahren einen älteren Mann, der gerade über die Straße joggen will. Trotz zertrümmerter Windschutzscheibe fahren sie weiter in einen Gartenbezirk, wo etliche Schreberhäuschen stehen. Die beiden Streifenpolizisten rufen Verstärkung und eine Ambulanz, denn sie kümmern sich zunächst um das Unfallopfer. Später stellt sich heraus, dass es sich um einen pensionierten Kollegen handelt, Torleif Sandberg.

Der Fund

Die Suche der übrigen Streifen führt in den Gartenbezirk, bis sie zu einem Wald gelangen. Mehr durch Zufall gelangen sie zu einem verfallenen Häuschen, in das sie eindringen. Sie wollen nichts übersehen und die Killer, die Fahrerflucht begangen haben, schnappen. Im Keller dieses Häuschen finden sie zu ihrer Bestürzung die verweste Leiche eines jungen Mädchens, das halb nackt ist. Die Rechtsmedizin stellt zahlreiche Verletzungen am abgemagerten Körper der Toten fest, besonders auch im Genitalbereich. Obwohl sie höchstens 13 Jahre alt war – oder so aussieht -, wurde sie bereits mehrmals vergewaltigt. Es könnte sich um eine entsorgte Sexsklavin handeln.

Aufteilung

Die Kripo teilt den komplexen Fall unter sich auf. Irene Huss soll sich um die Autodiebe kümmern. Es gibt die üblichen Verdächtigen in der Szene, und von denen eliminiert sie die unwahrscheinlichen Kandidaten. Eine weitere Männerleiche wird gefunden, draußen im Wald zwischen Felsen. Am zweiten Tag teilt Kommissar Sven Andersson die Truppe anders ein. Nun bekommt Irene Huss zusammen mit Kollegin Birgitta das tote Mädchen zugeteilt. Sofort gehen sie zum Dezernat für Menschenhandel, das von Kommissarin Linda Holm geleitet wird. Die kann ihnen einen ganzen Online-Katalog von Sexsklavinnen zeigen. Sind die Sklavinnen verbraucht, lassen sich ihre Besitzer auch noch dafür bezahlen, wenn ein Kunde sie „entsorgen“ will.

Hauptverdächtiger Zuhälter bzw. Händler ist Heinz Becker, ein ehemals Ostdeutscher mit teils deutschen, teils estnischen Eltern. Der hat nicht nur beste Verbindungen in die baltischen Staaten, sondern riskiert auch viel mehr, um die minderjährigen Mädchen über die Grenzen zu schmuggeln. Kommissarin Holms Team, das rasch gewachsen ist, um dem Bedarf gerecht zu werden (denn Menschenhandel ist lukrativer Drogen- und Waffenhandel), hat Beckers Wohnung schon im Visier und will am nächsten Tag zuschlagen.

Verrat

Dichtes Schneetreiben erschwert die Sicht, als sich die Polizisten der beiden Abteilungen in ihren Einsatzfahrzeugen vor besagtem Haus postieren. Immerhin ist zu erkennen, dass es im Dachstuhl gebrannt haben muss, denn dort sind Bauarbeiter zugange, um das Dach zu reparieren. So verwundert es auch keinen, dass zwei Bauarbeiter aus der Haustür kommen und einen schweren schwarzen Sack in einen Lieferwagen packen. Für die Wagentür haben sie offenbar ebenso einen Schlüssel wie für die Fahrerkabine. Der Lieferwagen startet und rollt davon. Gleich darauf ist er im Schneetreiben verschwunden.

