Andrea Camilleri – Die Flügel der Sphinx. Commissario Montalbano sehnt sich nach der Leichtigkeit des Seins

Montalbano als großer Zampano und Schauspieler

Der Untertitel dieses Romans lautet „Commissario Montalbano sehnt sich nach der Leichtigkeit des Seins“. Eine junge Russin ist ermordet und auf eine wilde Müllkippe geworfen worden. Auf ihrer linken Schulter ist ein Schmetterling eintätowiert, genau wie bei vier anderen jungen Russinnen auf der Stadt Schelkowo. Sie waren bzw. sind Schützlinge des halbkirchlichen Hilfsvereins „Der gute Wille“, der „gefallene Mädchen“ retten will, indem er sie als Dienstmädchen vermittelt. Doch was steckt dahinter, fragt sich Commissario Salvo Montalbano, dass die junge, schöne Russin dran glauben musste?

Der Autor

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizialianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit vielen Jahren liiert ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

Die Commissario-Montalbano-Krimis:

– [Die Form des Wassers 306
– [Der Hund aus Terrakotta 315
– [Der Dieb der süßen Dinge 3534
– [Die Stimme der Violine 321
– Das Paradies der kleinen Sünder (Kurzkrimis)
– Die Nacht des einsamen Träumers (Kurzkrimis)
– [Das Spiel des Patriarchen 312
– [Der Kavalier der späten Stunde 670
– [Die Rache des schönen Geschlechts 659 (Kurzkrimis)
– [Das kalte Lächeln des Meeres 594
– [Der falsche Liebreiz der Vergeltung 1812 (Kurzkrimis)
– [Die Passion des stillen Rächers 3138
– [Die dunkle Wahrheit des Mondes 4302
– [Die schwarze Seele des Sommers 5474

Außerdem auf |Buchwurm.info|: [„Die Pension Eva“ 4971

Handlung

Vor 2000 Jahren muss der Salsetto mal ein stolzer Fluss gewesen sein, ist aber heute nicht mal mehr ein Rinnsal. Vielmehr wird er als wilde Müllkippe missbraucht – jetzt auch, unter anderem, für eine Leiche. Montalbano will sie gar nicht sehen, sondern lässt sie sich von Fazio und Mimi Augello, seinen Assis, beschreiben: junge Frau, grazil, nackt, mit der Tätowierung eines Schmetterlings auf dem linken Schulterblatt, aber leider völlig ohne Gesicht. Der Mörder hat es ihr weggeschossen. Sauerei, denkt der Kommissar. Somit gibt es keinen Hinweis auf ihre Identität. Auch die Autopsie ergibt nichts in dieser Hinsicht, nur der Schmetterling lässt sich (über mehrere Umwege) klären: eine Sphinx. Aha.

In dieser Sache – neben vielen anderen Sachen wie einer Scheinentführung – kommt Montalbano erst weiter, als er seine frühere Freundin Ingrid Sjoström wiedertrifft. Sie hat jetzt viel Geld, aber ihr Mann ist ständig in Rom, weshalb sie sich mit Liebhabern tröstet. Und jetzt ist ihr auch noch die Haushaltshilfe weggelaufen, eine Russin namens Irina. Spurlos verschwunden, ist es denn die Möglichkeit? Und natürlich mit Schmuck im Wert von 400.000 Euros.

Weil der Kommissar seinen befreundeten Rundfunk-Journalisten Zito bei Retelibera über diesen Fall informiert, melden sich schon bald Bürger, die helfen wollen. Nur ein alter Mann ist interessant: Auch ihm ist eine russische Helferin Knall auf Fall verschwunden, allerdings ohne Diebstahl. Die Süße hieß Katia und trug ebenfalls ein Schmetterlingstattoo auf der linken Schulter. Und sie telefonierte einmal mit einer Sonia. Jetzt sind es schon drei Russinnen. Das ist kein Zufall mehr. Fazio und Augello stimmen zu, beeindruckt von der Kombinationsgabe ihres Chefs.

Ingrids Verwalter stellte Irina, aber auf Vermittlung des Dorfgeistlichen. Der wiederum erhielt seine Empfehlung von einer Diözesan-Organisation namens „Der Gute Wille“, die, auf der weltlichen Seite, von einem Cavaliere Guglielmo Piro geleitet wird. Dieser alte Kerl ist Montalbano auf Anhieb unsympathisch. Er tut so scheinheilig. Sagt, er vermittle die Mädchen, um sie vor der Prostitution zu retten, doch er kassiert jährlich für jede pro Nase 292.000 Euro Zuschuss von den Behörden. Eine lukrative Nächstenhilfe, fürwahr. Der Werber für die Mädchen, ein gewisser Tommaso Lapis, ist unauffindbar.

