Leslie Silbert – Der Marlowe-Code. Historischer Thriller

Zeitversetztes Agenten-Stelldichein

Im London der Gegenwart wird ein Buch mit Geheimdokumenten aus der elisabethanischen Zeit beinahe von einem Einbrecher geraubt. Der Besitzer lässt das Buch von einer amerikanischen Privatdetektivin namens Kate Morgan entziffern. Tatsächlich stammt das letzte Dokument von dem bekannten Dichter Christopher Marlowe, der für den Geheimdienst ihrer Majestät Elizabeths I. arbeitete und im Frühjahr 1593 meuchlings ermordet wurde. In diesem Jahr spielt die andere Hälfte des Romans. Spannend ist das Agentenleben.

Die Autorin

Die Figur Kate Morgan ist sozusagen das Alter Ego der Autorin Leslie Silbert. Diese ist Renaissance-Spezialistin und Privatermittlerin in einer der „angesehensten“ New Yorker Detekteien, schreibt der Verlag.

Handlung

Das elisabethanische London des Jahres 1593 stellt die Kulisse für einen der beiden Handlungsstränge. Christopher Marlowe, der Autor von „Doctor Faustus“, ist als erfolgreicher Bühnendichter nicht nur Shakespeares schärfster Konkurrent (er hat einen Kurzauftritt in dem Hollywoodstreifen „Shakespeare in Love“), sondern auch ein abenteuerlustiger Spion im Auftrag Ihrer Majestät und ihres Geheimdienstleiters Francis Walsingham. Dieser ist 1590 gestorben. Die Szene, in der sich Kit Marlowe die Karten legen lässt, spielt drei Jahre nach Walsinghams Ableben, also im Frühjahr 1593, und dient nur dazu, ihn zu charakterisieren. Er erfährt, dass er, sollte kein Engel eingreifen, noch vor Vollmond sterben wird – und schert sich einen feuchten Dreck darum.

Kate Morgan ist die ebenso intelligente – zwei Harvard-Abschlüsse! – wie schöne Mitarbeiterin der CIA, die sich im New York City um 2002 als Privatdetektei Slade Group tarnt. Unter diesem Deckmantel erledigt Kate auch schon mal die Drecksarbeit, besonders in ihrer Eigenschaft als Agentin.

Diesmal jedoch ist ihre Qualifikation als Renaissance-Spezialistin gefragt. Einem Finanzgenie in London wollte ein Einbrecher ein merkwürdiges altes Buch klauen, das den Titel „Anatomie der Geheimnisse“ trägt. Der Versuch kostete den Einbrecher das Leben. Bei einer ersten informellen Analyse stößt Kate auf Geheimchiffren des elisabethanischen Geheimdienstes – puh, dieses Konvolut scheint brisante, kodierte Dokumente zu enthalten. Dadurch könnte der eine oder andere Herzog im Nachhinein vielleicht seinen Titel oder Wertvolleres verlieren. Ihr Mandant Cidro Medina ist gewarnt. Der Auftraggeber des Einbrechers ist ein Strippenzieher, der sich „Jade Dragon“ nennt. Kate erfährt von ihm, als ein weiterer gedungener Gauner ihr das Buch auf offener Straße entreißen will.

1593: Kit Marlowe erhält den Auftrag, eine dubiose Handelsgesellschaft auszukundschaften, die im Verdacht steht, gegen englische Waffen wertvolle orientalische Waren einzutauschen. Diese Waffen scheinen aus der Waffenkammer der Königin zu stammen. Doch schon bald bekommt der tüchtige Kit mehr heraus, als seinem Auftraggeber Robert Cecil und dessen Konkurrent, Graf Essex‘ Mann Phelips, lieb sein kann. Schon nach kurzer Zeit sieht er sich Intrigen ausgesetzt, die ihn den Kopf kosten könnten. Doch auch Kit hat Freunde.

2002: Kates Chef Jeremy Slade und ihr Vater Donovan Morgan stellen zu ihrer größten Bestürzung fest, dass einer ihrer tüchtigsten Agenten, der den Decknamen „Acheron“ trägt, nicht wie berichtet im Gefängnis des iranischen Geheimdienstes gestorben ist, sondern von dessen Leiter Azadi an einen professionellen Erpresser übergeben wurde. Dieser „Luca de Tolomei“ schickt sich an, den im Stich gelassenen Agenten in die USA zu schaffen und gegen die beiden CIA-Leute zu verwenden. Wenn „Acheron“ auspackt, können eine Menge Leute an der Spitze der Regierung einpacken. Unter Umständen auch der Präsident.

