James P. Blaylock – Hokusais Gral

Skurril: Magie gibt es auch im kleinsten Städtchen

Die kalifornische Küste nördlich von San Francisco. Die wertvolle Skizze zu einem japanischen Holzschnitt von Hokusai, die ein alter Mann seinem Museum vermacht hat, will Howard abholen, der lange fort war. Doch der Spender, so heiß es, sei gestorben, und die seltsamen Käuze von Mendocino, die er anspricht, hüllen sich in Schweigen, verdrehen kichernd die Augen und weisen heimlich mit Fingern auf ihn. Selbst sein Onkel Roy und seine Ex-Freundin (und Kusine) Sylvia können ihm anscheinend nicht helfen. Doch dann wird in eines von Onkel Roys Häusern eingebrochen. Offenbar sucht noch jemand nach der Skizze…

Der Autor

Zusammen mit K.W. Jeter („Blade Runner 2“) und Tim Powers („Die Tore zu Anubis‘ Reich“) gilt James P. Blaylock zu Recht als einer der phantasievollsten Autoren der Zunft. Zusammen schuf dieses Trio das Unter-Genre „Steampunk Science Fiction“, eine Mischung als viktorianischem Krimi, Cyberpunk und Science Fiction-Ideen, so etwa „Homunculus“ und „Land der Träume“.

Von Blaylock erschienen mehrere phantastische Romane, so etwa „Hokusais Gral“ und „Die letzte Münze“ bei Heyne sowie bei Ullstein. Mit seinen Fantasyromanen (The Elfin Ship, 1984ff) parodierte er die Tolkien-Hysterie der siebziger Jahre.

Der Elfen-Zyklus:

1) Das Elfenschiff
2) Die Festung des Selznack
3) Der Steinriese

Mehr Info: http://www.sybertooth.com/blaylock/index.htm und http://www.sybertooth.com/blaylock/paper.htm

Handlung

Die rauhe kalifornische Küste nördlich von San Francisco ist ein Fleckchen Erde, an dem sich allerlei menschliches Strandgut einfindet. (Hier lebte eine Zeitlang auch ein schräger Vogel namens Philip K. Dick. Anm. d. Autors) Denkt Howard Barton, als er, mit seinem Wohnmobil aus Los Angeles kommend, die kurvenreiche Küstenstraße entlangtuckert. Im Hinterland leben Autonome, Grüne, vielleicht sogar Anarchisten und Sektierer. Und als er mal nicht aufpasst, räumen sie ihm das Auto aus. Onkel Roy, den er besuchen will, nennt sie die „Kleber“, weil sie einfach auf alles ihre Aufkleber pappen. Onkel Roy wollte mal ein Gespenstermuseum eröffnen und hat auch reichlich Exponate dafür gesammelt.

Beraubt & gefangen

Doch bevor Howard so weit kommt, kehrt er erst einmal bei einer Tankstelle und dann im Haus desjenigen Mannes ein, der ihm und seinem Museum ein Kunstwerk von großem Wert vermacht hat: Michael Graham. Der Mann muss ja schon an die neunzig sein, denkt Howard, doch als er sich bemerkbar macht, tritt ein komischer Kauz auf, der sich Mr. Jimmers nennt. Er behauptet, dass Mr. Graham sich umgebracht habe, indem er sein Auto über die Klippen fuhr. Tatsächlich liegt auf den Küstenfelsen ein Autowrack. Howard ist enttäuscht. Als ihm Mr. Jimmers eine Hausführung anbietet, lehnt er nicht ab – und wird prompt eingesperrt.

Eine Hexe

Erst seine Cousine und frühere Freundin Sylvia Barton holt ihn aus seiner Kerkerhaft, die ihm Mr. Jimmers’ Paranoia eingebracht hat. Mr. Jimmers glaubte, Howard wolle ihm seine viktorianische Maschine klauen. Unbehelligt erreicht Howard ihren Vater, seinen Onkel Roy und dessen Frau, Tante Edith. Hier kann Howard in einem Gästezimmer verschnaufen. Doch mit der Ruhe ist hier auch nicht weit her, denn das Haus ist von Mrs. Heloise Lamey gemietet, einer reichen alten Exzentrikerin aus dem nahen Mendocino. (In einem gesonderten Kapitel scheint Mrs. Lamey wirklich eine alte Hexe zu sein; jedenfalls führt sie sich herrisch auf und sammelt obskure Gebeine von berühmten Verstorbenen.) Howard zahlt ihr einen Scheck für Roys Mietrückstände, und sie zieht zufrieden wieder ab. Aber er wird noch viel mit ihr zu tun kriegen. Sie hat einen Plan mit Howard.

