Neil Gaiman wird gemeinhin als Fantasy-Autor bezeichnet. Dieser Begriff weckt vage Assoziationen an Elfen und Drachen, an Zwerge, verzauberte Schwerter und tausend andere Dinge, die dem Klischee entsprechen. Wer den Begriff Fantasy jedoch nur in den engen Bahnen von „Harry Potter“, „Lord of the Rings“ und „Narnia“ denkt, wird überrascht sein, mit welch erfrischendem Geschick Gaiman dem Genre neues Leben einhaucht.
In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman „Anansi Boys“ kommen weder Elfen oder Drachen noch Zwerge oder Zauberschwerter vor. Das muss nicht sein, das haben andere schon vor ihm gemacht. Die Geschichte spielt im Hier und Jetzt, wobei Hier zu gleichen Teilen London und Florida meint, einen kurzen Abstecher auf eine Pazifik-Insel ausgenommen. Der phantastische Teil von „Anansi Boys“ ist eng mit der Realität verwoben. Der Leser bemerkt zunächst gar nicht unbedingt, dass er sich in einem Fantasy-Szenario befindet. Wenn Gaiman im ersten Kapitel seine Hauptfigur Charles Nancy vorstellt (den alle nur Fat Charlie nennen, obwohl er gar nicht dick ist) und ihn berichten lässt, wie und auf welche Weise sein Vater in einer Karaoke-Bar starb, erscheint alles zunächst nur etwas merkwürdig und eigenartig, vielleicht nur eine lange Reihe von Zufällen. Dennoch enthält der Text verborgene Hinweise, Bruchstücke eines großen Ganzen, das die Geschichte überwölbt.
Fat Charlies Vater starb singend, angetrunken, auf einer Bühne in einer Bar. Er brach plötzlich zusammen, fiel vornüber und landete mit der Nase in dem ausladenden Ausschnitt einer blonden Touristin, mit der er kurz zuvor noch geflirtet hatte. Das ist ein Abgang, der für ein ganzes Leben stehen kann. Als Fat Charlie auf der Beerdigung seines Vaters erfährt, dass er einen Bruder hat, beginnt für den Leser das Spiel mit der Wirklichkeit. Charlie, dessen psychische Konstitution hart auf die Probe gestellt wurde und dessen Leben wahrlich kein Zuckerschlecken ist, könnte in seiner Not einen Bruder erfunden haben, der genau so ist, wie er selbst schon immer sein wollte. Während Fat Charlie träge, geduldig und gutmütig ist, benimmt sich sein Bruder wie das genaue Gegenteil: Er ist frech, unruhig und clever. Irgendwie ähnelt er dem jungen Frank Sinatra. Dieser Bruder heißt Spider, und der Leser darf sich fragen, ob ihm da nur ein äußerst skurril-witziges Familientreffen vorgesetzt wird oder ob er Einblick in die schizophrene Innenwelt der Hauptfigur erhält.
Durch Spider gewinnt Fat Charlie Einblick in eine völlig neue Welt. Er lernt, dass die Dinge nicht statisch sind, was ihm neue Perspektiven auf seine Beziehung zu der gutherzig-langweiligen Rosie Noah eröffnet als auch auf seinen Job in dem Künstler-Büro des verschlagenen Grahame Coats. Lange hält Fat Charlie es jedoch mit Spider nicht aus. Er bringt Charlies Leben völlig durcheinander. Und Spider will nicht wieder von selbst verschwinden, sondern es sich im Leben seines Bruders richtig gemütlich machen. Ob es Charlie hilft, den Teufel mit Belzebub auszutreiben?
Hier und da wird behauptet, „Anansi Boys“ sei der Nachfolger von Gaimans Roman „American Gods“. Abgesehen von der Idee, dass einige alte Götter unerkannt unter den Menschen leben, haben beide Romane jedoch keinerlei Berührungspunkte. Hinzu kommt, dass die Geschichte von „Anansi Boys“ kompakter ist, irgendwie runder als „American Gods“, das größtenteils eine lockere Aneinanderreihung von Ereignissen war. Gaiman, der ein großartiger Erzähler von Kurzgeschichten ist, wie die Anthologie „Die Messerkönigin“ und die Comic-Serie „Sandman“ zeigen, wird geübter mit Romanen. Und er wird freundlicher, sanfter. „Anansi Boys“ ist hauptsächlich eine lustige Geschichte, bunt geschmückt mit originellen Details und witzigen Figuren. Mancher Leser, der beispielsweise „Niemalsland“ mochte, wird die dunklen, ekelhaften und gewalttätigen Nuancen vermissen, die Gaiman ebenso beherrscht wie das Humorvolle. Was Romane angeht, ist Gaiman also noch längst nicht am Ende seines Könnens angelangt. Sein nächster Roman möge bitte genau so geschlossen und rund sein wie „Anansi Boys“, aber bitte einen Schuss bösartiger, mit mehr Action und Gänsehaut. Und – hier eine Bitte an den deutschen Verleger – mit einer besseren Übersetzung. Die holpert nämlich leider viel zu oft bei der deutschen Fassung von „Anansi Boys“.
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