Pirinçci, Akif – Yin

Eine Welt ohne Männer, geht das denn? Es geht, wie uns der Autor von „Felidae“ klar und deutlich in seiner Zukunftsvision „Yin“ schildert. Aber geht das auch gut? Das steht wieder auf einem anderen Blatt.

Hinweis: Yin ist im Chinesischen das weibliche Prinzip, während Yang das männliche ist. Ying & Yang sind im bekannten schwarzweißen Symbol vereinigt, um einen Kreis zu bilden.

_Handlung_

In seinem voluminösen Zukunftsroman präsentiert der Autor von „Felidae“ eine recht bizarre apokalyptische Vision, die aber so neu nicht ist: Innerhalb weniger Monate rafft ein neues Virus die männliche Hälfte der Weltbevölkerung dahin. Die Medizin muss hilflos zusehen. Dieses Aussterben findet während der ersten Buchhälfte statt. Die Handlung selbst beginnt mit einem Begräbnis.

Die meisten der überlebenden Evastöchter verfallen daraufhin in einen apathisch-passiven Schockzustand. In ihrer Trauer um die verlorenen Männer und Kinder vergessen sie vollkommen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Allmählich bricht daher die grundlegende Versorgung mit dem Nötigsten zusammen. Ganze Industriezweige wie die Rohstoffgewinnung und –verarbeitung oder die Müllbeseitigung verschwinden binnen kürzester Zeit.

Die sich langsam auflösende Regierung versucht zwar, Frauen für typische Männer-Berufe zu gewinnen, doch die Damen lehnen jede zu schmutzige oder schwere Arbeit unter Protest ab. Als Folge strebt die neue Frauenwelt einem postindustriellen Mittelalter zu, in dem Begriffe wie „Auto“ oder „Strom“ bedeutungslos geworden sind.

|Die neue Despotin|

Nur wenige erkennen den vollen Ernst der Lage und damit auch die Chancen, die sich für sie persönlich oder die Frauen im Allgemeinen ergeben könnten. Da ist beispielsweise Margit, eine hoch aufgeschossene, unattraktive Walküre, die sich ihre Umgebung schon immer nach ihren eigenen Bedürfnissen geformt hat. Bei ihrer kühl kalkulierten Lebensplanung schreckte sie selbst vor Kindsmord nicht zurück.

Nachdem nun auch ihre restliche Familie dem „Yang-Virus“ (s. o.) zum Opfer gefallen ist, glaubt sie, endlich ihre Träume verwirklichen zu können. Rasch erkennt sie, welches Gut in einer nur aus Frauen bestehenden Gesellschaft die größte Bedeutung erhalten wird: die Möglichkeit, Kinder zu gebären. Da die Besamung auf natürlichem Wege nicht mehr möglich ist, liegt es auf der für sie auf der Hand, dass Samenbanken die heiligen Tempel des neuen, nun zu errichtenden Reiches sein werden. Wer die Kontrolle über die Banken innehat, besitzt auch die wahre Macht. Und genau dies ist es, wonach Margit von nun an strebt. Mit allen Mitteln versucht sie, sich zu Alleinherrscherin über die Frauen aufzuschwingen.

|Nebenfiguren|

Als Mistreiterin gewinnt sie Viola, einst ein weltbekanntes Top-Model, das mittlerweile jedoch nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Von einem Psychopathen einst entführt, musste sie zwei Jahre lang die unmenschlichsten Qualen erdulden. Als Margit sie aus ihrem Kellerloch befreit, ist nicht nur Violas Äußeres grässlich entstellt, auch ihre Psyche hat irreparablen Schaden davongetragen. Durch die Folterungen ist die junge Frau zu einem gefühllosen, Menschen hassenden Monstrum mutiert. Hitler hat seinen Himmler gefunden.

Dreh- und Angelpunkt der Romanhandlung ist ein Genlabor, das zugleich die größte Samenbank des Kontinents beherbergt. Die einzige noch verbliebene Mitarbeiterin, Angelika Markus, ist eine desillusionierte Medizinerin, die nur zu gerne mit denen paktiert, die ihr die größten Vorteile verschaffen. Angelika erkennt Margits Führungsanspruch ohne Widerrede an.

