Norbert Sternmut – Lichtpausen. Gedichte

Zum Sirius: Folge deinem Leitstern!

Nach dem Gedichtband „Sprachschatten“ folgt nun „Lichtpausen“, mit einem Titelmotiv, das Musikliebhaber von Pink Floyds LP „Wish You Were Here“ (auf der Innenhülle) kennen. Weiterhin hilt Sternmuts Bestreben der „Beschreibung des bleibenden Fiaskos innerhalb der Struktur des Unbegreiflichen.“ Es „bleibt eine Spannung zwischen den Polen des erkennenden Ichs und dessen, was erkannt wird, der letale Zustand der Welt.“

Man sollte sich von diesem existentialistischen Geschwurbel nicht abschrecken lassen: Die Liebe hat hier, wie überall im späteren Sternmut, bereits einen festen Ankerplatz, um den sich die Gestirne drehen.

Der Autor

Norbert Sternmut (= Norbert Schmid), geboren 1958, lebt bei Stuttgart und arbeitet als Sozialpädagoge. Der Theaterautor, Rezensent, Maler, Lyriker und Romanschreiber erhielt Stipendien vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Gerlingen. Er veröffentlichte zwanzig Einzeltitel seit 1980 und ist in über 50 Anthologien vertreten. Als Maler trat er mit 75 Ausstellungen an die Öffentlichkeit. Der gelernte Werkzeugmacher wurde nach einem Studium zwischen 1982 und 87 Sozialpädagoge und ist seit 1993 in der Bildungsarbeit im Bildungszentrum Stuttgart tätig. Mehr Infos gibt’s auf seiner Website www.sternmut.de.

Seit 1980 hat Sternmut eine ganze Reihe von Lyrikbänden veröffentlicht, darunter die von mir vorgestellten Bücher „Photofinish“, „Triebwerk“ und „Absolut, du“. In dem Band „88 Rätsel zur Unendlichkeit“ arbeitete er mit dem Grafiker Volker Funke zusammen: Die Rebus-artigen Rätselgrafiken harmonierten mit den frei assoziierenden Gedichttexten Sternmuts. Eine Webseite ergänzte das multimediale Werk auf der Zeit angemessene Weise.

Auf der Prosaseite in eine Romantrilogie hervorzuheben, zu der „Der Tote im Park“ (1999), „Marlies“ (2003) und ein Roman mit dem Titel „Norman“ gehören. Eine Reihe von z.T. phantastischen Erzählungen erschienen in dem Band „Das Zeitmesser“ (Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 1997).

Inhalt

Der Band eröffnet mit einer Todesanzeige, die bittet, vom Zuschicken von Beileidsbekundungen abzusehen: „Statt Karten“ zeigt die Szene, was vom Leben einer Person übrigblieb – ein Namensschild am roten Leichensack. Das Laken trägt einen Kaffeefleck. In „Leichnam“ wird der Körper bis aufs letzte Gramm gewogen und ausgeweidet. Wie sollen Musik und Literatur darüber sprechen, wenn doch offensichtlich ist, dass die Leichenkiste ein Rettungsboot ist – wie in dem Seemannslied: „Sechzehn Mann auf des toten Manns Kiste, joho!“.

Das positive, helle Gegenbild zu diesen düsteren Bildern des Todes und Verfalls ist stets das Zusammensein mit einem offenen, belebenden Du. Es ist die Anima, die ihm Atem einhaucht (S.8.), aber auch Eva, die einen Apfel schält – während er Michelangelo betrachtet. Das Paar ist präsent, im Hier, im Jetzt, und die Welt dreht sich um es. Wenn es miteinander schläft, holt es den Mond vom Himmel: „ausgebreitet, in wechselnder Stellung, ins Licht verknotet.“ (S.29) Stets aber ist diese Erfüllung gekoppelt mit der Sehnsucht: „[Du] sprichst von Nähe/Gehst in die Ferne.“ (S. 17)

„Lichtpausen“

Eine Pause ohne Licht könnte beispielsweise die Nacht sein. Nur die Sterne wagen sich hervor. Die Rede ist daher vom „Endstern“ (= Tod), vom „Hundsstern“ (= Sirius, dazu später mehr), von der „Hundsnacht“. Biblische Chiffren bestücken den vier Seiten langen Text dieses zentralen Gedichts. Vom „Sternkalb“ ist ebenso die Rede, von „verlassenen Schafen“ und jemanden, der „den ersten Stein verwirft“, als ginge es hier um Maria Magdalena.

