Kate Wilhelm – Hier sangen früher Vögel

Klone haben keine Chance: Klassiker der ökologischen Science-Fiction

Ein ökologischer Klassiker der Science-Fiction, in der eine Art Sekte die Rettung vor dem Ende der Welt in der Schaffung von menschlichen Klonen sucht. Dieser Schuss geht nach hinten los, denn die meisten Klone sind nicht nur unfruchtbar, sondern unfähig, sich der veränderten Umwelt anzupassen: Eine neue Eiszeit kommt. In sehr schöner Sprache und fern von Actiongehabe erzählt die US-Autorin (siehe unten) eine bewegende Geschichte – sie ist angesichts der Bemühungen um das Klonen von Menschen umso aktueller (und auch unheimlicher).

Die Autorin

Die 1928 geborene amerikanische Schriftstellerin Kate Wilhelm zeichnet sich durch eine sehr nah am Menschen orientierte Thematik und Darstellungsweise aus. Das hebt ihre vielfach ausgezeichneten Erzählungen und Romane über die Bindung an Moden und Tagesereignisse hinaus auf ein überzeitlich gültiges Niveau der Aussagekraft. Sie begann bereits 1956 Storys zu veröffentlichen. Mit dem Post-Holocaust-Roman „Hier sangen früher Vögel“ errang sie zahlreiche Preise, schrieb aber auch etliche Kriminalromane. Sie ist die Witwe des verstorbenen Autors und Herausgebers Damon Knight.

Die Frau aus Ohio hat es ihren Lesern nie leicht gemacht – nur ganz am Anfang schrieb sie ein paar auf Action getrimmte Romane, die man getrost vergessen kann. Doch sonst hat sie stets einen literarischeren Ton angeschlagen. Der war auch nötig, um die subtile Art des Grauens zu erzeugen, die ihr Markenzeichen ist. Ich habe mit faszinierter Begeisterung „Margaret und ich“ (1971) gelesen, das von den erotischen Wahnvorstellungen einer jungen Frau erzählt. Die Handlung funktioniert nur, wenn sie richtig erzählt wird.

Der Mangel an Action kann sich auch nachteilig auswirken, wie ich bei ihrem etwas gekünstelten Roman „Wacholderzeit“ feststellen musste. Da soll eine Wissenschaftlerin eine geheimnisvolle Botschaft aus dem All entschlüsseln – im Grunde eine Story wie das verfilmte „Contact“ von Carl Sagan, doch die Handlung, die nur wenige Science-Fiction-Untertöne aufweist, zieht sich ebenso träge dahin wie in Sagans Buch.

Meines Erachtens ist Wilhelm am besten in ihren Kurzgeschichten, die stets eine bewegende oder witzige Pointe haben. Sie erzählen das Neue aus der Ausgangssituation des gewöhnlichen Familienlebens heraus, kippen dann Science-Fiction- oder Fantasy-Situationen und brechen am Punkt der größten Erkenntnis unvermittelt ab: sehr wirkungsvoll. Die Kurzgeschichten und Novellen sind bei uns in zwei Collections sowie in zahlreichen Anthologien des Heyne-Verlags erschienen. Die Originale erschienen oftmals in den ‚Orbit‘-Anthologien ihres Mannes Damon Knight, die in Deutschland beim S. Fischer Taschenbuch Verlag erschienen.

In der amerikanischen SF-Gemeinde genießt Wilhelm einen prominenten Ruf. Erstens leitete sie einen der wichtigsten Lehrgänge für angehende SF-AutorInnen: den „Clarion Science Fiction Writers‘ Workshop“ und zweitens schaffte sie es (wie neben ihr wohl nur noch Ursula K. Le Guin) eine Brücke aus dem Genre-Ghetto hin zur allgemeinen Belletristik zu schlagen.