Kommissarin Linda Holm gibt das Startsignal für den Einsatz. Zu ihrer Enttäuschung muss sie feststellen, dass Beckers Wohnung bis auf jede Menge Drogenutensilien leer ist. Dann fällt es Irene Huss wie Schuppen von den Augen: die Bauarbeiter mit dem schwarzen Sack! Es waren Becker und ein Komplize. In dem Sack schleppten sie ein weiteres Mädchen und warfen es in den Lieferwagen. Die Bewohner müssen kurz zuvor einen Tipp bekommen haben – aus ihrer eigenen Organisation…

Mein Eindruck

In diesem Krimi stellt die Autorin die Verbindung zwischen Schweden und dem Sextourismus her. Schweden ist dabei das Transitland, quasi der Umschlagplatz für die begehrte Ware „Sexsklavin“. Das Herkunftsland ist diesmal Estland, es könnte aber genauso gut Russland oder ein anderes baltisches Land sein. Der Bestimmungsort sind die Kanarischen Inseln, genauer gesagt: Teneriffa.

Schatten über Teneriffa

Dorthin führt die unerschrockene Kriminalinspektorin Irene Huss ihr nächster Weg. Denn einer der Entführer der beiden Mädchen „Tanja“ (die titelgebende Tote) und „Anna“, die vor den Augen der Cops in einem Müllsack verschleppte Estin, war im Auftrag eines der kanarischen Verbrecherbosse unterwegs, um in Göteborg die „Ware“ in Empfang zu nehmen. Wer also ist der Käufer? Das will Irene Huss herausfinden.

Doch als sie ankommt und in einem Luxushotel untergebracht wird, bekommt sie von ihren Betreuer schon den ersten Hinweis, dass ihre Mission wesentlich komplizierter ist als gedacht: Der Polizeipräsident zweier Ortschaften, die bei den Touristen sehr beliebt sind, hängt mit drin. Und es schwelt ein Krieg zwischen zwei Verbrecherklans. Die beiden Estinnen sollten als Begleichung einer Schuld dienen. Da beide nicht geliefert worden sind, hängt quasi der Haussegen schief. In einem außen noblen Kasino am Ort bemerkt sie die extrem hohen Sicherheitsvorkehrungen. Gegen was sie dienen sollen, erfährt sie am eigenen Leib, als auf das innerste Sanktum ein Anschlag verübt wird. Nur mit einer Riesenportion Glück entgeht Irene selbst den Kugeln. Andere haben nicht so viel Glück….

Schatten über Göteborg

Nach diesem Übermaß an Action ist ihres Bleibens nicht länger, und sie reist umgehend ab. Wenigstens ist sie unversehrt. Nachdem die Teneriffa-Geschichte geklärt ist und ihre Kollegen weitere Fakten zusammengetragen haben, um den Sklavenhandel aufzuklären, bleibt noch ein weiterer Fall aufzuklären: der Tod von Torleif Sandberg. Was hatte er in einer eiskalten Nacht mit nichts am Leib als einem leichten Jogging und leichten Schuhen in der Innenstadt zu suchen? Nachdem sie mehrere Zeugenaussagen und die der beiden Todesfahrer, die Torleif überfuhren, entwirrt hat, liefert ein DNA-Test ein niederschmetterndes Ergebnis und endgültige Gewissheit. Die wird Sandbergs bestem Freund, dem Chef von Irenes Kripo-Abteilung, gar nicht schmecken…

Im Labyrinth

Obwohl dieses Labyrinth aus Hinweisen, mehreren Zeugenaussagen, mehreren Fahrzeugen immer wieder in Schleifen durchgekaut wird, fällt es dem Leser, der nicht genau aufpasst, doch schwer, sich in die Wust zurechtzufinden. Jemand hat nämlich versucht, seine Spuren zu verwischen, Spuren, die zu dicht an die Tite im Keller heranführen. Doch wie schon „zufälligen“ Fund der Mädchenleiche steht auch sonst Kommissar Zufall voll und ganz auf Irenes Seite, so dass sie am Ende auf die unangenehme Wahrheit stößt.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch gleich zwei Übersetzer ist durchweg gut gelungen. Holger Wolandt hat alle anfänglichen Huss-Krimis übersetzt, aber warum er diesmal Verstärkung durch Lotta Rüegger brauchte, ist unklar.