Natürlich darf auch der (brennende) Dornbusch ebenso wenig fehlen wie „das Wort zum Sonntag“. Beide sind heil-los, wenn sie auftreten. Das Heil, so legen weitere Zeilen nahe, kommt aus dem „Licht ohne Pausen“. Recht unerwartet tritt ein Heiler auf: Wer für die Stummen spricht / die Blinden sieht // Nicht flieht vor der Hyäne der Wahrheit / Nicht wetzt / Die dunklen Messer der Hinterlist // Der ist das Licht ohne Pause.“

Diese Figur ist nicht eine strahlende Jesus-Gestalt, sondern das lyrische Ich selbst. „Und wer mit den Sternen kämpft / Der reißt die Eingeweide / In den Schnee, färbt ihn blutrot. // Und wer dem Endstern / die Zähne zeigt / In der Nacht der Wahrheit // Der kann sich nicht verstecken…“ Und mit Martin Luther heißt es da: „Der ist so, kann nicht anders / Der weiß vom Menschengang // Geht dahin, kam daher.“

SIRIUS,

das Hauptstück am Ende dieses schmalen Bandes, ist eine 13 Seiten lange Fuge aus zwölf Gesängen.

Es ist Sommer, die Hundstage sind angebrochen, und der Dichter ruft den Hundsstern an: Sirius. „Sirius / Gib deine Zeichen frei / Ungerufen für die Zahllosen / dieser Stunde . Gib frei / und leuchte mit Licht in die Asche.“ Kurz vor dieser Anrufung taucht unerwartet der Name einer zentralen biblischen Figur auf: Joshua ((https://de.wikipedia.org/wiki/Josua,_der_Sohn_Nuns#)) ist Mose Assistent und Nachfolger während des Exodus und v.a. während der Eroberung des Landes Kanaan.

Bei der Suche nach einem Zusammenhang stößt man in der englischen Wikipedia ((https://en.wikipedia.org/wiki/Joshua) auf den Vermerk, dass Joshua (der vermutlich nie existierte) stets den beistand Jahwes auf seiner Seite wusste. Einmal sah er sich einer Armee der Amoriter gegenüber und verlangte von Gott, dass Sonne und Mond stillstehen mögen, damit er die Schlacht bei Tageslicht beenden könne. Gott erhörte ihn und versetzte mit diesem Phänomen die Feinde in Panik – und schlug sie in die Flucht. (Joshua 10:14).

Schon zu Beginn ist von „Kommen und Gehen“ die Rede, und „wir wollen offen sein“, aber die bange Frage lautet: „Wohin?“ Zuerst versichert man sich des Eindrucks, dass es so nicht bleiben kann, denn hier gibt es nur Asche, Gift, Massengräber, kurzum: „Endlandschaft“. Der Weg führt „ins Weglose des Zeitgartens“, in die Ewigkeit. In Text Nr. 6, also zur Halbzeit, wird Sirius erneut angerufen. „Schütt‘ ein Licht unter die Augen“, und um Erleuchtung wird gebeten, um Licht und Helligkeit. Zugleich erfolgt eine Drohung in Text 7: „Und wer den Dienern der Nacht / noch Schatten spendet, / der soll erkalten unter ihrem Zeichen…“ Na, wenn das nicht nach einem echten Joshua klingt!

In Text 8 tritt ein Du auf, das ein Lichtträger ist: „Bezeichne die schwärzere Nacht / mit Lichtschein, pausenlos (ein Verweis auf „Lichtpausen“). Diesem Lichtbringer „wollen wir folgen“. Erneut taucht Sirius in Nr. 9 auf, als Lichtquelle über einem Seelenfeld. Hier sammelt eine „schriftblinde“ weiße Frau „Agrumen“ auf: ein „Himmel / aus Menschenschrift“. Erneut die Drohung: „Und wer mit den Sternen kämpft / der verflucht heimlich den Stern / der in den Wunden rührt / Küsst die Rose des Untergangs / mit glühenden Lippen.“ Aber dieser Vers steht nur in Klammern, herabgestuft auf eine Sekundärebene.

