Andrea Camilleri – Das Lächeln der Signorina. Commissario Montalbano lässt sich blenden


Blaue Bohnen und der Engel der Liebe: Montalbano unter Dieben

Eine Serie von Diebstählen sorgt für Aufregung im sizilianischen Vigàta. Als Commissario Montalbano im Rahmen der Ermittlungen Bekanntschaft mit der jungen Angelica Cosulich macht, fühlt er sich schlagartig in seine Jugend zurückversetzt: Mit ihrem wallenden Blondhaar erinnert ihn die schöne Angelica an die Heldin selben Vornamens aus Ariosts Epos „Der rasende Roland“, die ihm seinerzeit die Träume versüßt hat. Doch hinter dem betörenden Lächeln der Signorina verbirgt sich ein gefährliches Geheimnis… (Verlagsinfo)

Der Autor

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit Jahren verlobt ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

Ein paar Montalbano-Krimis:

– Die Form des Wassers
– Das Spiel des Patriarchen
– Der Hund aus Terrakotta
– Die Stimme der Violine
– Der Kavalier der späten Stunde
– Der Dieb der süßen Dinge
– Die Nacht des einsamen Träumers
– Das kalte Lächeln des Meeres
– Die dunkle Wahrheit des Mondes
– Die schwarze Seele des Sommers
Und viele weitere.

Handlung

Wieder einmal ist Livia aus Genua gekommen, um ein paar Tage bei ihrem Verlobten Salvo Montalbano zu bringen, Die „afrikanischen Urlaute“ der Sizilianer mag sie zwar nicht so besonders, aber bei einem guten Abendessen des um äußerste Zuvorkommenheit bemühten Enzo hellt sich die Stimmung Ihrer Majestät deutlich auf. Das Essen ist wieder mal köstlich. Salvo atmet auf. Der Abend ist gerettet, wie es scheint.

Natürlich meldet sich die Arbeit im ungünstigsten Augenblick. Sein Telefonist Catarella meldet einen Einbruch, der im Viertel der Reichen von Vigàta stattgefunden habe. Na und? Dafür ist doch die Kripo nicht zuständig. Und Fazio, sein bester Mann, ist auch schon vor Ort. Doch als Salvo seine Livia im Schlaf reden hört, wird er flugs anderen Sinnes. „Carlo, doch nicht von hinten!“, sagt sie. Und das klingt nach einem Nebenbuhler, der sich Freiheiten herausnehmen will, die ihm Livia noch nie gewährt hat. Salvo, vor Eifersucht sofort auf hundertachtzig, rauscht ab. Ein Tatort wartet auf ihn. Und noch viel mehr.

Erstes Opfer

Das Ehepaar Peritore wurde auf eine ungewöhnliche Weise um seine Gemälde- und Schmucksammlung sowie zwei Autos erleichtert. Denn zunächst besorgten sich der oder die Einbrecher mit Hilfe einer langen Stange im Landhaus der Peritores die Haus- und Autoschlüssel, so dass sie gar keine Mühe hatten, das Haupthaus auszuräumen. Die Reifenspuren lassen auf drei Autos schließen.

Als ein zweites Ehepaar in der Nähe ebenfalls zum Opfer der Diebe wird, kommt Montalbano ein Verdacht. Tatsächlich gehören die Peritores zu einem Freundeskreis aus achtzehn weiteren Personen bzw. Ehepaaren. Natürlich weiß jeder ungefähr von jedem der anderen, wie vermögend oder arm der- oder diejenige ist. Was liegt näher als der Verdacht, dass der Kopf der Bande zu diesem Freundeskreis gehört und folglich alle seine Opfer bereits ausbaldowert hat.

Angelica

In der Nähe wohnt Angelica Cosulich ebenfalls in einem dieser neumodischen Gebäude. Ihr Haus hat die Form einer Eistüte – tres chic, knurrt Montalbano. Seine gedämpfte Stimmung hellt sich jedoch schlagartig auf, als er die 30-jährige Bankangestellte zu Gesicht bekommt. Sie sieht fürwahr aus wie jene Angelica, die er als Sechzehnjähriger in Ariosts Epos „Orlando furioso“ abgebildet fand, von keinem geringeren als Gustave Doré gezeichnet. Schlagartig fallen ihm die göttlichen Verse Ariostos wieder ein, um diese herrliche Erscheinung zu beschreiben.