Wichtige Werke:

1) Hier sangen früher Vögel (1976, vgl. meinen Bericht)
2) Der Clewiston-Test (1976)
3) Inseln im Chaos (1991, vgl. meinen Bericht)
4) Huysmans Schoßtierchen (1986)
5) Margaret und ich (1971; vgl. meinen Bericht)
6) Somerset träumt (Collection, vgl. meinen Bericht)
7) Fühlbare Schatten (1981)
8) Kinder des Windes (Collection, 1989)
9) Die Tür ins Dunkel
10) Verrückte Zeit (1988)
11) Winterlicher Strand (1981, verfilmt)
12) Wacholderzeit (1979)

Handlung

Als sich die globale ökologische Katastrophe abzeichnet, gründen die Sumners, eine mächtige Familie aus Virginia, in den Appalachen (die Autorin kennt sich dort, in Ohio, bestens aus) ein Forschungszentrum, das ein Überleben der Menschheit gewährleisten soll. Während Seuchen, Hungersnöte und ein Atomkrieg alle Menschen bis auf ein paar Enklaven vernichten, werden im Sumner-Zentrum zahllose Klone der Familienmitglieder aufgezogen. Die Klone sind empathisch begabt: Sie begreifen sich stets nur als Teil ihres „Wurfes“.

Die „Originale“ dieser Kopien, so etwa der Arzt David, sterben nach und nach, und die Klone sind leider – bis auf wenige Ausnahmen – unfruchtbar, wenn auch telepathisch begabt. Die fortpflanzungsfähigen Frauen werden mit Drogen zu gefügigen Gebärmaschinen der Kolonie gemacht, denn ohne neue Genkombinationen durch natürlich geborene Kinder würde die Kolonie bald aussterben.

Teil 2

Nach einer Expedition entwickelt Molly als einziges Mädchen ihres Wurfes schöpferische Fähigkeiten. Sie ist aber aufgrund ihrer Eigenart Ausgestoßene in der einheitlichen Telepathen-Gemeinschaft der Klone. Sie war auf der ersten Expedition in das zerstörte Washington dabei. Die 49 Tage haben sie unwiderruflich verändert, so dass es für keine Wiedereingliederung geben kann. Ihre Zeichnungen sind voll Isolation, Abgeschiedenheit und Abtrennung – ein wahrer Horror für die auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit erpichten Klone. Nur weil Ben, der Psychologe, sie schützt, wird sie nicht in der Wildnis ausgesetzt, sondern im alten Sumner-Farmhaus isoliert.

Doch sie verführt Ben und bekommt von ihm ein nicht geklontes Kind. Diesen Sohn, den sie Mark nennt, erzieht sie abgeschieden von den anderen auf ihre ganz eigene Weise. An ihm scheiden sich die Geister. Einerseits weist er die einzigartige Fähigkeit auf, sich ohne Probleme im einsamen Wald orientieren zu können, ohne dabei wahnsinnig zu werden. Andererseits hält er sich nicht an die Rituale der Klone gebunden. Ist er eine Bedrohung für die Gesellschaft der Klone – oder ihre einzige Rettung?

Teil 3

Molly wird entweder getötet oder zu einer Brutmutter gemacht – hier bleibt die Autorin in Andeutungen. Doch Mark begibt sich als Pfadfinder auf eine große Expedition nach Philadelphia, Baltimore und sogar New Jersey. Zu seinem Entsetzen sind alle großen Städte von Zonen verseuchter, verstümmelter Vegetation umgeben. Die Führer der Klon-Kolonie wollen dies nicht wahrhaben und die verstrahlten Städte trotzdem plündern. Tote Kinder sind das einzige, was sie bekommen. Noch etwas entdeckt Mark: Die Gletscher kommen zurück, eine neue Eiszeit bricht an: der nukleare Winter hat begonnen.

Im Bewusstsein, dass die Klon-Kolonie nicht fähig ist, sich anzupassen, bereitet er der nicht mehr menschlich zu nennenden Klon-Kolonie ein Ende, als er die fortpflanzungsfähigen Frauen befreit und mit ihnen in der südlicher gelegenen Wildnis eine Gemeinschaft alten Stils gründet.

