Andrea Camilleri – Die Tage des Zweifels. Commissario Montalbanos vierzehnter Fall

Späte Liebe & viel Wasser: Montalbano ermittelt im Hafen

Im Fahrwasser einer Luxusyacht wird ein Toter angespült. Die mondäne Schiffskapitänin wirkt ebenso mysteriös wie ihre Besatzung, und Commissario Montalbano hat ein ums andere Mal alle Not, seine Ermittlungen voranzutreiben.

Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb er so häufig am Hafen von Vigàta anzutreffen ist. Denn Salvo ist verliebt – und zwar in Laura, die Chefin der Hafenkommandantur. Doch wie sagt ers ihr? Wie sagt er’s seiner Verlobten Livia? Und wie soll er hinter das Geheimnis des Toten kommen, wenn alle Zeugen stumm sind wie die Fische? (Verlagsinfo)

Der Autor

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 – er wird heuer 90 – in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit Jahren verlobt ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

Ein paar Montalbano-Krimis:

– Die Form des Wassers
– Das Spiel des Patriarchen
– Der Hund aus Terrakotta
– Die Stimme der Violine
– Der Kavalier der späten Stunde
– Der Dieb der süßen Dinge
– Die Nacht des einsamen Träumers
– Das kalte Lächeln des Meeres
– Die dunkle Wahrheit des Mondes
– Die schwarze Seele des Sommers
Und viele weitere.

Handlung

Sturm über Vigata. Es gießt wie aus Kübeln, als sich Montalbano, erwacht aus unruhigen Träumen, morgens auf den Weg in die Stadt macht. Doch die Straße ist verstopft. Todesmutig verlässt der Commissario seinen Wagen und kämpft sich zum Kopf des Staus vor: Die Straße ist weggespült worden. Auf der Abbruchkante steht ein Auto, das von einer jungen Fahrerin besetzt ist. Stets der edle Ritter, bemüht sich Salvo, der verängstigten Fahrerin zu helfen. Als er sich als Polizist vorstellt, bekommt sie erst einen Niesanfall, doch dann lässt sie sich zu seinem Wagen lotsen. Zusammen fahren sie zurück zu seinem Haus in Marinella.

Vanna

Nachdem sie sich frischgemacht und die Sachen von Livia angezogen hat, stellt sie sich als Vanna Digiulio vor. Sie mag zwar jung sein, doch ihr Aussehen spricht Salvo überhaupt nicht an. Sie sagt, sie wolle zu der Yacht ihrer Tante, die heute im Hafen von Vigata einlaufen soll. Er lädt sie ein, sie hinzufahren. Doch im Hafen liegt keine Yacht. Wegen des Sturms dürfte sie verspätet eintreffen, daher lädt er die junge Frau ein, im trockenen Wartezimmer des Kommissariats ein Buch, das er ihr leiht, zu lesen.

Nachdem sich das Unwetter verzogen hat und die Sonne wieder vom sizilianischen Himmel lacht, verschwindet Vanna Digiulio spurlos, ohne ihre Nummer zu hinterlassen. Als Salvo sich neugierig nach der Yacht erkundigt, die nachmittags eintrifft, wird er stutzig: Sie heißt auch „Vanna“. Man ruft ihn an Bord, weil es einen Todesfall gegeben hat: Die Schiffseignerin Livia Giovannini erzählt, der Kapitän habe eine Leiche aus dem Hafenbecken gefischt. Von einer Vanna Digiulio, die ihre Nichte sein soll, hat diese Livia nie etwas gehört. Allmählich kommt sich Salvo verarscht vor. Was hat die angebliche „Vanna“ im Schilde geführt?

Mr. X

Der Tote ist ein Mann von etwa vierzig Jahren, ohne Papiere und mit zerschlagenem Gesicht, so dass eine Identifizierung praktisch unmöglich ist. Er trieb in einem Schlauchboot, nackt bis auf die Haut, den Elementen preisgegeben. Scharfe Beobachtung der Strömung zeigt dem Commissario, dass die Strömung ein Boot aus dem Hafenbecken hinaustreiben würde, bis sie auf die gegenläufige Strömung des Meeres treffen würde. Mehr oder weniger zwangsläufig musste die „Vanna“ auf das Schlauchboot mit seiner toten Fracht stoßen.

