Dorothea S. Baltenstein wurde um 1890 in Schleswig geboren und lebte in der Nähe von Kattowitz. Das Manuskript dieses Romans gelangte 1944/45 durch Erbschaft und die Wirren der Vertreibung aus Schlesien nach Jena, wo es der Berliner Michael Schmid veröffentlichen ließ.
Und genau diese Geschichte um die Autorin von „Vier Tage währt die Nacht“ ist ein reines Phantasieprodukt des |Eichborn|-Verlags, wo der Roman erstmals 2002 erschien. Die Dame hat nie gelebt und dementsprechend auch nie ein Buch geschrieben. Die wahren Autoren sind vier Berliner Schülerinnen und ihr Lehrer, besagter Michael Schmid, wie die Presse herausfand.
So ungewöhnlich diese Tatsache schon ist, genauso ungewöhnlich und herrlich spannend geht es eine vier-Tage-währende-Nacht auch weiter. Doch ich greife vor, denn ich sollte wohl zuerst erwähnen, dass Sir Mortimer Pope, ein angesehener Poet und Schriftsteller, neun weitere namhafte Autoren in sein schottisches Schloss eingeladen hat, damit alle gemeinsam ein unübertreffliches Werk erschaffen, das die Literaturwelt noch nicht gesehen hat.
Und ich vergaß: Wir befinden uns im Jahre 1817, wo großartige Autoren wie z.B. Sir Walter Scott mitten in ihrem Schaffen stehen und die Welt zwar mit nahrhafter Poesie versorgt ist, allerdings die napoleonische Nachkriegszeit den Menschen noch zu sehr im Nacken sitzt, um ihr den gebührenden Respekt zu erweisen. Genau das möchte aber Sir Mortimer ändern und so treffen die neun Poeten, Dichter und Schriftsteller nach und nach ein, um sich selbst beim ersten Abendmahl kennenzulernen:
Der Vikar Father Thomas Olivier, ein scheinbar gütiger und ruhiger schottischer Geistlicher.
Der Engländer Robert Milton, der trotz seiner jungen Jahre dunkle Erfahrungen mit sich herumzutragen scheint.
Die junge, schöne Nightingale Dubois, die sich der Schauerliteratur verschrieben hat und für Sir Mortimer fast eine Nichte ist.
Das Schriftsteller-Ehepaar Alice und Geoffrey Stalliot, sie eine dunkle, traurige Schönheit und er ein korpulenter, dem Alkohol sehr zusprechender Mann.
Der schottische Professor Wilbur Prescott, in der Tat ein zerstreuter Professor, ein Gelehrter in Philosophie und Geschichte.
Der Vicomte de Marais, ein französischer, äußerlich reservierter Aristokrat und Dichter.
Der Amerikaner Samuel E. Goldsmith, dessen Repertoire Reiseberichte, politische Essays und politische Schlüsselromane umfasst.
Und nicht zuletzt der Erzähler der Ereignisse: Jonathan Lloyd, der sich sofort in Nightingale verliebt und selbst der Sohn eines engen Freundes von Sir Mortimer ist und diesen bereits jahrelang kennt und liebt.
Die sich dem Abendmahl anschließende Burgführung sorgt dann auch für die erste Aufregung, denn Sir Mortimer erzählt die düstere Geschichte der Lady Lorraine, die aus zurückgestoßener Liebe dem Wahnsinn anheim fällt und schließlich auf dem Scheiterhaufen endet. Der Legende nach geht ihr Haus |Dull Manor|, unmittelbar neben dem Schloss gelegen, alle hundert Jahre in Flammen auf – und das wäre genau diese Nacht, in der die Gäste angekommen waren.
Der Erste, den das Unglück noch in der gleichen stürmischen Nacht trifft, ist der Comte de Marais, der mit der einstürzenden Zugbrücke, dem einzigen Zugang zum Schloss, in die Tiefe gerissen wird. Den geschockten Poeten ist klar, dass der Comte das brennende |Dull Manor| sehen wollte – in der Tat steigen von dem Haus Rauchsäulen in den Himmel -, aber die Brücke hätte niemals von dem Sturm zerstört werden können, dazu war sie zu stabil. Was war passiert? Hatte der Comte das Feuer selbst gelegt und war gar noch am Leben? War er ein Irrer, der durch Tod seine poetische Phantasie anregt?
Goldsmith und Lloyd machen sich auf die Suche nach Hinweisen, als der nächste Todesfall in der zweiten Nacht hereinbricht: Geoffrey Stalliot wird im Weinkeller von herabstürzenden Weinfässern erschlagen. Kurz zuvor hatte er sich mit seiner Frau heftig gestritten und Lloyd hörte, dass er sie misshandelt und sie ihn betrogen hatte. Hatte sie ihren Mann zusammen mit ihrem neuen Liebhaber Milton umgebracht? Hatte sie auch den Comte ermordet, den sie bereits vor Ankunft im Schloss kannte?