Mittlerweile ist es November geworden, und das Ich irrt umher. „Wer aber gibt uns den Schlaf / zwischen zwei Schlachten, // Die leichtere Minute / im Zeitensturm? // Wer trägt uns hinaus ins Licht?“ Die Schlachten gehören ebenfalls in den Joshua-Kontext des Exodus.

Das Scheitern ist dennoch unausweichlich, wie Text 11 belegt. „Du warst allein, / als sie das Tier abführten, vereisten die offene Wunde / mit frommen Sprüchen. / Als sie ins Rosenblatt schlugen / mit Sicheln. Sprachen vom Lauf der Zeit, / den historischen Stunden“ , sowie von Wachstum und Fortschritt. Hier ist also etwas unter die Räder gekommen: Glaube, Liebe und zu guter Letzt auch Hoffnung. Es fällt auf, dass das Ich allein ist, nachdem es sein Du und seinen Leitstern verloren hat. Was bleibt? „Ein Schlag /und die Verwüstung der Zeichen“, kurzum: Lichtpausen. „Es wird Zeit / für übliche zwei Meter“, also für das Grab. Das „Wir“ hat verloren, denn „in einem Zeitraum / kamen, gingen / [wir] aus unserer Mitte.“ Am Schluss bleiben ohne den Leitstern Fremdheit und Orientierungslosigkeit.

Mein Eindruck

Die Themen sind in diesem relativ frühen Gedichtband bereits deutlich herausgearbeitet, denn Sternmut hat sie großenteils von seinem „prägenden“ Vorbild Paul Celan übernommen: „Celan war eine lyrische Grunderfahrung für mich , eine Art Prägung, hat sicherlich meinen Stil beeinflusst“, sagte Sternmut 2003 zum Schreiber dieser Zeilen. Und der Band „Sprachschatten“ war im Grunde Celans Schatten.“ Der Grund ist die innere Verbindung: „Er war so genau in der unfassbaren Weite – auch der Verzweiflung, insgesamt – in der Erfahrung eines Menschen – die zur Erfahrungsfähigkeit einer ganzen Menschheit herhalten konnte und kann.“

Themen

Dass Sternmut ein Anhänger der „Existenzphilosophie“ im allgemeinen und von Albert Camus im besonderen ist, merkt der Leser immer wieder. „Kam daher, ging dahin“ beschreibt das Geworfensein des modernen Menschen und seine Vergänglichkeit. Der Mensch muss daher nicht nur seine Bestimmung in den Widrigkeiten des Lebens suchen, sondern auch einen Sehnsuchtsort, an dem er zu Hause sein könnte – ein schier unerreichbares Ideal.

Immer wieder tauchen Todesbilder auf, wie sie bei einem Vorbild wie Celan zu erwarten sind. Zudem spielt es eine Rolle, dass der Autor schon mit zwanzig Jahren an Krebs erkrankte; das sein Freund Christoph Schlingensief an Krebs starb; dass sein Kollege Wolfgang Fienhold an Krebs starb – und viele mehr. Das wichtigste, was angesichts dieser reihenweisen Lebensvernichtung – dem „Seelenvergängnis“ (S. 31) – bleiben könnte, wäre die Sprache.

Mit der Sprache drängt (zumindest das lyrische) Ich das Unsagbare zurück. Das Unsagbare wird erstaunlicherweise immer umfangreicher, je mehr Maulkörbe die Öffentlichkeit ihren Diskursteilnehmern verpasst. Kürzlich wurde beispielsweise das Wort „Asyltourismus“ für tabu erklärt. So wie hierzulande die Leugnung des Holocaust unter Strafe steht, wurde kürzlich in Polen die bloße Erwähnung, Polen könnten am Holocaust beteiligt gewesen sein, mit Strafe belegt (was absurd ist, denn die Mehrzahl der KZs und Vernichtungslager lag auf polnischem Staatsgebiet).

