Léo Malet – 120, rue de la Gare (Nestor Burma 1)

Die Spürnase des Zynikers: als Detektiv im Kriegs-Paris

November 1941, Stalag XB, Deutschland. Der Mann ohne Gedächtnis – genannt La Globule – flüstert Nestor Burma auf dem Totenbett eine geheimnisvolle Adresse zu: 120, rue de la Gare. Dezember 1941, Bahnhof Lyon-Perrache. 120, rue de la Gare, ruft der sterbende Bob Colomer seinem Chef zu. Was bedeutet diese geheimnisvolle Adresse? Und wird Nestor Burma – der Mann, der jedes Rätsel knackt – auch diesen Fall lösen? (Verlagsinfo)

Der Autor

Léo Malet (* 7. März 1909 in Montpellier, Département Hérault; † 3. März 1996 in Châtillon-sous-Bagneux, Département Hauts-de-Seine) war ein französischer Schriftsteller und Dichter. Er schrieb eine Reihe von Kriminalromanen um den Pariser Privatdetektiv Nestor Burma. 1943 erschien sein Roman 120, Rue de la Gare, der Beginn einer Reihe um den Pariser Privatdetektiv Nestor Burma, an der er die nächsten 30 Jahre schrieb. Vier Tage vor seinem 87. Geburtstag starb Léo Malet am 3. März 1996 in Châtillon und fand dort auch seine letzte Ruhestätte. (Quelle: Wikipedia)

Nestor Burma

Der Romanheld Nestor Burma kam 1927 aus Montpellier in die Hauptstadt und verkehrte zunächst in anarchistischen Kreisen. Später eröffnete er die Detektei Fiat Lux, die zur Zeit der Romane drei Angestellte hat: die in Nestor Burma hoffnungslos verliebte Sekretärin Hélène Chatelain sowie zwei Außendienstmitarbeiter, Roger Zavatter und Louis Réboul.

Nestor Burma befindet sich, wie viele Romandetektive, in ständiger Konkurrenz zur Polizei, speziell zu Kommissar Florimond Faroux. Der Ruf von Nestor Burma bei der Polizei ist jedoch gut und gelegentlich führt er auch verdeckte Aufträge für den Staat durch. Im Zweifelsfall agiert Nestor Burma allerdings allein und seine Fälle löst er vor allem durch Gespür und seine Kontakte, die sich über ganz Paris erstrecken. Er steht in der Tradition amerikanischer Detektive wie Sam Spade und Philip Marlowe, hat aber deutlich mehr Humor und sein Erscheinungsbild – Maßanzüge und exzentrische Pfeife – weist eine eigene Note aus.

Die ersten Romane entstanden Anfang der 1940er Jahre – noch ortsungebunden – vor dem Hintergrund des Krieges und der deutschen Besatzung. Erst zwischen 1954 und 1959 entstanden die meisten Romane der berühmten Serie Die neuen Geheimnisse von Paris mit der Idee, jede Folge in einem anderen Pariser Arrondissement spielen zu lassen.
Die vom Elster-Verlag herausgegebenen Übersetzungen enthalten einen sogenannten Nachgang, der in die vom rororo-Verlag danach erschienenen Taschenbücher übernommen wurde. Die von Peter Stephan geschriebenen ausführlichen Anhänge führen den Leser durch das im Roman behandelte Arrondissement, allerdings 30 Jahre später im stark veränderten Paris der 1980er Jahre.

Romane der Nestor-Burma-Reihe

• 1943 – Hundertzwanzig, Rue de la Gare (Cent vingt, rue de la Gare)
• 1945 – Nestor Burma in der Klemme (Nestor Burma contre C.Q.F.D.)
• 1945 – Blüten, Koks und blaues Blut (L’homme au sang bleu)
• 1946 – Solution au cimetière
• 1946 – Tödliche Pralinen (Nestor Burma et le monstre)
• 1947 – Das fünfte Verfahren (Le cinquième procédé)
• 1948 – Coliques de plomb
• 1949 – Applaus für eine Leiche (Gros plan du macchabée)
• 1949 – Ein Toter hat kein Konto (Le paletots sans manches)
• 1955 – Faux frère
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Die neuen Geheimnisse von Paris (Les Nouveaux Mystères de Paris)

