Kate Wilhelm – Verrückte Zeit

Liebeskomödie und Agententhriller: Wahnsinn in Seattle

Die Psychologin Lauren Steele wird Augenzeugin, wie sich ein Mann vor ihren Augen in ein blaues Glühen auflöst. Fortan sieht und hört sie ihn immer wieder, weshalb sie glaubt, wahnsinnig zu werden. Das Militär verdächtigt sie, mit diesem „Kommunisten-Corky“ konspirativ zusammenzuarbeiten und lässt sie sowohl beschatten als auch verführen. Das schürt ihre Paranoia zusätzlich. Auf einer einsamen Insel nahe Seattle muss sich entscheiden, ob sie dem Wahnsinn nachgibt – oder wirklich an die Existenz dieses seltsamen Geistwesens namens Corky glauben will…

Die Autorin

Die 1928 geborene amerikanische Schriftstellerin Kate Wilhelm zeichnet sich durch eine sehr nah am Menschen orientierte Thematik und Darstellungsweise aus. Das hebt ihre vielfach ausgezeichneten Erzählungen und Romane über die Bindung an Moden und Tagesereignisse hinaus auf ein überzeitlich gültiges Niveau der Aussagekraft.

Sie begann bereits 1956 Storys zu veröffentlichen. Mit dem Post-Holocaust-Roman „Hier sangen früher Vögel“ errang sie zahlreiche Preise, schrieb aber auch etliche Kriminalromane. Sie ist die Gattin des verstorbenen SF-Autors und Herausgebers Damon Knight.

Wichtige Werke:

1) Hier sangen früher Vögel (1976, vgl. meinen Bericht)
2) Der Clewiston-Test (1976)
3) Inseln im Chaos (1991, vgl. meinen Bericht)
4) Huysmans Schoßtierchen (1986, vgl. meinen Bericht))
5) Margaret und ich (1971; vgl. meinen Bericht)
6) Somerset träumt (Collection, vgl. meinen Bericht)
7) Fühlbare Schatten (1981)
8) Kinder des Windes (Collection, 1989)
9) Die Tür ins Dunkel
10) Verrückte Zeit (1988)
11) Winterlicher Strand (1981, verfilmt)
12) Wacholderzeit (1979)

Handlung

Lauren Steele überragt mit ihren hundertachtzig Zentimetern alle ihre Kollegen im Beratungszentrum von Peter Waycross um Haupteslänge. Die Psychologin wird durch diesen Umstand jedoch nicht etwa übermütig oder gar arrogant, sondern vielmehr schuldbewusst und schüchtern. Ach, wäre sie doch wie ihre Schwestern klein und schwach! Dann bekäme sie endlich auch einen Mann, der sie nicht sofort als Bedrohung betrachtet.

Daniel Patrick Corcoran ist nur hundertsechzig Zentimer groß und rothaarig, mit blauen Glubschaugen. Er ist leidenschaftlicher Zeichner und würde gerne einen Job in Hollywood ergattern. Seine Freundin Joanna hat ihre Beziehungen spielen lassen und ihm einen Vorsprechtermin besorgt. Doch im regnerischen Seattle hindert Nebel die Flugzeuge daran, pünktlich zu starten. In Hilda’s Café begegnet daher Daniel per Zufall seiner Traumfrau: Lauren Steele, eine wahre Minerva, die sich bestens in seine Kollektion von Figuren einfügen würde. Er folgt ihr unauffällig in ihr Bürohochhaus.

Zur gleichen Zeit soll Colonel T. H. „Trigger Happy“ (= schießwütig) Musselman eine neue Art von Laserkanone begutachten. Er verachtet die Eierköpfe von Wissenschaftlern zutiefst, und seinen Job erst recht. Als Vietnamveteran ist er ein verdienter Kämpfer für sein Vaterland und will es vor Spionen, Verrätern und ganz besonders „der roten Gefahr“ bewahren.

