Ani, Friedrich – Wer tötet, handelt

Friedrich Ani gehört zu Deutschlands beliebtesten Krimiautoren. Er hat unter anderem auch schon Drehbücher für den ARD-Klassiker „Tatort“ geschrieben. Bekannt ist er vor allem für seine Reihe um den kauzigen Kommissar Tabor Süden, die er 2005 abschloss. Seitdem hat er zwei weitere Serien entwickelt: Zum einen hat er Hauptkommissar Polonius Fischer ins Leben gerufen, zum anderen den erblindeten Ex-Ermittler Jonas Vogel, der sich mit seiner Behinderung einfach nicht abgeben will. Nachdem in der ersten Geschichte um Jonas Vogel, [„Wer lebt, stirbt“, 3846 von Vogels Unfall erzählt wurde, geht es im zweiten Band der Reihe „Der Seher“ vor allem darum, wie Vogel und sein Umfeld mit der neuen Situation zurechtkommen.

Wenn es nach Jonas Vogel ginge, würde alles beim Alten bleiben, abgesehen davon, dass er nichts mehr sieht und einen Bobtail namens Roderich als seinen nicht ausgebildeten Blindenhund stets bei sich hat. Seine Familie sieht das anders. Esther, seine alkoholabhängige Ehefrau, fühlt sich von ihrem Ehemann entfremdet, während die erwachsenen Kinder Kathrin und Max, der ebenfalls bei der Polizei arbeitet, wütend auf Jonas Vogel sind. Er nimmt überhaupt keine Rücksicht auf die labile Esther und setzt der Situation die Krone auf, als er sich ungefragt in die Ermittlungsarbeit der Mordkommission einmischt.

Eines Abends, nach einem fruchtlosen Gespräch mit seinem Sohn Max über Jonas‘ Erblindung, begegnet Jonas Vogel auf dem Heimweg einem jungen, halbnackten Mann, der davon redet, dass er mit seiner Freundin in deren Wohnung überfallen worden ist. Die Freundin, Silvia Klages, ist nach wie vor in der Gewalt des Einbrechers und in Jonas Vogel kommen unangenehme Erinnerungen hoch. Silvia Klages hatte vor Jahren die Ermordung ihrer eigenen Eltern mitansehen müssen und glaubt seitdem, die Schuld für deren Tod läge bei ihr. Vogel ist klar, dass die Frau völlig verängstigt sein muss, und er sieht keine andere Möglichkeit, als sich gegen sie austauschen zu lassen. Selbstverständlich haben nicht nur Max, sondern auch der Leiter der Mordkommission etwas dagegen. Immerhin ist Jonas blind. Doch er lässt sich nicht beirren und nimmt den Platz der jungen frau ein. Erst als er dem Entführer gegenübersitzt, ahnt er, worauf er sich da eingelassen hat …

„Wer tötet, handelt“ glänzt vor allem durch seine Charaktere. Ani konzentriert sich ungewöhnlicherweise weniger auf Täter, Opfer und Ermittler, sondern rückt die Familie Vogel in den Vordergrund. Silvia Klages sowie der Täter kommen nicht zu kurz, doch bleiben sie weit weniger haften als Jonas, Max und Esther. Deren zwischenmenschliche Konflikte werden sehr stark thematisiert ohne zu langweilen. Das gelingt dem Autor vor allem dank der Tatsache, dass seine Figuren mehr hinsichtlich ihrer Schwächen als ihrer Stärken dargestellt werden. Dazu gehören Vogels verschlossenes Verhalten oder auch der regelmäßige Alkoholkonsum in der Familie. Ani schönt nichts, was es dem Leser erlaubt, sich mit den authentischen Figuren zu identifizieren.

Ähnlich wie der erste Band der Reihe geht die eigentliche Kriminalhandlung durch die Fokussierung auf die Vogelschen Familieninterna ein wenig unter. Wer einen spannenden, unterhaltsamen Krimi zum Mitraten erwartet, wird herb enttäuscht. Ani interessiert sich nicht für technische Ermittlungsarbeit. Der Täter ist von Anfang an bekannt, einzig seine Beweggründe bleiben vorerst verborgen. Die klären sich im Gespräch mit Vogel, während die beiden in Silvia Klages Wohnung ausharren, bis die Polizei die Forderungen des Täters nach einem Auto und Geld erfüllt hat. Auch an dieser Stelle geht es vornehmlich um die Psyche von Henning, wie der Einbrecher sich nennt, und weniger um Action. Eine Spannungskurve zeichnet sich in der Geschichte nicht ab, doch trotzdem kann Friedrich Ani überzeugen, denn die Handlung ist flott erzählt und kommt ohne unnötigen Ballast aus.

Dass eine Handlung, die sich hauptsächlich auf Zwischenmenschliches stützt, ohne schmückendes Beiwerk auskommt, klingt im ersten Moment paradox. Dies ist Anis virtuosem Schreibstil zu verdanken, der diesen Widerspruch auflöst. Der Autor schafft es, Emotionen und Sachverhalte mit wenigen Worten so farbig zu schildern, dass der Leser die Situationen versteht, ohne bis ins Detail aufgeklärt worden zu sein. Es entsteht eine sehr lebendige Atmosphäre, vornehmlich durch knappe Sätze und Dialoge hervorgerufen, die den Leser nicht mehr loslässt.

Es ist vorbildlich, wie Ani mit wenigen, sparsamen Mitteln die Geschichte zum Leben erweckt. Das gelingt nur wenigen Autoren in dieser Form. Allerdings kommt „Wer tötet, handelt“ nicht ohne Kritik aus: Obwohl das Buch auch so funktioniert, hätte ein mitreißender Kriminalfall dem zweiten Band der Reihe „Der Seher“ nicht geschadet. Im Vergleich mit dem ersten Band hat sich Ani allerdings gesteigert, und wer weiß? Vielleicht hat er es ja zu seiner Maxime gemacht, sich von Band zu Band zu verbessern. In diesem Fall warten wir gespannt auf sein nächstes Buch.

http://www.dtv.de
http://www.friedrich-ani.de

|Siehe ergänzend dazu auch unsere [Rezension 3563 zur Lesung von „Wie Licht schmeckt“.|

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