Zusammen mit Vanessa, einer karrieresüchtigen Politikerin, schließen sie sich zu einem unheilvollen Quartett zusammen, das seine Untergebenen durch Erteilen beziehungsweise Verweigern der Gebärerlaubnis kontrollieren will. Das einfache Rezept schein auch zu funktionieren, denn Margit gründet tatsächlich ihr Reich der „Vagina-Frauen“, das gegen die abtrünnigen „Mann-Frauen“ Krieg führt. Denn der Kampf nach außen stärkt den Zusammenhalt im Innern, wie jeder Despot weiß.

Die Anführerinnen der Gegenseite sind ebenfalls gebrannte Kinder: Da ist Helena, eine gescheiterte Journalistin, die die vom Vater entbehrte Liebe nun in übersteigertem Maß auf Pferde überträgt; oder die schöne Lilith, deren Naivität sie in die Prostitution brachte, wo sie gänzlich die Fähigkeit zu lieben verlor.

Halbwegs „normal“ scheint nur Cora zu sein, eine ehemalige Jetpilotin (wow!), deren Töchter jedoch von Margit entführt wurden. Cora ist auf diese Weise gezwungen worden, alle noch verbliebenen Samenbanken mit Fliegerbomben zu zerstören. Nun hat Margit das Monopol auf Sperma. Als Cora mit knapper Not einem Mordanschlag entgeht, sinnt sie nach Jahren der Entbehrungen und blutiger Kämpfe nicht nur auf Rache, sie will auch ihre Töchter wiedersehen.

Eine letzte, alles entscheidende Schlacht kündigt sich an. Diese wird darüber bestimmen, welche Frauengruppe den Fortbestand der weiblichen Menschheit sichern wird. Und vielleicht kommen sogar die Männer zurück. Falls die richtige Seite gewinnt …

|Hintergrund|

Das sieht doch insgesamt sehr nach einer Abrechnung mit dem weiblichen Geschlecht aus, mit der „anderen Hälfte des Himmels“. Diesem Eindruck eines Rundumschlags tritt der Autor in seiner angehängten „Mitteilung und Danksagung“ entgegen. Seine Arbeit beruhe vielmehr auf wissenschaftlich fundierten Hypothesen. Die erste stammt bereits aus dem Jahr 1976: Richard Dawkins bekannte – und ausgezeichnet belegte – Theorie von „egoistischen Gen“. Diese Arbeit schiebt der Autor seiner Figur Dr. Angelika Marcus unter.

Die Wissenschaftler Wolfgang Winckler und Uta Seibt schrieben eine Abhandlung, der sich der Autor zutiefst verpflichtet fühlt und die sogar den Ansporn zu seinem Roman lieferte: „Männlich Weiblich / Ein Naturgesetz und seine Folgen“ (München 1983). Auch das sogenannte „Yang-Virus“ hat sich Pirinçci nicht aus den Fingern gesaugt. Vielmehr hat Prof. Dr. Hans G. Trüper, ein Mikrobiologe, dieses hypothetische Virus in allen Einzelheiten beschrieben.

Sogar bei dem bekannten deutschen Trendforscher Matthias Horx durfte sich Pirinçci bedienen: Das Kapitel „Vanessa“ enthält eine Passage aus Horx‘ Buch „Aufstand im Schlaraffenland. Selberkenntnisse einer rebellischen Generation“ (München 1989). Selbst der Musiker Sting lieferte einen kleinen Beitrag aus seinem Lied „All this time“.

Extrem selten und daher höchst auffällig ist die Erwähnung einer lebenden Figur der Zeitgeschichte: Wolfgang Joop, laut Pirinçci „einer der kreativsten Köpfe der Zeitgeschichte“.

_Mein Eindruck_

„Yin“ ist recht giftige Gesellschaftskritik: Männliche wie weibliche Neurosen gibt der Autor der Lächerlichkeit preis und nimmt politische Systeme jedweder Spielart schonungslos aufs Korn, insbesondere ihre spezifisch manipulierten Rollenmodelle („Frauen an den Herd!“ usw.).

