Birbæk (Birbaek), Michel – Nele & Paul

|“Aber ich kam nicht umhin festzustellen, dass die anderen Frauen in meinem Leben eine Urlaubsreise gewesen waren. Nele war meine Heimat. Sie war die Küste, an der ich später sitzen und übers Meer schauen wollte. Neleland.“|

Nele war und ist Pauls große Liebe. Er ist mit ihr zusammen aufgewachsen, hat mir ihr seine erste große Liebe erlebt – und seine einzige bis zum heutigen Tag. Nun ist er Anfang 30, einsam und wohnt immer noch bei seiner Mutter. Das tun eigentlich nur Serienmörder, wird Pauls Mutter nicht müde, ihm zu erklären.

Doch als Nele ihn vor neun Jahren verlassen hat, um in den USA als Model ihr Glück zu (ver)suchen, brach für Paul eine Welt zusammen. Er sprach mit niemandem und verlor bei einem Unfall nicht nur seinen Führerschein, sondern auch seinen Job im Außendienst bei der Polizei, da er schlappe zwei Promille Alkohol im Blut hatte.

Kurz: Pauls Leben ist keines, er ist nicht in seiner Heimat (dem Neleland), sondern auf einer Wanderschaft ohne Ziel. Keine Frau interessiert ihn oder kann ihm annähernd das geben, was Nele ihm bedeutet. Doch dann steht sie plötzlich vor ihm – sie ist zurück. Nach neun Jahren. Ihre einst langen Haare sind kurz geschnitten, ihre zarte Figur weiblicher geworden. Ihr Vater Hans ist gestorben, daher ist sie aus den USA zurückgekehrt. Doch dann gesteht sie Paul, dass sie bereits seit einigen Monaten wieder in Deutschland ist und in Köln gearbeitet hat, um das Pflegeheim ihres Vaters zu bezahlen.

All das trübt Pauls Wiedersehensfreude aber nicht, er ist einfach nur glücklich, seine große Liebe wieder an seiner Seite zu haben und endlich wieder angekommen zu sein in seinem Neleland. Die beiden erleben das pure Glück, auch wenn sie feststellen müssen, dass die Villa von Neles Vater völlig verwüstet und damit erst einmal unverkäuflich ist. Innerlich grinst Paul sich eins, denn die langwierige Renovierung wird Nele Wochen oder Monate an sich binden. So stürzt er sich mit Feuereifer in die Arbeit, unterstützt von seinem besten Freund und Kollegen Rokko, der zurzeit allerdings in einem haarigen Clinch mit seiner Lebensgefährtin Anita liegt.

Dennoch scheint alles perfekt, bis Paul eines abends unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt, denn plötzlich muss er erkennen, dass Nele nicht die Alte ist. Etwas verschweigt sie ihm. Was ist nur passiert?

_Die große Liebe_

Mit seinem hervorragenden und gefühlvollen Roman [„Beziehungswaise“ 3970 hat sich Michel Birbæk in mein Herz geschrieben. Das vorliegende Buch „Nele & Paul“ versprach, in die gleiche Kerbe zu schlagen. Und tatsächlich beginnt das Buch in gewohnter Manier: Paul ist verzweifelt und trauert seit neun Jahren seiner großen Liebe hinterher. Ihn interessieren nicht die Dorfschönheiten oder die Kontaktanzeigen, die ihm sein bester Kumpel Rokko ständig vorliest. Ihn interessiert nur Nele, sie ist sein Ein und Alles, und das nicht nur in einer verklärten Erinnerung. Denn als sie wieder vor ihm steht, scheint alles perfekt.

Hier zeichnet Michel Birbæk über lange Strecken ein perfektes Glück. Nele und Paul knüpfen dort an, wo sie vor neun Jahren aufhörten, und auch wenn sie eigene Erfahrungen gemacht haben, andere Partner hatten und reifer geworden sind, passen sie zusammen wie der Topf zum Deckel. Auch Pauls Mutter Mor, die nach einem Unfall nur noch ein Bein hat und nun keinen Mann mehr kennenlernt, der in ihr die liebenswerte Frau und nicht den Krüppel sieht, fasst wieder Mut und schmiedet Pläne für die Zukunft.