Laura

Die Yacht gehört offenbar einer rastlosen Welten- bzw. Ozeanbummlerin. Sie kommt aus Kreta und will eigentlich gar nicht nach Sizilien. Doch woher kam sie vorher? Um die Antwort auf diese Frage zu erhalten, begibt sich Montalbano zur Hafenmeisterin. Statt wie zuvor mit Leutnant Garrufo sprechen zu können, wird er an Leutnant Belladonna verwiesen.

LAURA Belladonna, wohlgemerkt – und was für eine Frau! Sehr weiblich, aber auch sehr schlau. Salvo ist hingerissen und auf dem besten Weg, sich in sie zu verlieben. Laura verrät ihm beim Abendessen – seine Haushälterin Adelina hat wieder etwas Köstliches gezaubert – dass die Yacht „Vanna“ eigentlich aus Südafrika kommt.

Während sich die beiden beim Wein näherkommen, erfährt Montalbano: Auf der Mannschaftsliste steht ein Mario Digiulio – von ihm hat die flunkernde Vanna also ihren Nachnamen geliehen. Sie muss die Mannschaft gekannt haben, als sie nach Vigata kam. Und da der Tote nicht erschlagen, sondern laut Forensik vergiftet wurde, muss dieser seinen Mörder gekannt haben. Das Netz der Beziehungen wird immer engmaschiger. Prost!

Undercover Lover

Montalbano fällt ein verwegener, wenn auch etwas anrüchiger Plan ein. Irgendwie muss die Yachteignerin Giovannini darüber ausgehorcht werden, was sie im Schilde führt. Sein Stellvertreter Mimì Augello ist gerade von seiner Familie „entbunden“ und lässt sich für Montalbanos Zwecke breitschlagen, um den Feind quasi auszuhorchen. Der Haken dabei ist allerdings, dass er es bei der Giovannini mit einer Tigerin zu tun bekäme, die bereits ihre gesamte Mannschaft vernascht hat. Augello ist überzeugt, er könne seinen Mann stehen, und nimmt den kitzligen Undercover-Auftrag an…

Mein Eindruck

Montalbano gerät schwer in die amouröse Bredouille, und als seine Lügen auffliegen, wird ihm der Fall auch noch entzogen. Die titelgebenden“Tage des Zweifels“ sind wahrhaftig angebrochen. Die Nebenhandlung um Mimì Augello, der sich als männliche Mata Hari betätigt, spiegeln lediglich reziprok, was mit Montalbano los ist. Wo Augello geradezu im Bett ausgequetscht wird, erlebt sein Chef hinsichtlich Laura Belladonnas den vollen Entzug: Laura ist sich ganz und gar nicht sicher, ob sie als junge Marineoffizierin der Hafenmeisterei etwas mit einem 58 Jahre alten Knacker von der Landpolizei anfangen will.

So bleibt für Salvo alles in zweifelnder Schwebe, und er tänzelt von einem schmerzhaften zwischenfall zum nächsten, als sei er die Yacht „Vanna“, die sich von Hafen zu Hafen schleppt. Vigata war ja gar nicht ihr Zielhafen, denn hier liegt bereits eine Yacht vor Anker, mit der sie kooperiert: die „Asso di cuori“ (Herz-Ass). Herzen wie Yachten befinden sich im Buch auf Irrwegen, und da Montalbanos Leute Vorwände finden, um die Yachten am Auslaufen zu hindern – ein weiterer Undercover-Auftrag für Augello – liegen die Yachten an der Leine.