Ein Besuch in Sylvias Trödelladen mit dem esoterischen New-Age-Zeug bringt ihn und sie nicht wieder zusammen, weil Howard im Süden ein Zyniker geworden ist. Auch Sylvias Exverlobter aus Fort Bragg, ein gewisser Timothy Stoat (= Iltis) treibt sich in der Gegend herum und scheint mit der Hexe Mrs. Lamey gut Freund zu sein, was ihn dem eifersüchtigen Howard nicht sympathischer macht. Stoat macht Geschäfte mit Onkel Roy, der eigentlich mit jedem Geschäfte macht, der nicht bei drei auf dem Baum ist.

Der Auftrag

Mit seinem eigentlich Auftrag, eine wertvolle Skizze für einen Holzschnitt des berühmten japanischen Künstlers Hokusai (berühmt ist dessen „Welle von Kanagawa“) von dem verstorbenen Mr. Graham zu beschaffen, kommt Howard nicht weiter voran. Im Gegenteil: Sein Interesse daran, das er mehrfach äußerte, stachelt seinerseits Stoat und Mrs. Lamey dazu an, selbst nach dem Bild zu suchen, u.a. in Howards und Sylvias Wagen. Ein kleiner Mordanschlag gehört durchaus zu Mrs. Lameys Vorgehensweise, um den Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.

Eine unerwartete Entdeckung

Howard hat bemerkt, dass Tante Edith täglich Essen in den nahegelegenen Wald bringt. Als er frühmorgens klammheimlich dem Pfad folgt, stößt er a) auf einen Schrein, in dem seine gestohlenen Sachen zu finden sind und b) auf eine Hütte, in der sich kein anderer als der totgesagte Michael Graham seinen Lebensabend versüßt. Allerdings kann sich Howard ihm nicht zeigen, denn er achtet Roys und Ediths Wunsch, den Mann zu verstecken. Aber was steckt dahinter?

Howard bekommt zunehmend das blöde Gefühl, dass er einfach nicht kapiert, was hier vor sich geht. Aber er gibt nicht auf, nach dem verborgenen Sinn im Treiben seiner neuen Nachbarn zu suchen.

Mein Eindruck

Mendocino ist nicht Napa Valley, hier fließen weder Wein noch Champagner. Die Bewohner der Gegend, in der sich mal Philip K. Dick herumtrieb, müssen aus ihrer randständigen Existenz das Beste machen. Daher sind sie empfänglich für alle möglichen esoterischen Ideen wie etwa Geisterglaube, Reliquien und einen Geist in der Maschine, andererseits sammeln sie jede Art von Resten wie etwa Holzabfälle oder Schrott, um sie zu Geld zu machen. So machen es Roy Barton und seine Kumpane.

Mrs. Heloise Lamey lebt zwar auch hier, doch sie hat einen Plan: Sie will ganz einfach die größte Immobilienbesitzerin der Gegend sein und spielt zu diesem Zweck schon mal hier und da Schicksal, indem sie Bremsbeläge sabotiert – in dieser gebirgigen Gegend mit ihren kurvenreichen Straßen eine tödliche Angelegenheit. Als Mrs. Lamey herausbekommt, was die vier Bartons – Roy, Edith, Howard und Sylvia – vorhaben, steckt sie ihre Nase hinein, um nur ja keine Chance, ihre Macht zu vergrößern, zu verpassen.