• 1954 – Bilder bluten nicht • 1. Arrondissement (Le soleil naît derrière le Louvre)
• 1955 – Stoff für viele Leichen • 2. Arrondissement (Des kilomètres de linceuls)
• 1955 – Marais-Fieber • 3. Arrondissement (Fièvre au Marais)
• 1955 – Die Nächte von St. Germain • 6. Arrondissement (La Nuit de Saint-Germain-des-Prés oder Le sapin pousse dans les caves)
• 1955 – Die Ratten im Mäuseberg • 14. Arrondissement (Les Rats de Montsouris)
• 1956 – Wie steht mir der Tod? • 10. Arrondissement (M’as-tu vu en cadavre?)
• 1956 – Corrida auf den Champs-Élysées • 8. Arrondissement (Corrida aux Champs-Élysées)
• 1956 – Das stille Gold der alten Dame • 16. Arrondissement (Pas de bavards à la Muette)
• 1956 – Die Brücke im Nebel • 13. Arrondissement (Brouillard au pont de Tolbiac)
• 1957 – Ein Clochard mit schlechten Karten • 15. Arrondissement (Les Eaux troubles de Javel)
• 1957 – Stress um Strapse • 9. Arrondissement (Boulevard… ossements)
• 1957 – Kein Ticket für den Tod • 12. Arrondissement (Casse-pipe à la Nation)
• 1957 – Bambule am Boul‘ Mich‘ • 5. Arrondissement (Micmac moche au Boul’Mich)
• 1958 – Spur ins Ghetto • 4. Arrondissement (Du rébecca rue des Rosiers)
• 1959 – Wer einmal auf dem Friedhof liegt… • 17. Arrondissement (L’Envahissant Cadavre de la plaine Monceau)
o 2008: Sammelband bei Zweitausendeins: die Geschichten aus den Arr. 1, 2, 3, 6, 10, 12, 13, 14, 15 und 16, ohne die Stadtpläne und literarischen Nachgänge ISBN 3861508907
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• 1962 – Bei Rotlicht Mord (Nestor Burma en direct)
• 1967 – Wenn Tote schwarze Füße tragen (Nestor Burma revient au Bercail)
• 1968 – Im Schatten von Montmartre (Drôle d’épreuve pour Nestor Burma)
• 1969 – Der parfümierte Todeshauch (Un croque-mort nommé Nestor)
• 1970 – Tote reden kurze Sätze (Nestor Burma dans l’île)
• 1971 – Blutbad in Boulogne (Nestor Burma court la poupée)
• 1974 – Les neiges de Montmartre
• 1981 – La femme sans enfant
• 1981 – Le deuil en rouge
• 1982 – Une aventure inédite de Nestor Burma
• 1983 – Poste restante

Verfilmungen

• 1946 – 120, rue de la Gare
• 1977 – La Nuit de Saint-Germain-des-Prés – Regie: Bob Swaim, mit Michel Galabru in der Hauptrolle
• 1982 – Die Spürnase (Nestor Burma, détective de choc) – Regie: Jean-Luc Miesch
• 1991 – Nestor Burmas Abenteuer in Paris: Schweigen ist Gold (Pas de bavards à la muette) – Regie: Henri Helman
• 1992 – Nestor Burmas Abenteuer in Paris: Einmal ist keinmal (Le soleil naît derrière le Louvre) – Regie: Joyce Buñuel
• 1991 bis 2003 – Nestor Burmas Abenteuer in Paris, TV-Serie in 39 Folgen mit Guy Marchand
Viele Romane liegen als Comic Book bzw. Graphic Novel vor. Bevorzugter Künstler Malets war Jacques Tardi. ((https://www.amazon.de/120-Rue-Gare-Jacques-Tardi/dp/3037310006/))

Handlung

Nestor Burma, Besitzer der Pariser Privatdetektei, ist 1941 von den Deutschen gefangen genommen und ins Stalag XB gebracht worden. (Ein Stalag ist ein „Stammlager“ für internierte Kriegsgefangene.) Ein Sterbender mit dem Spitznamen La Globule vertraut ihm die Adresse einer gewissen Hélène an: „120, rue de la Gare“. Und in Paris? Der Sterbende nickt. Nestor, pflichtbewusst wie stets, nimmt ihm die Fingerabdrücke ab. Seine Hélène ist nämlich seine Sekretärin, und die wohnt in Paris.

Es geht bald wieder zurück in die Vichy-Zone, also in das noch von den Deutschen unbesetzte Frankreich. Der Zug voller Kriegsgefangener rollt von Konstanz durch die Schweiz nach Lyon. Kurz vor der einstigen Hauptstadt Burgunds, in Perrache, entdeckt Nestor Burma zwei bemerkenswerte Personen. Die erste ist eine schöne Frau, die ihn an die Filmschauspielerin Helene Hogan erinnert.