Der Knoten platzt erst, als die ursprüngliche „Vanna Digiulio“ wieder auftaucht und in puncto Informationslage für klar Schiff sorgt. Sogar seinen Fall bekommt der Commissario zurück. Aber wird er auch Laura, seine Traumfrau, zurückbekommen – solange Livia nichts davon erfährt? Livia, seine lebenslange Fernbeziehung, ist eh schon misstrauisch, seit er einmal, als sie anrief, nach einer gewissen Laura gefragt hat.

Um die verfahrene Situation an der Liebes- und Diebesfront ein für alle Mal zu klären, beschließt Montalbano, zusammen mit Augello und Laura Belladona die beiden Yachten zu entern. Es kommt zu dramatischen Szenen, die mich vollauf für den relativen Leerlauf im Mittelteil, dem ich nur 3 von 5 Punkten gebe, entschädigt haben.

Die Übersetzung

Die Übersetzung liest sich sehr flüssig, was nicht zuletzt dem modernen Sprachgebrauch zu verdanken ist. „jemandem tierisch auf den Senkel gehen“ – das ist durchaus moderne deutsche Umgangssprache, wenn auch kein Szene-Jargon.

Auf S. 233 ist dem Korrektor allerdings ein Fehler durch die Lappen gegangen.
„Er [Mimì Augello] will also mit Ihnen fahren?“ fragte die Agentin erschrocken.
Die Agentin – ihre Name sei nicht verraten – redet mit Montalbano. So würde „Ihnen“ korrekt sein, wer gemeint wäre. Ist er aber nicht, wenn man den Kontext berücksichtigt. Im Kontext werden der Kapitän der „Vanna“ und die Schiffseignerin Giovannini erwähnt. Diese sind gemeint, und deshalb sollte „mit ihnen“ im Satz stehen.

Ein I groß oder klein geschrieben – es kann einen gewaltigen Unterschied ausmachen.

Unterm Strich

Unser Lieblings-Commissario mit der Vorliebe für herzhafte sizilianische Küche (es gibt dazu bei Lübbe einen kulinarischen Bildband) befindet sich offensichtlich schwer in der Midlife Crisis. Seine Hormone sprechen noch darauf an, als eine attraktive Frau Interesse an ihm bekundet, doch in den Zwiegesprächen mit seinem gnadenlosen Zweiten Ich (vulgo „Gewissen“) stellt sich heraus, dass er vor allem an sich denkt statt an ihren Vorteil. Diese Passagen sind zwar für lebenserfahrene Erwachsene recht interessant, dürften aber ein jüngeres Publikum weniger ansprechen.

Der psychologisch-emotionale Schlingerkurs findet sich auch in der Ermittlung wieder – und im Umgang Montalbanos mit seinen Kollegen und Vorgesetzten sowieso. Wie stets laviert sich der Ermittler so durch, als wäre er eine Yacht, die ein Geheimnis zu verbergen hätte. Und genau das ist ja bei den beiden Schiffen „Vanna“ und „Asso di cuori“ der Fall. Die Grübeleien Montalbanos beschäftigen sich auf spiralförmigem Kurs mit diesem Pärchen, als wäre es ein verdächtiges Liebespaar (das er gerne mit Laura initiieren würde). Zweifel kommen zu Schuldgefühlen, als wäre er Aschenbach in Thomas Manns „Tod in Venedig“.

Doch Montalbanos Zustand trügt. Sein Verstand kombiniert immer noch messerscharf. Erinnerungen an liebgewonnene Simenon-Romane und neueste Forensik-Erkenntnisse kommen zusammen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Die Ermittlung zieht europäische Kreise und – siehe da: Sogar die UNO mischt sich ein, um den dubiosen Machenschaften der „Vanna“- und „Asso“-Leute ein Ende zu bereiten. Wetten, dass Montalbano bald wieder im Fernsehen zu sehen sein wird?

Ein Action-Finale, wie es im James-Bond-Buche steht, führt die Wende herbei, die alle Rätsel löst. Aber wird Salvo auch Lauras Herz gewinnen? Das darf hier nicht verraten werden.

Taschenbuch: 256 Seiten
Info: L’età del dubbio, 2008
Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler
ISBN-13: 978-3404171477
www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)