Christopher Fowler – Über den Dächern von London

Postviktorianischer Steampunk: An Seilen über Londons Dächer

Eigentlich will der Drehbuchautor Robert Linden nur für einen neuen Film recherchieren, doch dabei kommt er einer Geheimbande auf die Spur, die mit ihren Ritualmorden der Polizei Rätsel aufgibt. Auf den Dächern von London leben sonderbare junge Leute nach eigenen Gesetzen. Nachts fliegen sie an Nylonschnüren über die verhasste, laute Metropole.

Doch während die einen die Freiheit ihrer Schattenwelt bewahren wollen, haben die anderen der ganzen Stadt den Krieg erklärt. Robert Linden gelingt es, einen Weg in jenes dunkle Reich auf Londons Dächer zu finden. Und bald steckt er mitten in einem Bandenkrieg, wie er grausamer nicht sein könnte… (Verlagsinfo)

Dies ist Chris Fowlers erster Roman, und er machte ihn schlagartig berühmt – zumindest in der phantastischen Literatur. In so manchem Aspekt erinnert die Story an Tim Powers‘ Roman „Die Tore zu Anubis‘ Reich“, der im viktorianischen London spielt (siehe meinen Bericht). Seine folgenden Romane wie etwa „Gilde der Nacht“ oder „Runen“ erreichten nicht wieder dieses hohe Niveau.

Handlung

Seit Jahrhunderten gibt es in London einen Geheimbund, dessen Mitglieder sich abseits der bekannten Gesellschaft nachts an dünnen Seilen über die altehrwürdigen Dächer der Metropole gleiten lassen. Auch Ausgestoßene finden im Geheimbund Zuflucht und Schutz. Einst schrieben sie ihre eigenen Gesetze und Regeln nieder und lebten von Diebstählen aus Lagerhäusern. In moderner Zeit haben sie sich dem Computerzeitalter angepasst und zapfen als Hacker die Datenbanken der Multis an.

Geheimkult

Seit geraumer Zeit sammelt der Alchimist und Satansanhänger Chymes in dieser Welt über den Dächern („Roofworld“) neue Anhänger um sich. Mit an den ägyptischen Totenkult angelehnten Ritualen vergrößert er seine Schar und sagt den gemäßigten Kräften um Dr. Zalian den Kampf um die Vorherrschaft über die Roofworld und London an. Ritualmorde, die Chymes übernatürliche Kräfte verleihen sollen, geben der eher bodenständigen Polizei Rätsel auf.

Eindringlinge

In diese kitzlige Lage platzen der Drehbuchautor Robert Linden und die Farbige Rose Leonard. Sie besitzen einige Aufzeichnungen, die Licht in die Motive Chymes‘ bringen und ihm damit gefährlich werden können. Zunächst voll Furcht, dann immer faszinierter taucht das Paar in die Geheimnisse dieser unbekannten Welt ein. Durch sie erlebt der Leser das erhebende Gefühl, scheinbar schwerelos über die nächtlichen Häuserschluchten Londons zu schweben, die blutigen Auseinandersetzungen mit den Satanisten und den Befreiungsversuch der Gefangenen, die geopfert werden sollen…

Mein Eindruck

Sprachlich außergewöhnlich dicht, voll schwarzem Humor, inhaltlich packend, fesselt Fowlers Romandebüt den Leser mit seinem Erzähl- und Ideenwitz. Doch handelt es sich hier nicht nur um einen spannenden Action-Thriller.

Vehement schreibt der Autor gegen die nicht nur im Vereinigten Königreich weit verbreitete Ablehnung und Diskriminierung von Individuen und Personen aus dem Randbereich der anerkannten „Gesellschaft“ an. Wer einmal abrutscht und vom sozialen Netz nicht aufgefangen wird – das unter Thatcher zehn Jahre lang stark ausgedünnt worden war – wer anders ist als Otto Normal, der wird angefeindet und ausgegrenzt. Die Behörden versuchen dann, solche „Existenzen“ in Gettos abzudrängen, aus den Innenstädten (wo die Touristen sind) zu vertreiben.

Nicht der einzelne zählt, sondern Äußerlichkeiten bestimmen den Wert des einzelnen. Mitgefühl und Solidarität bleiben seit den Thatcher-Jahren in der Ellbogengesellschaft auf der Strecke. Diese Entwicklung prangert Fowlers Roman ebenfalls an. Hier hält er dem Leser einen Spiegel vor, ohne sich dabei jedoch zum fingerhebenden Oberlehrer aufzuschwingen. Kurzum: „Roofworld“ ist, nicht zuletzt wegen seines Einfallsreichtums, ein (anno 1988) vielversprechendes Debüt, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Taschenbuch: 350 Seiten
Originaltitel: Roofworld, 1988
Aus dem Englischen von Harro Christensen
ISBN-13: 9783404133888

www.luebbe.de

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