Die zweite Person ist verblüffenderweise Nestors Pariser Detektei-Mitarbeiter Robert Colomer, genannt Bob. Ihre Blicke treffen sich, kurz bevor der Zug wieder anfährt. Colomer ruft seinem Chef zu, er habe etwas Wichtiges herausgefunden, doch die einzigen Worte, die er noch verraten kann, ist die geheimnisvolle Adresse. „120, rue de la Gare“. Dann sackt er auf dem Bahnsteig zusammen, getroffen von mehreren Kugeln. Entsetzt saust Nestor hinaus auf den Bahnsteig, doch er kommt zu spät – und verliert sein Koffer im Abteil des wegfahrenden Zuges. Die schöne Frau ist auch weg.

Doch nicht verzagen! Lyon ist die erste Station jenseits der Demarkationslinie zum besetzten Frankreich. Hier treibt sich allerlei Gesindel herum und Volk, das von den Deutschen lieber nicht gesehen werden will. Dem Kommissar Bernier nennt Burma die Namen von zwei oder drei Pariser Ganoven, die es auf ihn oder Colomer hätten abgesehen haben können. Als er sich umhört, stößt er auf den reichen Anwalt Montbrison, der für Colomer die erkleckliche Summe von 9000 Francs verwahrt. Wofür brauchte der arme Verblichene derart viel Geld? Er habe eine Auskunftei aufbauen wollen, lautet die Antwortet, zusammen mit zwei Kompagnons. Oder steckt etwas anderes dahinter?

Natürlich lässt Burma als Profi nichts anbrennen und lässt seine Kontakte nach Paris spielen. Wo zum Geier ist diese mysteriöse Rue de la Gare Nr. 120? Die Antwort lautet von berufener Stelle: „Diese Adresse existiert in Paris nicht.“ Burma muss wohl ganz von vorne anfangen. Aber es gibt keinen Fall, den Dynamit-Burma nicht knacken könnte…

Mein Eindruck

Der erste Teil dieses klassischen französischen Krimi spielt vor allem in Lyon und Umgebung, der zweite Teil vor allem in Paris und Umgebung. Unzählige Spuren sind hier zu verfolgen, um das Rätsel um Robert Colomers Tod zu lösen. Schöne Damen spielen ebenso eine Rolle wie fiese Herren. Falsche Namen, falsche Gesichter, falsche Identitäten – nichts ist, wie es scheint. Ist nur der Krieg dafür verantwortlich, fragt sich der Leser. Schließlich müssen sich gewisse Ganoven verstecken.

Vor aller Augen

Umso größer ist die Überraschung dann im zweiten Teil, als Nestor Burma in einer klassischen finalen Konfrontation den Haupttäter und seinen Komplizen entlarvt, bevor er sie der Kripo übergibt. Die beiden Herrschaften liefen uns bereits die ganze Zeit vor der Nase herum! Dieser Umstand gemahnt den berühmten Detektiv (und sicherlich auch seinen Schöpfer) an Edgar Allan Poes klassische Detektivgeschichte „Der entwendete Brief“. Der fragliche Brief befindet sich die ganze Zeit vor der Nase des Suchenden – wo dieser natürlich nie nachgesehen hätte, denn er hat die Unverfrorenheit des Versteckenden unterschätzt.

Die Linie

Die Geschichte spielt im Jahr 1943, also zu jener Zeit als Frankreich in zwei Zonen gespalten war, zwischen denen die Demarkationslinie verlief: das von den Deutschen besetzte nördliche und das noch unbesetzte, erst ab 1944 besetzte Südfrankreich (zugegebenermaßen eine sehr grobe Einteilung). Wie stets bei Kriegen und Besetzungen findet über diese Grenzlinie ein reger Schmuggel statt, Gesuchte flüchten in die Sicherheit – und wie immer macht irgendjemand dabei seinen Reibach, entweder mit Schmuggelware, gefälschten Papieren oder sonstwie.

Burmas Riecher

Genau diese Aktivität wird indes dem Haupttäter zum Verhängnis. Wie kommt es bloß, fragt sich unsere Pariser Spürnase, dass dieser Mann eine englische Zigarettenmarke rauchen kann, die extrem schwer zu bekommen ist? Burmas Riecher für solche schrägen Beobachtungen liefert ihm aber auch anderweitig gute Dienste, und zwar buchstäblich: Kaum in eine neue Wohnung gelangt, aktiviert er seine Spürnase und schnuppert nach dem Rauch der jeweils gerauchten Marke von Tabakware. Der Leser tut gut daran, jede Beobachtung sorgsam zu vermerken – im Showdown kommt all dies zur Sprache. Wohl dem also, der vorher schon seine Schlüsse gezogen hat.