Mein Eindruck

Kloning, Genmanipulation, Umweltzerstörung – dies sind die bevorzugten Themen der Autorin. In diesem Roman kommen sie alle zusammen, inhaltlich wie stilistisch eindrucks- und anspruchsvoll verarbeitet. Lange Zeit glaubten Wissenschaftler, Klone könnte irgendwie bessere Menschen sein – oder wenigstens die Reichen quasi unsterblich machen. In diesem Roman führt die Autoren beide Vorstellungen ad absurdum.

Ihre Klone erweisen sich ab der fünften Generation – und das ist bereits ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem aktuellen Stand der Wissenschaft – als nicht überlebensfähig. Sie entwickeln Krankheiten, Immundefekte und Allergien, die sie zugrunde gehen lassen. Die gesamte Klonierungstechnik wird als anfällig gezeigt: Alles hängt von der richtigen Programmierung und Instandhaltung des Computers ab. Doch wer soll programmieren, wenn das Wissen DAHINTER fehlt? Wer beschafft den Strom, wenn der Generator in der Mühle versagt?

Was aber weit wichtiger und folgenreicher ist: Die Klone können nur wiederholen, was man ihnen eingetrichtert hat. Jede Art von Originalität ist für sie abscheulich. Das ist die Folge des engen psychosozialen Zusammenhalts der Würfe: Alles, was ihre Einheit bedroht, wird abgelehnt. Und Fremdartigkeit ist ebenso schlimm wie Originalität. Mark verkörpert alles, was sie ablehnen. Konsequent wird er verteufelt und soll schließlich verbrannt werden: Doch Mark ist nicht Luzifer, und an seiner Stelle brennt sein bester Freund…

In sehr schöner, ganz einfacher Sprache erzählt die Autorin eine bewegende Geschichte – sie ist angesichts der Bemühungen um das Klonen von Menschen umso aktueller (und auch unheimlicher). Sie warnt auf eindringliche und bewegende Weise vor blinder Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit und den unabsehbaren Folgen, die das Kloning haben kann.

Die Erzählung sinkt zu keinem Zeitpunkt auf bloße Action herab, vielmehr wird sie in schöner, geradezu lyrischer Sprache wiedergegeben. Der Roman besteht aus drei zusammengefügten Novellen und kommt daher jedes Mal am Schluss einer dieser Novellen zu einem eindrucksvollen Höhepunkt. (Wie gesagt, beherrscht Wilhelm die Kurzform weitaus wirkungsvoller.)

So war Kate Wilhelm 1977 der begehrte Hugo Gernsback Award (ein Preis der Leser) für ihren Roman sicher.

Die Übersetzung

René Mahlow übertrug die einfache, doch elegante und präzise Sprache ausgezeichnet ins Deutsche. Stellenweise ist aber alter Stil auffällig: Er sagt noch „im Hause“ und „im Walde“. So redet niemand mehr.
Zudem stieß ich auf ein paar ärgerliche Druckfehler, besonders ab S. 160.

S. 160: „Ben, der ihr[e] Gemälde betrachtete…“

186: „Hartnäckg“ statt „hartnäckig“

238: „Trainung“ statt „Training“

240: „Ich hab kein[e] Angst.“ Das E fehlt.

255: „Du bist kalt.“ Das sagt Barry, sein Freund, zu Mark. Marks Haut ist wirklich kalt, und so könnte der Satz stimmen. Aber niemand würde ihn sagen, denn er klingt inhuman, geradezu wissenschaftlich (klonisch?). Man würde sagen: „Dir ist kalt.“

HINWEIS

Der Originaltitel bezieht sich auf eine Gedichtzeile, die jeder Lyrikfan im englischen Sprachraum kennt – es stammt aus William Shakespeares Sonett 73:

„Bare ruin’d choirs, where late the sweet birds sang“, was im Klartext Folgendes meint: „Bare ruins of church choirs [stand now] where lately the birds sweetly sang.“

Die englischsprachige Analyse des Gedichts findet sich hier: http://www.shakespeare-online.com/sonnets/73detail.html (ohne Gewähr).

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)

Taschenbuch: 285 Seiten
Originaltitel: Where late the sweet birds sang, 1976
Aus dem US-Englischen übertragen von René Mahlow
ISBN-13: 978-3453307902

www.heyne.de