Sabine Thiesler – Hexenkind

In einem einsamen Waldhäuschen wird Sarah Simonetti brutal ermordet. Ihre Kehle ist so tief durchgeschnitten, dass ihr Kopf fast abgetrennt wurde. Ihr Ehemann Romano ist erschüttert – wer könnte seine Frau ermordet haben? Schnell tauchen aber die ersten Verdachtsmomente auf, denn Sarah hatte einen jüngeren Liebhaber. Als dann die Polizei auch noch bemerkt, dass in der Küche der Trattoria, die die Familie Simonetti betreibt, das größte Messer fehlt, ist für den Chefermittler Donato Neri klar, dass Romano die Tat begangen hat. Kurzerhand nimmt er den Familienvater fest, der seinen behinderten Sohn Edi in der Obhut seiner Großeltern lassen muss und sich fortan in einer winzigen Zelle befindet, die von drei weiteren mutmaßlichen Mördern bewohnt wird.

Rückblende in Sarahs Vergangenheit: 22 Jahre vor ihrem Tod besucht Sarah ihre beste Freundin Katrin beim Campen. Die verbringt gerade ihren Urlaub mit ihrem neuen Freund Franky, in den sie unsterblich verliebt ist. Vom ersten Moment an jedoch fühlen sich Sarah und Franky zueinander hingezogen. In der Nacht schleichen die beiden sich aus dem Zelt und schlafen miteinander. Als Katrin Zeugin dieser leidenschaftlichen Affäre wird, reist sie kurzerhand ab. Doch für Sarah und Franky ist klar, dass sie zueinander gehören. Die beiden ziehen zusammen und bekommen eine Tochter – Elsa. Die ist allerdings nicht so pflegeleicht, wie die beiden sich das wünschen würden. Fast ununterbrochen schreit Elsa. Sarah ist verzweifelt und würde ihre Tochter manchmal am liebsten knebeln, doch Franky rastet zunehmend aus und misshandelt seine Tochter. Als er eines Tages wieder ausrastet und auch Sarah schlägt, packt sie Elsa und flüchtet in die nachbarliche Wohnung – zu Romano. Der hilft Sarah, wo er nur kann, da er sich in sie verliebt hat. Die beiden finden eine neue Wohnung für Sarah und Elsa und bald zieht auch Romano bei den beiden ein.

Franky ist zunächst vergessen. Einige Zeit später jedoch schafft er es, von Sarahs Eltern ihre neue Telefonnummer und Adresse herauszubekommen. Fortan tyrannisiert er seine Ex-Geliebte und bedroht sie. Als Sarah wieder schwanger und von Franky mit einem Messer bedroht wird, überredet sie Romano, in seine italienische Heimat zu flüchten, wo die beiden eine eigene Trattoria eröffnen. Das Familienglück scheint perfekt. Bald kommt der kleine Edi auf die Welt. Eines Tages geschieht allerdings ein weiteres Unglück, Edi stürzt in einen Teich und ist von nun an geistig schwerstbehindert. Elsa, die sich immer vernachlässigt gefühlt hat, weil Edi fast die ganze Aufmerksamkeit ihrer Eltern bekommt, wird immer eifersüchtiger auf ihren kleinen Bruder und beginnt, ihn zu piesacken. Merkwürdigerweise ist Elsa die Einzige, die zu ihm vordringen kann. Dies nutzt sie allerdings schamlos aus und verlangt immer schlimmere Gemeinheiten von Edi. Doch das Unglück der Familie ist noch nicht zu Ende; zwei Ereignisse sind es, die Elsas Leben für immer zerstören werden …

Ein Mord ist der Auftakt zu diesem packenden Thriller. Sarah wird die Kehle durchgeschnitten und hat damit zunächst das ganze Mitleid des Lesers auf ihrer Seite. In vielen Rückblenden erfahren wir allerdings immer mehr über Sarah, das diese in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Schon 22 Jahre vor ihrem Tod beginnt die Unglücksgeschichte. Sie verliebt sich zunächst unsterblich in den begabten Musiker und Komponisten Franky, der allerdings immer mehr Drogen nimmt und dabei auch immer ungeduldiger und brutaler wird. Doch Sarah lässt sich nicht unterkriegen und beginnt ein neues Leben mit Romano. Alles scheint perfekt, doch dauert es nicht lange, bis Sarah merkt, dass sie neben Romano auch Interesse an anderen Männern hat. Auf einer Party verführt sie einen Unbekannten und zerstört damit dessen Leben, da er ihr so sehr verfällt, dass ihn keine andere Frau mehr interessiert. Sarah flüchtet sich immer mehr in ein Lügengespinst; sie liebt Romano zwar, doch trifft sie nebenbei noch andere Männer. Vor ihrem Tod hat sie eine längere Affäre, von der auch ihre ganze Familie wusste, doch Romano will Sarah nicht verlieren und verdrängt, dass seine Frau ihn betrügt.

