Daniel Glattauer – Gut gegen Nordwind

Das Internet – heute ist es mehr als eine Datenautobahn, auf der wir uns an allen Abzweigungen Informationen abholen und auf der wir uns an Kreuzungen mit Menschen treffen. Das Internet ist zu einer riesigen, globalen Kontaktbörse geworden. Doch welche Konsequenzen können sich daraus ergeben, wenn man sich erst virtuell kennen lernt – und das viel zu gut? Wenn man vorher einen Berg von Erwartungen aufbaut? Davon erzählt Daniel Glattauer – und zwar in wunderbaren, einfühlsamen Worten, so viel sei jetzt schon vorweggenommen.

Lieber Leo …

Eigentlich möchte Emmi nur das Abonnement einer Zeitschrift kündigen, die sie für ihre Mutter bestellt hatte. Doch ein winziger falsche Buchstabe ist es, der sie mit Leo in Kontakt bringt, denn bei ihm landet ihre Anfrage bezüglich des Abos irrtümlich. Aus einer zufälligen E-Mail entwickelt sich ein steter Austausch von Nachrichten. Immer mehr fiebern die beiden der Nachricht des anderen entgegen. Die beiden begrüßen sich am Morgen, halten sich tagsüber auf dem Laufenden, tauschen ihre Gefühle aus und verabschieden sich allabendlich mit einer Mail, zu der sie das eine oder andere Glas Wein oder auch Whiskey konsumieren.

Zaghaft lernen die beiden sich besser kennen. Nur einmal treffen sie sich – unbekannterweise in einer überfüllten Bar, denn Leo möchte Emmi beweisen, dass er sie in einer Masse fremder Menschen erkennt, während sie ihn ganz sicher nicht erkennen wird. Und tatsächlich, Emmi hat hinterher keine Ahnung, wer Leo war. Enttäuscht ist sie dennoch, denn alle Singlemänner in der Bar waren ganz furchtbar. Leo dagegen hat drei unterschiedliche Emmis ausgemacht, die alle als seine E-Mailfreundin in Betracht kommen. Zudem hat er sich den Spaß gemacht, mit seiner gut aussehenden Schwester aufzutauchen, die seine Freundin gespielt hat – und als vermeintlich verliebter Kneipenbesucher hat Emmi ihn nicht wahrgenommen.

Über Monate hinweg tauschen Leo und Emmi Mails aus. Leo berichtet von seiner letzten unglücklichen Liebe, Emmi von ihrer glücklichen Ehe und den beiden Kindern, die ihr Mann mit in die Ehe gebracht hat. Doch immer deutlicher schwebt das mehr als nur virtuelle Gespenst der Liebe über ihren Köpfen. Der Reiz ist da, die Versuchung noch größer. Sollen die beiden sich treffen? Oder würde damit das gesamte Gefühlsgebäude in sich zusammenstürzen?

Ist es Liebe?

Durch einen Zufall lernen die beiden sich kennen. Hat hier das Schicksal eingegriffen? Man weiß es nicht. Nur langsam lernen Leo und Emmi sich besser kennen, auch wenn sie sich eher wenig aus ihrem Leben erzählen. Bis zum Schluss verschweigen die beiden einander ihr wahres Alter, vieles bleibt reine Spekulation. Jeder zeichnet sich ein Bild vom anderen, am Ende sprechen sie sich gegenseitig auf den Anrufbeantworter, um die Stimme des anderen zu hören. Doch immer mehr wird klar, dass alles auf ein Treffen hinauslaufen wird, hinauslaufen muss. Immer mehr drehen die Gespräche sich um dieses eine Treffen, das alles verändern könnte. Doch was darf das Treffen überhaupt verändern, wo Emmi doch glücklich (?) verheiratet ist? Für Leo ist klar, dass ein Treffen alles zerstören würde. Emmi könnte nie so perfekt sein wie das Bild, das er von ihr entworfen hat, aber auch er könnte nie an sein virtuelles Ich heranreichen:

„Wir starten von der Ziellinie weg, und es gibt nur eine Richtung: zurück. Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben. Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben! – Wir werden nach unserem ersten (und einzigen) Treffen ernüchtert auseinandergehen, träge, wie nach einem fetten Mahl, das uns nicht geschmeckt hat, dabei hatten wir uns ein Jahr mit Heißhunger darauf gefreut, hatten es Monate lang köcheln und brodeln lassen. Und dann? – Aus. Schluss. Gegessen.“

Und so nähern die beiden sich an, um sich gleich darauf voneinander zu entfernen. Sowohl Leo als auch Emmi wissen, dass sie mit dem Feuer spielen, dass sie ihr Glück aufs Spiel setzen, denn Emmi könnte ihren Mann verlieren und Leo ist blind für andere Frauen – denn welche sollte an seine virtuelle Emmi heranreichen?

Eine Last von Emotionen

Um Gefühle geht es in diesem kleinen, aber feinen Roman. Und zwar um die ganz großen. Es geht um die Liebe, die im virtuellen Leben entstanden ist. Eine Liebe, die sich zwei Menschen nicht eingestehen wollen. Eine Liebe, die nicht sein darf. Eine Liebe, die es in der Realität vielleicht auch gar nicht geben würde. Aber es ist eine Liebe, der sich beide nicht entziehen können.