Bei der Vorführung des Lasers kommt es zu einem klitzekleinen Fehler, der weitreichende Folgen haben wird. Zwei Gamekids haben sich in den Zentralrechner eingehackt, um dessen Rechenzeit zu nutzen. Der Zentralrechner, nicht blöd, hält sie für echte Gegner und beginnt, nach einer speziellen Waffe zu suchen, um sie zu besiegen. Colonel Musselman sieht verblüfft, wie sich die Laserkanone auf ein nahegelegenes Bürohochhaus richtet und feuert.

Lauren Steele hat den kleinen rothaarigen Mann, der ihr in den Aufzug gefolgt, nicht übersehen können – schon gar nicht von ihrer hohen Warte aus. Was für ein widerlicher kleiner Mickerling! Der will ihr doch nicht etwa an die Wäsche, oder? Sie wimmelt ihn ab, er hebt die Hände, als wolle er sich ergeben, geht ans andere Ende des Flurs – und ist plötzlich in ein blaues Glühen gehüllt. In der nächsten Millisekunde löst er sich in Luft auf, nur seine Kleider und sein Zeichenblock bleiben zurück. „Ich werde wahnsinnig“, denkt Lauren und sperrt sich ein.

Sie hat es ja geahnt, und ihre Schwestern haben es ihr schon immer prophezeit: Wer sich mit Verrückten abgibt wie sie, der wird bald selbst verrückt. Nun ist es offensichtlich soweit. Was ihre Augen gesehen haben, kann nicht real gewesen sein. Das sagen bald auch die Cops und ein gewisser Musselman, den sie ebenfalls für einen Cop hält. Sie bleibt nicht lange bei ihrer Aussage. Bestimmt hat sich etwas anderes ereignet. Aber was?

Für den Oberst ist die Sache jedoch klar wie Kloßbrühe: Hier läuft eine Verschwörung ab, noch dazu eine rote, konspirative, von der übelsten Sorte. Wer weiß, wer noch mit drin steckt? Dass Lauren Steele eine in ihrer Wohnung platzierte Wanze auf Anhieb findet und wütend aus dem Fenster wirft, ist ein unzweideutiger Beweis. Jemand versucht, den Zeichenblock Corcorans zu stibitzen – aus einem bewachten Tresor heraus!

Etwas ganz Übles braut sich zusammen, da ist sich Musselman sicher. Er ruft den Geheimdienst an. Morris Pitts ist der ideale Mann für die Durchleuchtung dieser zwielichtigen Psychologin: ein geschulter Verführer, der sich zugute hält, dass er noch jede rumgekriegt und ausgehorcht hat.

Doch bald muss Pitts zugeben, dass Lauren Steele entweder sehr clever oder sehr naiv ist: Immer dann, wenn er ihr eine wichtige Information entlocken oder sie ins Bett bugsieren will, kommt etwas Merkwürdiges dazwischen, das den Plan scheitern lässt. Es ist ganz so, als gäbe es einen unsichtbaren Dritten …

Mein Eindruck

Liebeskomödie plus Militärklamotte – was hier so herrlich amüsant mit einem Augenzwinkern daherkommt, hat auch eine tiefere Ebene. Es geht um Vertrauen in sich, in den anderen und um das genaue Gegenteil: völliges Misstrauen. Den Schlüsselfaktor stellt jeweils das Wissen dar. Letzten Endes ist dies ein Roman, der die Frage stellt, ob die Wissenschaft wirklich die richtigen Erkenntnisse liefern kann, um dem Menschen helfen zu können.

Lauren traut sich selbst nicht: Das, was sie gesehen hat, als sich der rothaarige Mann in Nichts auflöste, kann nicht wahr sein. Da sie fortan in sich selbst gespalten ist, droht sie dem Wahnsinn zu verfallen. Das ist keine Spekulation, sondern eine reale Gefahr. Wir lernen Lauren genügend gut kennen, um ihr in dieser Lage nachfühlen zu können.