Nur auf Seite 191 bin ich über einen Wortdreher gestolpert:

„Obwohl es so noch früh war, hatte sie sich bereits geschminkt.“ Um jedoch den im „obwohl“ steckenden Widerspruch ausdrücken zu können, müsste der Satzbau anders lauten: „Obwohl es noch so früh war (usw.)“.

Unterm Strich

Helene Tursten ist ein großer Fan des US-amerikanischen Krimiautors Ed McBain. Dessen Police-Procedural-Romane nimmt ihre Serien-Heldin Irene Huss mit nach Teneriffa. McBain ist bekannt für seine eigene Serie um das (fiktive) 87. Polizeirevier in New York City. Diese Krimis dienten schon dem Autorenpaar Per Wahlöö und Maj Sjöwall (diese Krimis ins Schwedische übersetzte) als Vorbild für ihre eigene Serie um Kommissar Martin Beck. Irene Huss befindet sich also, literarisch gesehen, in bester Gesellschaft. Sie ist der Kurt Wallander von Göteborg.

Ich habe diese Stadt einmal besucht und muss sagen, dass sie es durchaus mit Stockholm aufnehmen kann, wenn ihr auch der Charme von Altstadt und Mälarsee-Häuschen – zumindest auf den ersten Blick – fehlt. Dafür hat es einen großen, geschäftigen Hafen (und von diesem Hafen führt jene berühmte Götakanalstrecke bis nach Stockholm, die für Sjöwall/Wahllöös ersten Krimi „Roseanna“ den Schauplatz abgibt). Durch die MILLENNIUM-Trilogie ist Stockholms Altstadt weltberühmt geworden. Göteborg fehlt diese globale Attraktivität – noch. Der Vorteil: Die Stadt ist noch längst nicht so überlaufen wie die Hauptstadt.

Mit der Figur der Kriminalinspektorin Irene Huss steht und fällt die Wirkung des Romans auf die Leserschaft. Eine Mittvierzigerin, deren zwei Zwillingstöchter gerade ausziehen, mag für gleichaltrige Leserinnen eine gute Identifikationsfigur abgeben, doch mir ist sie ein wenig zu brav. Zu meinem größten Bedauern ist Irene für Action nicht zu haben, dafür liegen ihre Stärken erstens in einem stabilen Nervenkostüm und zweitens im vernetzten Denken. Sie entdeckt Zusammenhänge, die keiner vermuten würde.

Ihre Auffassungsgabe lässt sie in Teneriffa ziemlich schnell die Gefahrenlage erfassen: Sie steht zwischen zwei Fronten eines Bandenkriegs. Aber auch sie schafft es nicht, den Maulwurf auszugraben, der Heinz Becker und seinen Komplizen vor dem Zugriff durch die Abteilung für Menschenhandel gewarnt hat. (Denn zu diesem Zeitpunkt war der zwielichtige Ex-Cop Torleif Sandberg bereits tot.) Diesen losen Faden hätte ich doch zu gern entfernt gehabt.

Alles in allem besteht die Aussage des Krimis in einer anklagenden Schilderung des Handels mit Sexsklaven, der über Schweden als Transitland bis zu den Touristeninseln im Süden führt. Der vorliegende Fall schildert nur zwei Opfer, doch in MILLENNIUM greift Stieg Larsson eine ganze Organisation mit Dutzenden von Sexsklavinnen auf, eine Organisation, die Lisbet Salanders Vater Alexander Zalachenko leitet. In der Trilogie taucht Lisbets „Psychiater“ auf, der eine riesige digitale Sammlung von Kinderpornos besitzt. Auch im vorliegenden Huss-Fall tritt solch ein Mann auf. Doch er belässt es nicht beim Anschauen von Bildern…

Gebunden: 315 Seiten
O-Titel: En man med litet ansikte, 2006
Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt.
ISBN-13: 9783442752003