Da der öffentliche sprachliche Diskurs die Erfahrungswirklichkeit der Zeitgenossen zu einem beträchtlichen Teil definiert, verzerrt sich die Wirklichkeit, bis sie zu einer fremden, weil mit der privaten Welt inkommensurablen Realität geworden wird. Der Bürger wird zum modernen Biedermeier. Um genau dies zu vermeiden, muss das lyrische Ich der zersplitterten Realität seine eigene Wirklichkeit entgegenstellen. Aber das geht nur mit einer Sprache, die ganz eigen ist. Das Risiko: unverständlich zu werden. Es muss eingegangen werden, mit dem Mut eines Sisyphos.

In „Sirius“, dem bei Sternmut üblichen Langgedicht, ist überraschend das Thema des Exodus, des Aufbruchs zu einem erhofften Land der Freiheit, deutlich. Von Joshua, Moses‘ Assistent und Nachfolger, und diversen Schlachten ist die Rede, mehrfach wird den Widersachern gedroht, als verfüge man über die entsprechende Autorität. Doch dies ist Wunschdenken (auf einer zweiten, herabgestuften sprachlichen Ebene) und versandet durch Zweifel in der Fremdheit und Orientierungslosigkeit. Der letzte Text schließt an den ersten an: Der Mensch macht einen finalen Abgang, sei es im Leichensack, sei es im Sarg.

Textbild

In „Lichtpausen“ muss man die Eigenprägungen noch mit der Lupe suchen. „Erdkelch“ beispielsweise, oder „Totenmulde“ = Grab). Auch die Punkte am Ende eines Satzes sowie die Kommata sind höchst konventionell. Hingegen finden sich bereits Zeilensprünge, Ellipsen und die typischen Phrasen in Klammern, die für Sternmut charakteristisch sind. Der Leser muss sich in die Leerstellen einbringen und dem lyrischen Ich auf andere Ebenen folgen.

Gerade die Rede in Klammern öffnet eine andere Ebene. Es sind mal Hintergedanken, mal Zweifel, häufig aber auch Leitmotive auf einer zweiten Ebene. Ähnlich, wie in einem Musikstück häufig auch eine zweite Stimme mitschwingt, sei es im Bass, sei es in der Oberstimme. J.S. Bach zu spielen, ohne seinen Begriff vom „Generalbass“ zu verstehen, wäre ziemlich witzlos – die Hälfte der Musik ginge buchstäblich „flöten“.

Schwächen

Wie schon eingangs erwähnt, wurde das Titelmotiv einfach bei Pink Floyd geklaut. Ein weiteres Ärgernis: Das Gedicht „Wechsel“ wurde einfach zweimal abgedruckt, auf den Seiten 23 und 24. Ich will dem Autor zugutehalten, dass diesen Fehler der Verlag verbockt hat. Die Druck- und Setztechnik war anno 1993/94 einfach nicht die allerbeste. Auch die Bindung ist suboptimal. Bei intensivem Gebrauch zerfällt das Buch in seine Bestandteile.

Unterm Strich

Von der physischen Erscheinungsweise des Buches mal abgesehen präsentiert Sternmut mit „Lichtpausen“ einige eindrucksvolle, weil eindrückliche Texte. Dazu gehören für mich in erster Linie das titelgebende Gedicht und der Zyklus „Sirius“. Die Existenzphilosophie à la Camus sowie der Einfluss von Paul Celans Dichtung und Hermann Hesses Roman „Steppenwolf“ sind nach Auskunft des Autors die gedanklichen Grundlagen der Lyrik in diesem Band. Der Einfluss der Liebe und eines Heilsversprechens verleihen den Texten positive, helle Impulse.

Ob sich Sternmut seit seinem Band „Sprachschatten“ (1989) weiterentwickelt hat, kann ich nicht beurteilen, da ich „Sprachschatten“ noch nicht kenne. Im Unterschied zum modernen Sprachausdruck ist das Schriftbild noch Konventionen wie dem Punkt am Satzende verhaftet. Das änderte sich schon in den folgenden Bänden. Man kann Sternmut stilistische Konsequenz nicht absprechen, ebenso wenig wie Konsequenz in der inhaltlichen Aussage.

Taschenbuch: 88 Seiten
Der Verlag Günther Dienelt, Schwandorf, hat keine Online-Präsenz.

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