Elsa spielt zunächst nur eine Nebenrolle. Sie ist das Schreikind, das alle Aufmerksamkeit für sich haben will. Schon früh zeigt sie aber eine Begabung für Mathematik. Bereits im Kindergartenalter liest sie die ersten Bücher und löst immer kompliziertere Rechenaufgaben. Später ist sie Klassenbeste und bereitet ihren Eltern keine Sorgen. Noch später allerdings kommt es zur völligen Entzweiung zwischen Sarah und Elsa. Was hier geschieht, lässt den Leser sprachlos zurück, zu unglaublich ist es, was Sarah ihrer Tochter antut. Romano ist dabei zunächst nur der Nebenschauplatz. Er ist der Mann, der mit viel Liebe seine Trattoria führt und unendlich viel erdulden muss, weil er seine Frau so sehr liebt, dass er selbst darüber hinwegsehen kann, dass sie neben ihn noch einen anderen Mann liebt.

„Hexenkind“ ist kein gewöhnlicher Thriller, denn die Suche nach dem Mörder und die polizeilichen Ermittlungen spielen so gut wie keine Rolle. Schon früh nach der Tat springt Sabine Thiesler in die Vergangenheit, um die Geschichte der Familie Simonetti aufzurollen. Dabei muss sie weit zurückgehen, um an den Anfang der Unglücksgeschichte zu gelangen. Nach und nach zeichnet sie Sarahs Leben auf, das zunächst perfekt scheint, dann aber immer mehr zerbröckelt, da Sarah an sich eine ganz neue Facette entdeckt, die ihr Liebesglück zu zerstören droht. Während man anfangs noch mit Sarah fühlt, sammelt nach und nach Sarahs Mörder – wer auch immer es ist – Sympathiepunkte, da er einen Menschen ermordete, der so viele andere Existenzen auf dem Gewissen hat.

Sabine Thiesler springt sehr oft in den Zeiten hin und her, was anfangs etwas verwirrt, doch bald ist man so tief in die Geschichte versunken, dass man sich an diesen Wechseln gar nicht mehr stört. „Hexenkind“ ist das gelungene Psychogramm einer kaputten Familie, die ein Unglück nach dem anderen verkraften musste. Natürlich sind diese Zwischenfälle nicht spurlos an den Beteiligten vorübergegangen. Zwangsläufig entwickeln die Charaktere sich in eine Richtung, in die sie nicht immer freiwillig gehen wollten, die ihnen in ihrer Trauer aber aufgezwungen wird. Die Zeichnung der Hauptcharaktere nimmt daher viel Raum ein und gelingt der Autorin auch ausgesprochen gut. Zwar fällt es schwer, Sarahs Handlungsweise nachzuvollziehen, doch gerade Romano und Elsa, die unter Sarah am meisten zu leiden haben, gewinnen immer mehr an Profil.

Je mehr wir über Sarah und ihre Familie erfahren, umso packender und spannender wird das Buch, was zwangsläufig dazu führt, dass man „Hexenkind“ regelrecht verschlingt. Während ich mit Sabine Thieslers [Debütroman 3317 nicht so recht warmgeworden bin, hat mich ihr zweiter Roman von Beginn an gepackt und nicht mehr losgelassen, bis ich das Buch endlich durchgelesen hatte. Auch wenn sich schon fast 100 Seiten vor Ende abzeichnet, wie Sarahs Mord abgelaufen ist, verliert der Thriller nie an Spannung, da durch dieses Wissen neues Unglück droht und dem Leser klar wird, dass die Mordserie wahrscheinlich noch nicht abgerissen ist. Nach und nach erkennen auch die Romanfiguren, wer hinter Sarahs Mord steckt. Doch der Preis, den sie für diese Erkenntnis zahlen müssen, ist hoch. Das Ende fügt sich schließlich stimmig in die Handlung ein, erschüttert nochmals, überzeugt gerade dadurch aber sehr.

Taschenbuch: 576 Seiten
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