Angelica ist ebenfalls ein Opfer der Diebesbande geworden. Allerdings wurde ihr der Schlüssel an einem ort entwendet, den sie nicht in der Zeitung sehen möchte: in einer Absteige in der Villa ihres Cousins. Mit anderen Worten: in ihrem Liebesnest. Montalbano lässt sich von dem himmlischen Wesen betören, dieses Detail zu unterdrücken.

Nächtliche Schüsse

Montalbano erhält prompt den Fehdehandschuh des Bandenführers in Form eines anonymen Briefes hingeworfen. Der anonyme Schreiber, den Salvo verächtlich „Signor Zeta“ nennt, beschwert sich, dass die Berichterstattung der Medien ungenau sei, offensichtlich unter der Regie des unfähigen Commissario. So habe Montalbano das Detail mit der Villa unterschlagen. Prompt zitiert ihn der Allmächtige, pardon: der Polizeipräfekt zu sich. Doch Montalbano kann beweisen, dass er die reine Wahrheit in seinen Bericht getippt haben, und nichts als die Wahrheit. Dass Livia auf einmal abreisen muss, stört ihn nicht allzu sehr.

Da Angelica Cosulich als Opfer keines Verbrechens verdächtig sein kann, verrät er ihr beim nächsten Treffen den Stand seiner Ermittlung. Er habe mit seinen Leuten eine Falle aufgestellt: Das Haus der Sciortinos wird ebenso überwacht wie ihr Landhäuschen, wo sie gerade Hochzeitstag feiern wollen. Während seine Leute die Villa umstellt haben, liegt Montalbano im Hintergrund auf der Lauer. Da rollt ein anderes Auto mit abgeblendeten Scheinwerfern auf ihn zu. Er zieht seine Pistole. Er staunt nicht schlecht, als es Angelica ist. Das wird eine aufregende Nacht, soviel ist schon mal sicher.

Schüsse krachen in der Nacht, und Flüche sind zu hören. Die Einbrecher sind offenbar in flagrante delicto überrascht worden. Eine wüste Schießerei beginnt. Dass sich Angelica furchtsam an ihn schmiegt, erscheint Salvo indes wie ein Geschenk des Himmels. Doch die Nacht hat Augen, und denen entgeht nichts…

Mein Eindruck

Eine Ermittlung in einem genau begrenzten Kreis von Verdächtigen – das ist ein klassischer Fall. Um den ganzen Ablauf nicht gar zu simpel und offensichtlich werden zu lassen, wirft der Autor seinem Ermittler jede Menge Knüppel zwischen die Beine. Nicht zuletzt lässt sich der Commissario vom schönen Lächeln Angelicas blenden und auf Irrwege führen, die seiner Karriere ganz und gar nicht förderlich sind. An einem Punkt fragt sich Montalbano sogar, ob er mit 58 Jahren nicht doch schon zu alt ist, um „diesen Scheiß“ noch weiter mitzumachen.

Zudem mischt sich Signor Z immer wieder ein. Er fordert den Schnüffler heraus, kündigt zwei weitere Brüche an, sagt praktisch: „Catch me if you can“. Dieses Katz-und-Maus-Spiel betreibt Montalbano schon aus sportlichem Ehrgeiz. Quasi als Würze im Spiel der Liebe. Als er jedoch den anonymen Anruf erhält: „Bald wird Angelica tot sein“, muss er seine grauen Zellen auf Hochtouren nutzen – oder das Spiel der Liebe ist ein für alle Mal aus. Wird er die richtigen Schlüsse ziehen und Angelica vor dem Schlimmsten bewahren?

Aufhebung der Zeit

Ein weiteres Thema, das eng mit der Beziehung zu Angelica verwoben wurde, ist die Aufhebung der Zeit. Nicht nur, dass sich Salvo unvermittelt wieder in den Sechzehnjährigen verwandelt fühlt, als Angelica begegnet. Nein, sein von Hormonen benebeltes Hirn erinnert sich bestens an Ariosts unsterbliche Verse aus „Orlando furioso“. Der Autor streut sie genüsslich in den Text ein und entführt auf diese Weise nicht nur Montalbano, sondern auch den Leser in jene Zeit, als das Epos entstand oder zumindest seinen Schauplatz hatte, nämlich in der Zeit der Ritter und holden Edelfrauen.