Während gegenseitige Anschuldigungen und Verdächtigungen das literarische Unternehmen aussichtslos werden lassen, verfällt Sir Mortimer immer mehr in Depressionen und Schuldvorwürfen und der Bote, der den Eingesperrten Rettung bringen könnte, kommt erst in wenigen Tagen…
Während ich diese Zusammenfassung schreibe, wünschte ich, ich hätte dieses Buch noch nicht gelesen, damit ich noch einmal völlig unwissend in dessen spannenden Abgründe eintauchen und fieberhaft die Seiten umblättern könnte, um dem Mörder schrittweise näherzukommen und ihm dann überraschend gegenüberzustehen.
Jeder einzelne der Charaktere hinterlässt einen bleibenden Eindruck, jeder, außer unserem Erzähler, ist verdächtig und wird unter die Lupe genommen. Der Leser interpretiert in jede Bewegung, jedes Wort, jede Mimik alles und nichts hinein, weil alle Poeten ihre sympathischen, bemitleidenswerten und negativen Seiten haben. Was für ein Detektivspiel, das die Autoren da erschaffen haben!
Bestechend und eindringlich ist die perfekte Einheit zwischen Wort und Handlung, die dieses Buch von der ersten Seite an beherrscht. Die Literatur durchzieht das Geschehen wie eine Welle, mal ganz sanft, fast unterschwellig, mal aufbäumend und Beachtung erzwingend. Folgender Dialogausschnitt zeigt, welche Poesie und auch Philosophie den Leser erwartet:
|“Ich debattierte unlängst mit einem Freunde“, erzählte der Graf, „und es ging um die Frage, ob man heutigen Tages eine neue Geschichte überhaupt noch schreiben könne. Er glaubte – und es trieb ihn in die Verzweiflung -, dass alle Geschichten schon geschrieben seien. Und ich sagte zu ihm: Lieber Freund, solange der Mensch existiert, den in seiner seelischen Tiefe auszuloten wir niemals ganz erreichen werden – nur sehr wenigen ist dies gelungen, ich nenne Shakespeare -, einerlei, so lange wird es die Möglichkeit zu Geschichten geben, einmal vorausgesetzt, dass alle Geschichten mit Menschen zu tun haben. Das ist es, beiseite gesprochen, was mir Dichtung, Bücher einzig interessant macht: Es geht um Menschen. Und aus jedem guten Buch lerne ich Neues über sie.“
Ich blieb still, verwundert darüber, dass er just den Punkt angesprochen, der mir selbst zuvor durch den Kopf gegangen, die Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit der Menschen.
„Nehmen Sie Mythen, Sagen, Märchen“, fuhr der Comte fort. „Sie sind wahr, weil sie uns etwas über Menschen erzählen. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich selbst intensiv damit. Ich habe Tieck und Jakob und Wilhelm Grimm selbst kennen gelernt herüben in den deutschen Ländern. Was für Männer, welch bedeutende Wissenschaftler, Miss Nightingale, Mr. Lloyd! Ja, in den Gesprächen mit ihnen damals ward ich mir erstmals der Bedeutung von Märchen in ihrer ganzen, großartigen Universalität bewusst. Denn es ist ein grobes Missverständnis unserer Zeit, diese Gattung abzutun als lediglich den Stoff, aus dem man Kindern Gutenachtgeschichten offeriert, damit sie besser schlafen. Nein, insofern, als auch hier Menschen zu Gebote stehen, über die verhandelt wird, muss man auch hierbei vom Stoff reden, aus dem die Träume sind. Die Grimms ziehen durch die deutschen Lande mit Papier, einem Stift und offenem Geist und notieren, was sie hören, und sie haben mit dieser Ausrüstung schon jetzt einen ungeheuren Schatz geboren.“|
Der Leser wird langsam in die Geschichte eingeführt, das erste Abendmahl mit Personenvorstellung und die Burgführung sind fast 130 Seiten lang. Ich habe den Fehler begangen und war zu ungeduldig, um sie gebührend zu genießen, also macht es besser. Denn jede Seite zaubert herrlich düstere und geheimnisvolle Bilder hervor, bevor sich eine prickelnde, zum Zerreißen gespannte Atmosphäre einschleicht, die mich nicht mehr losließ, bis ich die letzte Seite mit einem bedauernden Seufzer schloss und wusste, mit diesem Buch einen echten Schatz gefunden zu haben, den ich noch oft zur Hand nehmen werde!
Fazit: Ein dichterisch glänzendes, spannendes und verzauberndes Werk mit großartigen Charakteren, in dem Spannung, Liebe, Melancholie, Philosophie und Psychologie, kleine und große Geheimnisse und vor allem Poesie zu einer unter die Haut gehenden Atmosphäre verbunden werden.