Da die Leiche im Salsetto den Farbstoff Purpurin unter den Fingernägel aufwies, lässt er erstmal alle Möbelwerkstätten und Restauratoren abklappern – Fehlanzeige. Etwas verstörend wirkt sich der Anruf seines Chefs, des Questore, aus: Was ihm, Montalbano, eigentlich einfalle? Ob es ihm noch gut gehe? Der Kommissar grübelt über die Liste seiner Verfehlungen, welche wohl am ehesten in Frage käme, bis sich der Signore Questore dazu herablässt, auf den gewissen Piro zu sprechen zu kommen. Endlich fällt der Groschen. Offenbar verfügt dieser zwielichtige Piro über eine Menge bester Kontakte in Verwaltung und Politik. Der Kommissar bittet in aller Gemütsruhe seinen Kollegen di Nardo um Übernahme des Falles Piro und widmet sich wieder dem Purpurin.

Erst als er im Fernsehen (oder war’s das Radio?) von einem abgefackelten Farbengeschäft im Nachbarort hört, beginnt sein Unterbewusstsein zu arbeiten. Schließlich: heureka! Wo gäbe es mehr Purpurin als direkt an der Quelle, im Farbengeschäft? Dumm nur, dass der Besitzer des selbigen, Signore Morabito, alles abstreitet: Es müsse Brandstiftung gewesen sein, von der Mafia wohl, die Schutzgeld erpressen wolle. Aber Montalbano merkt gleich, dass hier etwas oberfaul ist: Morabito legt sich doch nicht mit der Mafia an. Zusammen mit di Nardo, Fazio und Augello wirft er sich mit Gusto in eine aufwändige Inszenierung bei der Befragung dieses armen Sünders – und erntet weit mehr als das gewünschte Ergebnis …

Mein Eindruck

Wie schon die Warnung des Questore, eines kleinen Polizeipräsidenten, an den Kommissar deutlich macht: Es geht hier um ein heißes Eisen. Junge Frauen aus der Ukraine oder Russland, die in der Heimat vor dem wirtschaftlichen Aus stehen, lassen sich von einer Agentur ins Ausland vermitteln, wo sie angeblich ehrliche Arbeit verrichten sollen. Doch die Agentur kassiert eine stattliche Vermittlungsgebühr, die die Mädchen erst einmal durch Prostitution abarbeiten müssen. Und wenn sie sich weigern, droht man ihnen, dass ihrer Familie etwas zustoßen könnte. Es ist das Übliche und leider viel zu weit verbreitete Schema von Schlepperei und Sklaverei, das sich überall auf der Welt findet.

Dieses Schema aufzugreifen, ist dem Autor bereits mehrmals ein Anliegen gewesen. Und deshalb wäre sein neuester Roman nichts wirklich Aufregendes. Doch nun kommt Faktor B hinzu: „Der Gute Wille“, jene angeblich christlichen Zielen verpflichtete Laienorganisation, die sich mit dem Segen der römisch-katholischen Kirche, aber für einen erklecklichen Profit um das Seelenwohl dieser „gefallenen Mädchen“ kümmern will.

Doch warum haben dann die vier Mädchen, um die es hier geht, Juwelen gestohlen und sich als Diebe betätigt, fragt sich Montalbano. Die Kirche hat es wohl ebenso wenig nötig, Diebesgut zu verhökern wie der feine Herr Piro, oder? Wie sich herausstellt, ist der Werber der Mädchen, Tommaso Lapis, ein Mitglied der Mafia: Er hat die Frauen unter Täuschungen gezwungen, für ihn zu stehlen, doch nur Katia weigerte sich. Er hat eine von ihnen, Zinaida, dazu veranlasst, in ein Farbengeschäft einzubrechen – nun, das ging gründlich schief.

Dass die katholische Kirche und angeblich wohltätige Laienorganisationen sich von der Mafia unterwandern lassen, gibt genügend Anlass zur Besorgnis, um das Thema „Moderner Sklavenhandel“ zu diskutieren. Wenn sich die um das Seelenwohl ihrer Schäfchen angeblich so bemühten Organisationen von Verbrechern missbrauchen lassen, so wird dies zu einem schnellen Ende ihres guten Rufes und dann auch ihrer Tätigkeit führen.

Der Autor greift die Kirche nicht an. Er prangert vielmehr die Profitgier der unter ihrem Deckmantel und mit ihrem Segen tätigen Laienorganisation an, sie handle nicht nur zum Zwecke des Profits, sondern arbeite auch mit Verbrechern zusammen.

Mein Leseerlebnis

Wie schon im letzten Krimi „Die schwarze Seele des Sommers“ wusste ich lange nicht, wohin der Hase läuft. Der Commissario scheint nämlich mehr um sein leibliches Wohl besorgt zu sein und sich um seine Dauergeliebte Livia aus Genua Gedanken zu machen, als sich um den Fall der Frauenleiche zu bemühen. Aber wozu hat er denn seine Assis, allen voran der schusselige, schwerhörige und einfältige Catarella, ausgerechnet sein Telefonist? Diese Standardfigur bei Camilleri soll wohl für volksnahen Humor sorgen, doch ich finde ihn nach über einem Dutzend Krimis etwas nervend.