„Ich denke viel an Sie, in der Früh, zu Mittag, am Abend, in der Nacht, in den Zeiten dazwischen und jeweils knapp davor und danach – und auch währenddessen.“

So schreibt es Leo seiner Emmi und drückt dabei kurz und knapp, aber doch unglaublich einfühlsam und romantisch seine Gefühle für seine große Unbekannte mit der Schuhgröße 37 aus. Einen Rückfall mit seiner Exfreundin Marlene gestattet sich Leo, auch wenn ihm klar ist, dass ihn im Moment nichts trennen kann von seiner Emmi. Keine Frau kann die Frau ersetzen, die ihm täglich, stündlich und manchmal gar sekündlich Nachrichten schickt. Nachrichten, die in sein Innerstes blicken und die Emmis wahre Gefühle nur selten verschleiern. In den Nachrichten an Leo kann Emmi sagen, was sie wirklich denkt und fühlt. Nur hier kann sie ihr wahres Ich zeigen, und dennoch werden ihr dermaßen starke Gefühle entgegengebracht – wie kann das sein?

„Mag da jemand schon die Emmi, die sich gar nicht bemüht, gut zu sein, die eher ihre sonst unterdrückten Schwächen auslebt, wie mag er dann erst die Emmi, wie sie wirklich lebt, weil sie weiß, dass man sich den anderen nur bedingt so zumuten kann, wie man ist, ein Bündel von Launen, ein Container von Selbstzweifel, eine Komposition der Unstimmigkeiten.“

Nähe ist die Überwindung von Distanz

Der Einstieg ist gewöhnungsbedürftig, denn das gesamte Buch ist in E-Mail-Form geschrieben. Doch nicht in einer Sprache, die sich neuerdings in der virtuellen Kommunikation einschleicht, sondern in wunderbaren Worten. Daniel Glattauer spielt mit den Worten, erfindet Metaphern und beweist in jeder neuen Mail sein unglaubliches Sprachgefühl. Fast auf jeder Seite findet sich ein zitierenswürdiger Ausspruch oder doch zumindest ein Satz, der mich schmunzeln lässt oder mir auf wunderbare Weise das Leben erklärt. Manchmal ist es eine winzige Wendung, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert:

„Und dann fällt kein Wort mehr, nur noch Gewand.“

und manchmal eine herrliche Metapher:

„Unter der Last Ihrer Emotionen würde ohnehin jedes Transportmittel einbrechen.“

Aber es ist nicht nur die einfühlsame Sprache, es sind nicht die wunderschönen Sätze, in denen ich mich verloren habe, sondern es ist auch Glattauers Spitzfindigkeit. Zielsicher analysiert er Worte, Situationen und Gefühle. Er bringt auf den Punkt, was sich wirklich hinter einem Wort verbirgt, oder durchschaut, woran eine große Frauenfreundschaft zerbrechen kann:

„Nähe ist nicht die Unterbrechung von Distanz, sondern ihre Überwindung. Spannung ist nicht der Mangel an Vollkommenem, sondern das stete Zusteuern darauf und das wiederholte Festhalten daran.“

„Ja, verdammt, sie leidet darunter, dass es mir einfach nicht mehr so schlecht geht wie ihr. Nicht mehr schlecht genug, um mich bei ihr auszuweinen. Unsere Freundschaft ist einseitig geworden: Früher hatten wir gemeinsame Themen, gemeinsame Ärgernisse, gemeinsame Feinde – zum Beispiel Männer und ihre Makel. Das war ergiebig, da hatten wir uns Bände zu erzählen, da konnten wir aus dem Vollen schöpfen. Seit Bernhard ist das anders geworden. Ich kann beim besten Willen nichts Schlechtes über ihn sagen. Es hat keinen Sinn, mich künstlich über Lappalien aufzuregen, nur um Mia ein Gefühl der Solidarität vorzutäuschen. Wir befinden uns eben in grundverschiedenen Lebenssituationen. Das ist das Problem zwischen Mia und mir.“

Nie wäre ich darauf gekommen, das fehlende Leid einer Freundin als Grund für das Zerbrechen einer Freundschaft anzuführen, doch ist es nicht wirklich so? Denn worüber unterhält man sich, wenn nur noch eine über Männer lästert und sich abfällig über deren Fehler äußert, während die andere glücklich liiert ist? Männer sind die Basis vieler Frauenfreundschaften – das stimmt! Doch woher weiß Daniel Glattauer das, wenn es nicht mal mir derart bewusst war?

Im Sturm erobert

Dieses Buch ist ein wahres Kleinod. Wenige Autoren schaffen es, mich mit ihren Worten und ihren Sätzen zu verzaubern, aber genau das ist Daniel Glattauer gelungen. Und ganz ehrlich: Man verliebt sich beim Lesen auch ein wenig in die Worte und vielleicht auch in den Autor. Wie muss jemand sein, der so fantastisch schreiben kann?

Auch wenn ich mit großer Skepsis an dieses Buch herangegangen bin, so habe ich es doch – zumindest nach einer vielleicht 30-seitigen Einlesephase – liebgewonnen. „Gut gegen Nordwind“ kann ich jedem empfehlen, der sich für Sprache interessiert, der ein Gefühl für Romantik hat und jedem, der sich selbst einmal in einen virtuellen Schreiber verliebt hat. Schon jetzt ist für mich klar: Mit diesem literarischen Schatz hat Daniel Glattauer seinen Platz in meinen Top Ten des Jahres ganz sicher erobert! Von diesem Buch sollte sich jeder verzaubern lassen!

Taschenbuch: 224 Seiten
Auflage: Juli 2008
www.danielglattauer.com
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