Doch de Tolomeis Plan ist noch weitaus raffinierter. Er benutzt Kate, um ihren Vater zu treffen. Denn Rache ist süß. Und sobald sie die letzte Seite der „Anatomie der Geheimnisse“ mit Hilfe von Marlowes letztem Gedicht „Hero und Leander“ entschlüsselt hat, scheint Kates Schicksal besiegelt.

Mein Eindruck

Das klingt doch recht annehmbar, sowohl als historischer Krimi mit ironischen Untertönen, als auch als moderner Agententhriller mit romantischen Einlagen. Die Autorin kennt offensichtlich die englische Renaissance in der Epoche Elizabeths I. ebenso genau wie ihre Schauplätze in London, New York und Rom. In ihrem Nachwort erklärt sie detailliert, wie sie zu ihren Aussagen hinsichtlich gewisser Details bei der Ermordung Kit Marlowes gekommen ist. Denn bei seinem Tod gab es drei Zeugen, doch welcher ist der Mörder? Und hätte er vielleicht doch auf irgendeine Art und Weise überleben können? In dieser Epoche, die voll war von Aberglauben, Ketzerverfolgungen und Magiern, scheint beinahe alles möglich.

Der Roman gehorcht zahlreichen Gesetzen des Genres und der Form – dafür haben sicher schon die Lektoren und Verleger gesorgt, bei denen sich die Autorin überschwänglich bedankt. Daher gelangt die doppelte, verschlungene und sich reflektierende Handlung trotz aller Schwächen wohlbehalten ans Ziel. Die Schurken werden nicht glücklich, und die Guten kommen davon – wieder einmal ist die Welt gerettet. Und doch scheinen einige Szenen zu fehlen.

Ein Buch für Frauen

Ein männlicher Leser wie ich merkt der Geschichte deutlich an, dass sie nicht für Männer, sondern für Frauen geschrieben wurde. Da taucht mit einer rassigen Italienerin namens Adriana eine Londoner Investmentmaklerin auf, die nichts weiter zu tun hat, als der Heldin Stichwörter zu geben und ihr gut zuzuhören. Und ihr die neuesten Klatschgeschichten über die Londoner High Snobiety zu verklickern. Männer dürften hierbei vor Gähnen vom Stuhl fallen.

Eine fehlende Szene?

Auch der Plot selbst scheint mir stark feminin geprägt zu sein. Welcher Verbrecher würde es sich einfallen lassen, ein hohes Tier beim CIA dadurch vernichten zu wollen, indem er dessen Tochter mit seinen Untaten konfrontiert? Die Aussicht auf Erfolg dürfte gegen null tendieren, selbst wenn die Überraschung – die hier nicht verraten werden darf – noch so übel ausfällt. Und genau jene Szene fehlt, in der Kate gegen ihren Papi den Aufstand probt und ihm die Freundschaft aufkündigt. Nix da! Alles bleibt schön, wie es ist. Hier springt niemand aus dem Fenster. Schon gar nicht die leidgeprüften Väter.

Kit, der ewige Held

Wesentlich besser gefiel mir daher der Plot um Kit Marlowe. Zwar bleibt er selbst relativ blass (vielleicht setzt die Autorin doch ein wenig zu viel beim Leser voraus), doch dafür treten seine zahlreichen Widersacher umso deutlicher hervor. Nicht alle sind so verschlagen wie Robert Cecil oder so kompetent wie Phelippes und Poley. Andere sind gedungene Schergen und die reinsten Stümper.

War Kit bi?

Welcher Natur Marlowes Sexualität war, wird auch nicht so recht klar – saftige Liebesszenen fehlen hier. Wie die Autorin andeutet, war der Dichter dem eigenen Geschlecht keineswegs abgeneigt, denn als er die als Lee Anderson verkleidete Helen erblickt und er sie als Frau enttarnt, ist er enttäuscht. Das hindert ihn aber nicht, die heterosexuelle Liebe zu verherrlichen, indem er „Hero und Leander“ dichtete. Jedem der Marlowe-Kapitel ist ein Zitat aus einem einer zahlreichen Stücke vorangestellt, die zur ihrer Zeit sehr populär waren – nicht nur weil darin gefochten und gestorben wurde, dass es eine Pracht war. Die Zitate charakterisieren einen Mann, der die Ränke und Illusionen der Menschen durchschaut hatte und sie in einen größeren Zusammenhang stellte und so relativierte. „Dr. Faustus“ weiß auch heute noch anzurühren.