Nun kann man schon mal hinnehmen, dass sich ein Autor dem eigentlichen Fall in Form einer Spirale nähert, und das scheint diesmal auch der Fall zu sein. Schließlich muss es dem Autor nicht bloß um einen Fall zu tun sein, sondern um die Darstellung des diesen Fall verursachenden Gesellschaft, also um die permanente Brutstätte. Zum Glück tut er dies nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern wie stets in unterhaltsamen Dialogen, die man sich auch als filmische oder theatralische Szenen vorstellen kann.

Einsamer Höhepunkt ist und bleibt im vorliegenden Band das „Verhör“ Morabitos, jenes angeblichen Unschuldslamms, das es offenbar doch faustdick hinter den Ohren hat. Montalbano zieht alle Register, flunkert, dass sich die Balken biegen, malt grässliche Szenarien aus und lässt sich von seinem Assi Fazio effektvoll sekundieren. Hier können Sätze wie Pfeile wirken. Schließlich fällt das bedauernswerte Opfer nicht bloß vom Stuhl, sondern sogar in schmerzvolle Ohnmacht. Montalbano, der große Zampano – das hätte ich ihm nicht zugetraut.

Die andere Seite des Commissario ist seine Empfindsamkeit gegenüber den wahren Schrecken auf der persönlichen Ebene, was sich besonders in seinem einfühlsamen Gespräch mit der Russin Katia zeigt. Der Autor weist in seiner Danksagung darauf hin, dass er solche Details aus den Erzählungen einer Bekannten entnommen und umgeformt hat, dass der Anlass aber wohl ein Zeitungsartikel war.

Der Schluss des Romans gleich einem Sprint auf der Zielgeraden. Montalbano denkt mit dem Herzen an die ankommende Livia, die er abholen will, mit dem Kopf aber muss er sich mit der Abwicklung des Mordfalls und der Scheinentführung befassen. Obwohl zerrissen und von Gallo in Relkordzeit zum Flughafen gefahren, gelingt ihm beides. Bravo, Salvo! Du hast es mal wieder geschafft – aber nur in letzter Sekunde.

Die Übersetzung

Die Übersetzung mag einwandfrei sein, aber sie wartet mit einigen unbekannten Ausdrücken auf, die hoffentlich so auch im Original standen. Auf Seite 103 ist die Rede von einer „Diozösan-Organisation“. Da es das Wort „Diozöse“ nicht gibt, handelt es (hoffentlich) um eine Verballhornung des Wortes „Diözese“. „Fazio sah ihn mit Mameluckenblick an“, heißt es auf Seite 185. Eine Definition wird uns nicht geliefert. Das war schon im Vorgängerband so.

Auch hier kommt das Verb „spinxen“ vor, und es scheint mit dem „spicken“ verwandt zu sein, das in „Spickzettel“ vorkommt. Auf Seite 231 setzte sich in der Form „Montalbono“ wohl das Unterbewusstsein des Übersetzers durch: Montalbano = gut = bono. Auf Seite 250 will er uns weismachen, dass „der Verfemte“ (der Geächtete, für vogelfrei Erklärte) mit H geschrieben werde, nämlich der „Verfehmte“. Ein Blick in den |DUDEN| hätte schnell Klarheit verschafft.

Unterm Strich

Ich habe den Krimi in nur drei Tagen gelesen, denn er besteht fast ausschließlich aus Dialogen. Die Szenen wirken wir fürs Theater oder Fernsehen geschrieben, inklusive des komischen Parts, den Catarella, Montalbanos Telefonist, sowie der unglückselige Ladenbesitzer und Farbenhändler Morabito zu spielen haben. Die Commedia dell’arte ist hier nicht weit entfernt.

Von Subtilität ist wenig zu finden, außer vielleicht in der Darstellung der Russinnen, also der Opfer. Sie tauchen stets nur in Berichten auf und leibhaftig erst ganz am Schluss, so als zolle ihnen der Autor damit größten Respekt. Das fand ich angemessen, denn alles andere wäre Voyeurismus und eine weitere Form der Ausbeutung gewesen.

Lange muss der Leser auf die Lösung des Falls warten, doch sie gelingt in einer spektakulären Szene, in der sich Montalbano als großer Zampano und Schauspieler erweist. Der Rest gilt dem anderen Fall und der Lösung diverser Rätsel im Fall der Russinnen. Erst ganz zum Schluss klärt uns Katia über ihr trauriges Schicksal auf, das sie mit Millionen anderen europäischen Sklavinnen – nach E. Benjamin Skinners Definition – teilen muss. Und hier erfahren wir dann auch, was es mit den „Flügeln der Sphinx“ auf sich hat.

Originaltitel: Le ali della sfinge, 2006
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
271 Seiten, gebunden
ISBN-13: 9783785723784

www.luebbe.de

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