Doch wie kann man irgendjemanden davon überzeugen, dass das Unmögliche die einzige richtige Lösung darstellt – siehe Sherlock Holmes‘ Maxime. Corky, der Lauren wirklich verehrt und liebt und in ihr den Grund erkannt hat, dass er überhaupt noch auf Erden weilt, muss zahllose Beweise dafür erbringen, dass er wirklich existiert – allerdings nicht wie andere Menschen. Er kann sich durch Willenskraft sowohl in seine kleinsten Bestandteile auflösen als auch in eine menschliche Form zusammenziehen. Es ist, als zöge er einen Muskel zusammen. Mit etwas Übung kriegt er das hin. Wir drücken ihm die Daumen, dass er Lauren überzeugen kann.

Corky ist insofern sehr wichtig für die Geschichte, als er das genaue Gegenteil von Colonel Musselman (= muscle man) darstellt. Der Colonel lehnt so etwas wie das Unmögliche völlig ab. Ja, jeder Versuch, ihm diese Möglichkeit nahezulegen – die armen Wissenschaftler – führt nur dazu, dass er noch misstrauischer wird. Je mehr Möglichkeiten er ausschließt und je mehr er von seinen Mitarbeitern enttäuscht wird, desto mehr steigt seine Paranoia: Überall um ihn herum existieren nur noch Versager und/oder Verräter. Am Schluss gibt es nur noch ihn selbst, alle anderen sind der Feind.

Corky entwickelt sich zu Musselmans Gegenteil, weil er durch seine verstreute Form die ganze Welt direkt erfahren kann. Schreckliche und schöne Dinge erfährt er gleichermaßen, so dass sein Weltwissen exponentiell wächst. Für ihn ist das Unmögliche der Alltag. Er weiß, was möglich ist, aber meist geflissentlich verschwiegen wird. Die Autorin zählt ein paar Dinge auf, die man anno 1988 nur sagen konnte, wenn man sie verklausuliert ausdrückte, so etwa Kindesmissbrauch und Inzest.

Während der Oberst die Schlingen seines Fahndungs- und Überwachungsnetzes um Lauren und Corky zusammenzieht, müssen die beiden Objekte seines Misstrauens versuchen zu überleben, indem sie das genaue Gegenteil versuchen: Vertrauen zueinander zu fassen. Der Weg, auf dem dies gelingen kann, ist typisch für die Autorin: Es ist die körperliche Intimität zwischen Ich und Du.

Zum ersten Mal seit ewig langer Zeit erlebt Lauren bedingungslose Hingabe ihres Liebhabers und mehrere Orgasmen hintereinander. Die Dialoge sind zwar nicht so herrlich absurd wie in „Huysmans Schoßtierchen“, aber dennoch nicht von schlechten Eltern. Dass auch anti-Agenten-Spielchen sehr zur ironischen Komödie beitragen, hat mich umso mehr unterhalten.

Das Jenseits

Dennoch kommt es im drittletzten Kapitel zu einer schweren Krise, als Pitt Lauren als Geisel nimmt und damit Corky erpresst. Was soll er tun? Er wünscht sich, er könnte die Zeit zurückdrehen, doch das verstieße gegen die Gesetze, die das „Jenseits“ der Welt auferlegt hat. Es wird niemals so genannt und bezeichnet sich auch selbst nicht so. Damit meine ich lediglich die Region, die jenseits des Erlebnishorizontes der Lebenden liegt.

Immer wieder wird Corky in seinem vertrauten Zustand an dieser Grenze zurückgewiesen. In der Krise muss er in einem langen Dialog, der den Leser echt auf die Folter spannt, herausfinden, was er tun kann. Im letzten Kapitel findet er die Lösung, und die darf hier keinesfalls verraten werden. Aber sie ist durchaus befriedigend, denn auch sie basiert auf dem Prinzip des Vertrauens.