Alles ist perfekt. Bis Pauls heile Welt einen erneuten Riss bekommt. Von einem Moment auf den anderen erkennt er Nele nicht wieder. Sie ist völlig weggetreten, aggressiv und apathisch. Kurz darauf „erwacht“ sie aus diesem Zustand und kann sich an nichts erinnern. Was ist bloß los mit ihr? Ist etwas unvorstellbar Schlimmes geschehen? Oder ist sie gar schwer krank? Paul macht sich daran, es herauszufinden.

Das ist der Moment, in dem „Nele & Paul“ fast zu einem Krimi wird, denn auch der Leser will nun unbedingt wissen, was eigentlich geschehen ist, was Nele so sehr zusetzt. Leider zeichnet sich recht schnell ab, in welche Richtung es weitergeht. Und leider geht es in eine Richtung, die mir zu abgeschmackt vorkommt. Zu dramatisch ist das, was uns Birbæk hier präsentiert, zu weichgespült das, was darauf folgt. Seine Geschichte nimmt an diesem Punkt eine Wendung, die ich nicht stimmig fand und die mir nur konstruiert erschien, um dem perfekten Liebesglück mehr Authentizität zu verleihen. Schade, denn diese Wendung und das daraus unweigerlich folgende Buchende trübten meinen Gesamteindruck sehr. Eine solche Wendung würde besser zum ZDF-Sonntagabendfilm passen.

_Mehr als nur Worte_

Doch eine Stärke bringt Michel Birbæk mit, auf die er sich offensichtlich stets verlassen kann, nämlich sein Talent, Situationen und Gefühle in die passenden Worte zu verpacken. Birbæk findet treffende Metaphern, die mitunter ins Komische abdriften und dem Leser ein Lächeln ins Gesicht zaubern:

|“Als November merkte, dass niemand den Kühlschrank ansteuerte, trottete er zu seiner Decke und ließ sich dort fallen wie Andy Möller bei einem Windhauch.“|

Auch als Leserin hatte ich sofort Andy Möller vor Augen, der selbst dann filmreif zu Boden geht, wenn der gegnerische Spieler noch fünf Meter entfernt ist und eher eine Ahnung am Bildschirmrand. November ist übrigens der Hund von Paul – mit seinen unvergleichlich schönen Seidenohren, die Paul gern liebevoll streichelt.

Aber es sind nicht nur die Metaphern, sondern auch die herrlichen Übertreibungen, die Ausschmückungen, die uns Situationen genau vor Augen halten und mir immer wieder positiv aufgefallen sind:

|“Wäre Van Gogh anwesend gewesen, hätte er gemalt, Shakespeare hätte gedichtet, Rio komponiert. Aber es waren bloß Dorfbewohner da, und das Einzige an Kunst, das hier betrieben wurde, war der Versuch, nicht zu viel neben die Schüssel zu kotzen.“|

Zuvor beschrieb Birbæk die Anmut, in der Nele und ihre gute Freundin Anita eine Kneipe schmissen. Er beschreibt sie als zwei schöne Frauen, die vom Leben gezeichnet sind, die dadurch aber noch mehr Ausstrahlung besitzen und mit ihren Komplimenten die Kneipenbesucher zum Erröten bringen. Dennoch relativiert Birbæk die Schönheit des Momentes, da außer Paul niemandem auffällt, welch einzigartiges Schauspiel die beiden Frauen abliefern. Herrlich!

Aber auch schwarzer Humor ist Michel Birbæk nicht fremd, denn eine seiner Hauptfiguren ist Mor, die ihren Lebensmut nicht verliert, obwohl sie sich einsam fühlt und die Hoffnung aufgegeben hat, einen Mann kennenzulernen, der über das fehlende Bein hinwegsehen kann. Birbæks große Kunst ist es, diese Figur nie dramatisch zu zeichnen. Zwar ist Mor ebenfalls vom Schicksal schwer gezeichnet, ihr amputiertes Bein findet mindestens genauso oft Erwähnung wie der allgegenwärtige kleine Hund November, aber in keiner Situation tendiert man dazu, Mitleid für Mor aufzubringen, einfach deshalb, weil sie ihr Leben so gut meistert. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, streut Birbæk Sätze ein, die fast schon unverschämt schwarzhumorig sind, aber so perfekt zu ihm passen:

|“Sohn einer Behinderten schneidet sich aus Solidarität Bein ab! Gemeinsamer Schuhkauf möglich!“|