Die Zitate führen in die Erzählung eine höhere Ebene ein, die der Leser je nach Mentalität witzig-ironisch oder einfach nur wunderschön romantisch finden kann. Natürlich endet der Sturm der Hormone nach der Erfüllung der Sehnsucht und Salvo kühlt beträchtlich ab, schilt sich selbst einen Narren und wendet sich wieder der Arbeit zu.

Bis ihm wieder einmal ein blendender Geistesblitz das geplagte Hirn erleuchtet und ihn der schreckliche Verdacht beschleicht, dass Angelica in dieser ganzen Geschichte doch nicht so ein Unschuldslamm ist, wie sie tut. Er beginnt, in ihrer Bank, wo sie immerhin als Chefkassiererin einen verantwortungsvollen Posten innehat, Nachforschungen anzustellen.

Auch Mister Z, der Bandenführer mit der Arroganz eines Zorro, hebt die Zeit auf. Ein uraltes Unrecht soll durch Rache wiedergutgemacht werden – keine unbedingt neue Motivation in Sizilien, einem Land, in dem die Blutrache Jahrhunderte lang wütete. Doch derjenige, der Unrecht begangen, hat es auch an Angelica begangen. Und dieses Unrecht aufzudecken und die Beweise zu beseitigen, kann ihr vielleicht helfen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung liest sich sehr flüssig, was nicht zuletzt dem modernen Sprachgebrauch zu verdanken ist. „jemandem tierisch auf den Senkel gehen“ – das ist durchaus moderne deutsche Umgangssprache, wenn auch kein Szene-Jargon. Druckfehler konnte ich keine finden.

Unterm Strich

In diesem Krimi wagt der Autor formal einen kühnen Wurf: Eine stinknormale Zehn-kleine-Negerlein-Ermittlung wird mit einem Helden- und Liebes-Epos verquickt. Unvermittelt wird aus einem 08/15-Plot eine durcheinandergewirbelte Krimi-Romanze, die nicht nur zahlreiche komische Momente bereithält, sondern auch sehr romantisch-sinnliche Szenen.

Angelica, der Engel der Liebe, wenn man den eingestreuten Verslein glauben darf, ist das Gegenbild zur kratzbürstigen Verlobten Livia, mit der Montalbano immer wieder zofft. Kein Wunder also, wenn sich der 58-jährige Ermittler unvermittelt zum Lustgreis wandelt und sich wie der 16-jährige Pennäler fühlt, der sich das Sehnsuchtsbild der Liebe aufgebaut hat.

Es ist diese Gegenüberstellung von naivem Liebesbegriff der Jugend und desillusionierter Liebes-Gegenwart heute, die für einen kritischen Kontrast sorgt. Denn Mister X rächt und beendet ein anhaltendes Unrecht, das genau im Missbrauch von Liebe besteht. Und jetzt muss auch Montalbano beweisen, ob er Angelica genügend liebt, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren – oder ob er sie hängen lässt.

Die Zutaten und Wendungen des Plot weisen zahlreiche Parallelen zu den Krimis „Tage des Zweifels“ – Montalbano liebt die Offizierin Laura vergeblich – und „Das Spiel des Poeten“ auf, wo es ebenfalls einen Kiebitz gibt, der versucht, dem Ermittler in die Karten zu schauen, wie es Angelica tut. Auch ist „Das Lächeln“ nicht gerade der erste Krimi, in dem eine schöne junge Frau dem Commissario den Kopf verdreht. Das halbe Dutzend dürfte bereits voll sein.

Trotz dieser unübersehbaren Ähnlichkeiten mit anderen Montalbano-Krimis (die zu einem Punktabzug führen) fand ich den Krimi in seiner ironisierten Romantik sehr unterhaltsam. In einem neuen Aspekt zeigt sich der neunzigjährige Autor der Gegenwart aufgeschlossen. Er lässt Catarella am Computer Spiele spielen, die keineswegs dumm sind. Vielmehr liefert dieses PC-Spiele, an dem zwei Paare beteiligt sind, Montalbano den entscheidenden Hinweis, der bei ihm den rettenden Geistesblitz auslöst.

Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Info: Il sorriso di Angelica, 2010
Aus dem Italienischen von Rita Seuß & Walter Kögler
ISBN-13: 978-3785725443
www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 3,67 von 5)