Lesehilfe

Die Fülle der Figuren könnte den Leser zunächst verwirren, doch meinem Leseexemplar war zum Glück eine Karte beigelegt, auf der sämtliche Namen fein säuberlich aufgelistet waren, die der erfundenen Personen ebenso wie jene der historisch belegten. So kann man den Überblick behalten.

Nicht von Dan Brown

Der Titel „Der Marlowe-Code“ ist ein überdeutlicher Versuch des Verlags, an Dan Browns Megaseller „The Da Vinci Code“ – deutscher Titel: „Sakrileg“- anzuknüpfen. Doch gibt es dafür zwar die besten Voraussetzungen, so etwa ein zu entschlüsselndes Konvolut von geheimen Agentenberichten, allein die Umsetzung fällt jedoch im Vergleich zu Browns Werk recht unbefriedigend aus. Hier wird keine spannende Schnitzeljagd veranstaltet. Auch keine Parallelhistorie findet den Weg ans Tageslicht.

Ob unsere gute Kate den Mörder ihres Seelenverwandten Kit (man beachte die Namensähnlichkeit) zu ermitteln vermag? Wer weiß, aber sie hat allzuoft Dringenderes im Sinn – zum Beispiel die Avancen des charmanten Schurken Medina an ihrer Seite. Es ist, wie gesagt, ein Frauenbuch. Am Schluss werden alle losen Enden zusammengebunden, als gelte es, einen Pullover fertigzustricken. Bloß keine Masche fallen lassen! Und fertig.

Die Übersetzung

Insgesamt macht der Übersetzer Klaus Berr einen befriedigenden Job. Doch es gibt auch ein paar Stellen, bei denen sich meine Stirn unwillkürlich runzelte. So ist etwa auf Seite 171 von Oxfords „träumenden Zinnen“ (der Gegenwart) die Rede. Dies geht auf ein – unerwähntes – Gedicht zurück, in dem von Oxfords „dreaming spires“ gesungen wird. Und „spires“ sind nun mal nicht „Zinnen“, sondern (Kirch-)türme bzw. Turmspitzen.

Auf Seite 380 hat der Übersetzer einen Continuity-Fehler der Autorin übersehen. Die ganze Zeit ist von einem Ex-Agenten namens Nick Fontana die Rede, auf Seite 380 wird er plötzlich in „Nick Fortuna“ umgetauft. Auf der vorletzten Seite, nämlich 405, lässt der Übersetzer den deutschen Leser ziemlich im Stich, denn die Autorin hat hier ein wundervolles Wortspiel eingeflochten, das leider nur im Englischen funktioniert: ein Held = a hero, und die Geliebte von Leander heißt (im Gedicht, s. o.) ebenfalls Hero. Und Leander ist Lee Anderson, nur dass dieser wiederum eine Frau namens Helen ist. Klingt kompliziert? Willkommen in der englischen Renaissance!

Unterm Strich

Auch wenn der Verlag mit dem Titel „Der Marlowe-Code“ (Originaltitel: The Intelligencer) auf den Megaseller-Zug von Dan Browns „The da Vinci Code“ aufspringen will, so reicht es doch zu dessen rasantem Tempo nicht ganz. Die Gründe habe ich oben dargelegt.

Für wen eignet sich also dieses Buch?

Für Leser von historischen Krimis, für Leute, die auf Agenten stehen, für Literaturfans, die Marlowe für ihren Gott halten – und natürlich für alle romantischen Seelen, die eine gefahrumwitterte Romanze um keinen Preis der Welt vor dem Ende des Buchs beiseitelegen würden. Vielleicht fühlen sich ja sogar Freunde von Diana Gabaldon angesprochen – wer weiß? Aber denen ist der Schmöker dann wohl wieder nicht dick genug – so wenig Buch für so viel Geld!

Taschenbuch: 415 Seiten.
O-Titel: The Intelligencer
Aus dem Englischen von Klaus Berr.
ISBN-13: 978-3764501396

www.luebbe.de

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