Michel Birbæks Sprache ist nie eintönig, nie langweilig. Einmal bringt er den Leser zum Lachen, dann aber auch wieder zum Träumen. Denn die Liebe steht in diesem Buch nun einmal im Vordergrund, und hierfür findet Michel Birbæk wunderbare Worte, die nicht ins Kitschige abdriften, sondern einfach nur eine tiefe Liebe zum Ausdruck bringen:

|“Sie sah mich einen Moment lang an, dann schloss sie die Augen, rollte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Ich lauschte in die Runde. Bis auf eine Amsel, die den Tag begrüßte, war nichts zu hören. Ich ließ meinen rechten Arm aus dem Bett hängen. November leckte mir die Hand. Ich suchte seine Seidenohren und streichelte sie. Links meine große Liebe, rechts meine tierische. Vielleicht würde ich für diese Nacht noch zu zahlen haben, aber was es auch kostete, nie würde mich jemand über den Preis jammern hören.“|

_Wie Topf und Deckel_

Im Mittelpunkt stehen, wie schon der Titel des Buches vermuten lässt, natürlich Nele und Paul. Die beiden verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die bis in die Kindheit der zwei zurückreicht, und vor allem eine ganz große Liebe, die auch nach neun Jahren Trennung nicht erloschen ist. Michel Birbæk zeichnet zwei sympathische Figuren, die in ihrem Leben viel erlebt haben und mitunter an ihrem Leid zu zerbrechen droh(t)en. Dadurch werden sie richtig menschlich, auch wenn die Liebe zueinander fast schon zu blütenweiß gewaschen scheint. Dennoch bleiben Paul und Nele stets greifbar und ihre Gefühle füreinander nachvollziehbar. Am Ende des Buches sind sie zu guten Freunden geworden, in deren Leben man einen kleinen Blick hineinwerfen durfte.

Fast noch besser gefallen hat mir aber Rokko – Pauls bester Freund, der mit ihm zusammen im Außendienst tätig war. Nach besagtem Unfall hat sich auch Rokko in den Innendienst zurückgezogen, um Paul Gesellschaft zu leisten. Eigentlich ist Rokko glücklich mit Anita liiert, doch dann zieht es ihn immer wieder zu anderen Frauen hin, was Anitas Geduld ziemlich strapaziert. Rokko ist ein Draufgängertyp mit einem schnellen Auto, der im Dienst nicht immer tut, was er soll. Dennoch verleiht Michel Birbæk ihm auch eine sehr gefühlsbetonte Seite.

Auch wenn November „nur“ ein kleiner Hund ist, lernen wir ihn fast so gut kennen wie die handelnden Personen. November ist allgegenwärtig. Er begleitet Paul beim Joggen, hechelt Mor in ihrem neuen schnellen Rollstuhl hinterher, er fängt all die Essensreste auf, die vom Tisch „fallen“ und er lässt sich immer wieder gerne die Seidenohren streicheln. Richtig schmunzeln musste ich, als Paul und Nele einen hohen Felsen erklimmen und von dort ins Wasser springen. Anschließend toben sie im Wasser und legen sich in Ufernähe auf eine Wiese, doch obwohl November den Weg nach unten kennt, bleibt er geduldig auf dem Felsen sitzen und wartet treu darauf, dass Paul ihn von dort abholt. Und auch wenn das einige Stunden dauern kann, so trägt November seinem Herrchen nichts nach, sondern begrüßt ihn freudig. So bekommt auch der kleine Hund richtig menschliche Züge.

_Abschied vom Neleland_

„Nele & Paul“ ist ein traumhaft schönes Buch, zumindest bis etwa hundert Seiten vor Schluss. Michel Birbæk erweckt seine Figuren zum Leben, sodass wir sie richtig liebgewinnen. Außerdem schafft er es mit seinen detaillierten Beschreibungen, uns in seine Geschichte hineinzuziehen. Es war wie ein Sog, der mich immer weiterlesen ließ – bis zu dem Punkt, an dem ich ahnte, wie sich alles auflösen würde. Nicht nur fand ich das Ende so vorhersehbar wie das Happy End bei Rosamunde Pilcher, sondern auch so abgeschmackt und kitschig, dass ich wirklich enttäuscht war. Dennoch ist „Nele & Paul“ ein echtes Wohlfühlbuch, das weit aus der Masse herausragt.

|397 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2350-0|
http://www.birbaek.de
http://www.luebbe.de

_Mehr von Michel Birbæk auf |Buchwurm.info|:_
[„Beziehungswaise“ 3970
[„Wenn das Leben ein Strand ist, sind Frauen das Mehr“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=714

Schreibe einen Kommentar