Die „Jenseits“-Szenen sind ebenfalls von feiner Ironie gekennzeichnet, sodass ich sie nicht als störend empfand. Aber sie heben die Handlung auf die höhere Ebene der Transzendenz: Hier ist der Gegensatz zwischen Ver- und Misstrauen, Wissen und Nichtwissen aufgehoben. Er spielt keine Rolle mehr.

Landschaft als Metapher

Die Landschaft am Puget-Sund zwischen Seattle und Vancouver passt optimal zur Handlung: Inseln sind das Hauptmerkmal. Sie stehen für die Liebenden und für ihr Ausgesetztsein. Das bringt natürlich das Militär erst recht auf Trab und zu den besten Momenten gehört jener Augenblick, als sich der Nebel hebt und klar wird, dass die Insel der Liebenden von einer ganzen Armada amerikanischer Kriegsschiffe belagert wird.

Das kann nur funktionieren, weil die ganze Gegend von Regen, Nebel und allen Niederschlagsformen dazwischen bestimmt wird. Das richtige Sehen wird zur bestimmenden Metapher des Buches: Regen und Nebel vereiteln die Erkenntnis. Hebt sich der Nebel, kehrt die Erkenntnis zurück und sogleich hebt sich die Stimmung.

Da ich selbst schon zweimal diese Landschaft besucht habe (zuletzt 2013), kann ich bestätigen, dass man die Spitzen der Hochhäuser von Microsoft, die die Silhouette von Seattles Vorort Belleview prägen, tatsächlich nicht mehr sehen kann – die Wolken hängen einfach zu niedrig. „In Seattle, you gotta love the rain“, hat Mark Knopfler passend und richtig (auf „Privateering“) gesungen. Da Portland/Oregon, die Heimatstadt der Autorin, nicht weit entfernt liegt, kennt sie die regnerische Gegend des Nordwestens wie ihre Westentasche. Man merkt es ihren stimmungsvollen Beschreibungen an.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist sehr flüssig zu lesen und lässt den erfahrenen Leser nicht durch merkwürdig schiefe Eins-zu-eins-Übertragungen stutzen. Vielmehr findet die Übersetzerin immer wieder ausgezeichnete Entsprechungen in der deutschen Sprache, die den Text völlig natürlich wirken lassen.

Wie in fast allen Heyne-Büchern finden sich auch hier wieder Druckfehler. Aber ich habe mir nicht die Mühe, sie alle zu notieren, denn sie sind nicht auffällig und nicht zu zahlreich.

Unterm Strich

Von allen Büchern Kate Wilhelms, die ich bislang gelesen und besprochen habe (siehe oben), ist dieses sicherlich das romantischste. Die ans Militär verratene Wissenschaft spielt mit ihrem verhängnisvollen Laserschuss nur im ersten Viertel eine bedauernswerte Nebenrolle, der Rest wird völlig vom menschlichen Drama bzw. der Komödie bestritten. Hier reichen sich dann Agententhriller und Liebeskomödie die Hand, beide jedoch mit einem parodistischen Dreh. Wer einen Sinn für ironischen Humor hat, dürfte bestens damit zurechtkommen.

Das Buch greift unterschwellig die Reagan-Ära mit dem Wiedererstarken des militärischen Denkens und des allgegenwärtigen Misstrauens an. Dem setzt die Autorin die geerdete Utopie einer unwahrscheinlichen Liebe entgegen. So geisterhaft Corky auch sein mag, so ist seine bedingungslose Liebe für Lauren dennoch real und somit eine Manifestation unbeschränkten Vertrauens. Hier haben Kommissköpfe keine Chance. Diese Liebe macht Hoffnung, gerät aber auch in Gefahr. Gestört hat mich nur das Konzept des „Jenseits“. Aber diese Ebene der Transzendenz gehört zu Corky wie zu Katholiken der Papst.

Broschiert: 334 Seiten
Originaltitel: Crazy time (1988)
Aus dem US-Englischen von Irene Bonhorst
ISBN-13: 978-3453038974

www.heyne.de

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