Die Übersetzung

Der Text liest sich recht flüssig, aber ich bin auf folgende Schwachstellen gestoßen:

S. 149: „So langsam kommt Licht ins dunkel“… Das „Dunkel“ ist ein Substantiv und muss groß geschrieben werden.

S. 175: „Ich unterbrach[te] meine Erzählung…“ Die Silbe „te“ ist überflüssig.

S. 181: „Weniger die Tatsache, dass sie sich mit Verspätung bei der Polizei gemeldet haben…“ Das Wörtchen „sie“ ist eine Anrede und muss groß geschrieben werden. Burma entlarvt gerade die beiden Täter.

Unterm Strich

Diesen ersten Krimi von Leo Malet zu lesen, hat mir viel Spaß gemacht, und so konnte es nicht ausbleiben, dass ich ihn in wenigen Tagen verschlang. Edgar Allan Poes Detektiv Auguste Dupin lässt ebenso grüßen wie gewisse Klassiker, darunter Emile Gaboriau, der Begründer des französischen Krimis. Aber auch ein Hauch von Dan Browns Schnitzeljagden weht durch den Roman. Wortspiele wie Lyon = Lion erinnern an allfällige Rätsel, die Robert Langdon zu lösen hat.

Nur dass Dan Brown wahrscheinlich nie auf die Idee käme, den Marquis de Sade auftreten zu lassen. Dessen Roman „Die 120 Tage von Sodom“ liefern nämlich die Zahl im Titel des Buches. Aber wo sich die ebenfalls titelgebende Bahnhofsstraße befinden könnte, erweist sich in der Tat als eine harte Nuss – praktisch jede geschlossene Ortschaft hat so eine Straße. Wie Burma die richtige findet, ist ein Bravourstück.

Zeitreise

Kein Smartphone trillert in diesem Roman, kein Fernseher lenkt ab, kein Computer weiß alles – man kann schon froh sein, wenn mal ein nicht vom Militär requiriertes Auto auftaucht. Im besetzten Paris bewegen sich Menschen auf dem Fahrrad oder mit der Tram, nur die Polizei verfügt über grüne Minnas und dergleichen. Der Leser findet sich plötzlich in einer geradezu prähistorischen Zeit wieder, die allen modernen Komfort vermissen lässt.

Umso deutlich wird deshalb, was für einen Detektiv wirklich zählt: Beziehungen und Verbindungen. Das Gedächtnis ist die wichtigste Waffe, die Kombinationsgabe wird für alles und jedes genutzt, die Phantasie führt Freudentänze auf – nur weil alle anderen Ablenkungen fehlen. Die Menschen in diesem Roman sind auf das Wesentliche reduziert, das sie ausmacht: ihre Absichten, Gefühle, Bewegungen. Nestor Burma ist quasi der menschliche Computer, der sie in seinem Verstand alle miteinander verknüpft. Im Showdown hält er deshalb lange Monologe. Wohl dem Leser, der bis dahin gut aufgepasst hat.

Nicht unerwähnt bleiben darf der einzigartige Sinn für Humor, den der Held an den Tag legt. Es ist ein erfrischender Zynismus, der es noch nicht bis zum Sarkasmus des Melancholikers gebracht hat, sondern irgendwo auf halber Strecke die Welt als interessantes Irrenhaus betrachtet – den Beobachter eingeschlossen. Aber Nestor achtet noch auf Anstand, etwa bei den Damen, auch wenn er sie zu allem für fähig hält (und warum auch nicht?). Er hat einen privaten Kodex, und dessen Regeln herausfinden, sorgt für eine Menge Unterhaltung auf Seiten des Lesers.

Leo Malet ist für mich eine ebenso wichtige Entdeckung wie etwa das erste Mal Hammett oder Chandler zu lesen. Ich kann diesen klugen und humorvollen Autor nur empfehlen. Der Elster-Verlag hat mit der Biografie und der Werkbeschreibung einen wertvollen Anhang geliefert. Wer Malet in Kurzform vorzieht, kann auf zahlreiche Graphic Novels zurückgreifen.

Fazit: volle Punktzahl.

Taschenbuch: 199 Seiten
Info: Cent vingt, rue de la Gare, 1943 © 1977
Aus dem Französischen von Hans-Joachim Hartstein
Besprochene Auflage: 1995