Auch vor der Warenmentalität und dem Konsumterror macht Pirinçcis Beschuss selbstverständlich nicht halt. Wenn Erbgut und Föten zur „Ware Leben“ verkommen, ja ein Machtfaktor werden, wenn einerseits Abtreibung erlaubt ist, andererseits auch die künstliche Befruchtung – dann spielt die jeweilige Gesellschaft, so der Autor, auf unmoralischste Weise mit ihrem kostbarsten Gut.

Von der Dramaturgie und der Spannung her hat der Roman einiges zu bieten und ist geschickt aufgebaut, auch die Figuren sind genau gezeichnet. An manchen Stellen habe ich über den Wortwitz gelacht, doch allzuoft bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Diese schwer verdauliche Kost, die mit massiven Angriffen gegen Missstände nicht spart, kommt stellenweise auch brutal und ganz schön hart daher. Hier trifft Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ auf Aldous Huxleys Anti-Utopie „Schöne neue Welt“.

Doch wenn es keinen ausgleichenden heiteren oder zumindest positiven Ausgleich dazu gibt, so wird der Eindruck eines einseitigen moralisauren Traktats recht bald zu viel. Eine leichte, distanzierte Ironie habe ich hier schmerzlich vermisst. Zu häufig muss auch der Fortgang der Handlung elenden analytisch-philosophischen, metaphernbefrachteten Klagegesängen weichen.

So wird bald klar: „Yin“ ist keineswegs ein handlungsgetriebener Roman wie der Riesenerfolg „Felidae“ – der ja auch Missstände anprangert –, sondern umgekehrt eine umfassende Gesellschaftskritik , die ein Roman sein möchte. Weniger Dozieren und mehr Erzählen hätten dem Buch sicher gut getan, denn das versteht Pirinçcis durchaus. Dass seine Frau und seine Freunde als seine „schärfsten Kritiker“ dieses Dozieren stehen ließen, spricht nicht gerade für ihre Kritikfähigkeit.

_Ähnliche SF-Werke_

Nun ist ja Pirinçci nicht der erste Autor, der auf den Gedanken verfallen ist, es könne eine Welt ohne das andere Geschlecht geben. Philip Wylie etwa hat in „Das große Verschwinden“ schon in den 1950ern erzählt, wie eine Welt ohne Frauen darin aussähe: Männer und Frauen existieren von nun an in zwei parallelen Welten, aber nicht miteinander.

Frauen haben immer wieder femnistische Utopias für sich erfunden. Charlotte Perkins Gilman, die Autorin der berühmten Story „Die gelbe Tapete“, beschrieb bereits 1914 ein Utopia der Frauen im Jahr 2000: Sie pflanzten mit Hilfe der Parthenogenese, der Jungfernzeugung, fort. Ebenso verfahren die Freien Kriegerinnen in Suzy McKee Charnas‘ exzellentem Zyklus um die Kriegerin Alldera (ab 1974, bis 2000).

Recht detailliert ist das Utopia in „Die Frau am Abgrund der Zeit“, das eine der bekanntesten Autorinnen unserer Zeit zeichnet: Marge Piercy.

Mit Ausnahme vielleicht von Charnas‘ Zyklus kranken alle diese utopischen Erzählungen an zwei Schwächen: Sie dozieren neue Glaubens- und Lehrsätze; und sie sind in aller Regel statische und geschlossene Systeme. Beides macht sie wenig spannend.

In jüngster Zeit hat lediglich die ausgezeichnete farbige US-Autorin Octavia Butler mit ihrer Parable-Trilogie (ein Band folgt noch) ein positiveres, offeneres Bild einer – aber nicht nur – von Frauen bestimmten Gesellschaft nach dem Untergang der heutigen Zivlisation gezeichnet.

_Unterm Strich_

Mag auch der Plot noch so plausibel dargeboten werden, so geht die Handlung einfach unter in dem fortwährenden Dozieren und Ansprangern von Missständen. Ist Pirinçci also „ein einsamer Rufer in der Wüste“? Und wenn schon! Heutzutage muss selbst der Mahner im Lande dem Geschmack des Publikums entgegenkommen, das er erreichen will. So aber dürfte „Yin“ das Schicksal vieler ähnlicher Anti-Utopien teilen: als Fußnote zu enden. „Ja, da war was.“