Und tatsächlich scheint es mit den Plänen dieses Howard Barton etwas Besonderes auf sich zu haben. Er hat nämlich von dem alten Michael Graham, der so etwas wie der König Artus dieser Küste war, nach dessen Tod einen Stab von gar sonderlicher Macht vererbt bekommen. Und Mrs. Lamey, die soeben die Armknochen des Joseph von Arimathia (er brachte Jesu Gebeine ins englische Glastonbury, wenn man der Legende glauben darf) erworben hat, wittert eine Chance. Mit einer Einladung und einem Trick luchst sie Howard den Stab ab. Doch der Junge ist unerwartet einfallsreich und schon bald dröhnt durch ihr Haus eine Explosion…

Der Stab, der dem neuerdings am Knie verletzten Howard neue Kraft beim Gehen verleiht, ist aber, so ergeben ihre Recherchen, nur die halbe Miete, also hat sie eine weitere Chance. Der wahre Gral ist die Papierskizze des alten Japaners Hokusai, die Graham dem Museum Howards überlassen wollte. Was, wenn auch diese Skizze über verborgene mystische Kräfte verfügen würde? Sie lässt Howard und Sylvia in aller Ruhe bei Mr. Jimmers schnüffeln – und bingo! Sie stoßen tatsächlich in dem alten Autowrack auf den Klippen unter Graham-Jimmers’ Haus auf die Skizze.

Mehr durch Zufall und Schusseligkeit probiert der ungläubige Howard mit dem Blatt Papier herum. Es entgeht Mrs. Lameys Aufmerksamkeit keineswegs, dass die sonst so regenarme Küste von Mendocino plötzlich unter einem heftigen Gewittersturm fast ersäuft. Nun setzt sie alles ins Werk, um Howard die – wie sie glaubt – magische Skizze abzuringen und lässt ihre Handlanger kurzerhand Roy Barton entführen. Jetzt ist für Howard, Edith und Sylvia guter Rat teuer. Aber zusammen mit Mr. Jimmers hecken sie einen Plan aus, wie sie Mrs. Lamey ein Schnippchen schlagen können.

Mein Leseerlebnis

Unbeachtet stand das Anfang 2000 erstandene Buch rund fünf Jahre bei mir rum, bevor ich es zur Hand nahm, weil ich immer wieder über den Autor Blaylock stolperte. Urban Magic Realism? Darunter kann man sich als Fantasy- und SF-Leser nur wenig vorstellen. Und auch bei meinen ersten Versuchen, dieses Buch zu bewältigen, stellte sich anfangs wenig Begeisterung ein. Eindeutig wendet sich der Autor nicht an Jugendliche, sondern an lebenserfahrene Erwachsene als Leser.

Diese Erwachsenen traktiert er natürlich nicht mit Hokuspokus, sondern mit realistischen Begebenheiten in seiner Geschichte. Lediglich die Figuren sind ein wenig schräg, vor allem Roy Barton, der aus jeder Eisfabrik ein Geistermuseum oder Museum moderner Rätsel macht. Hier muss sich Howard Barton, unser Jedermann aus Los Angeles, erst einmal einleben. Mit skeptischen Augen betrachtet er die vielfach verkrachten Existenzen der Gegend, die Kleinkrämer und Rentner, vor allem aber die zwielichtige Mrs. Lamey.

Nach etwa der Hälfte des Buches ist Howard derartig in die Geschehnisse verwickelt, dass sich der Leser die Frage stellen muss: Blick ich jetzt schon durch und lese den Rest in einem Rutsch – oder gebe ich einfach auf und erkläre mich zu einem Idioten? Natürlich entschied ich mich, nach etwa zwei Jahren Bedenkzeit, für die erste Option. Alles klappte auch wunderbar und ich bereute meine Entscheidung nicht.

Das Finale kommt, die Rätsel werden gelöst, die Bedrängten gerettet. So gehört sich das. Der Papiergral funktioniert tatsächlich, allerdings anders, als von von Mrs. Lamey erwartet. Und auch Onkel Roys Entführung verläuft anders als gedacht. Was nun Mr. Jimmers’ Geist in der Maschine angeht, so existiert er, wie Howard schon einmal bezeugt hat, tatsächlich. Der Geist des großen englischen Philosophen und Designers John Ruskin hält für Mrs. Lamey eine Offenbarung bereit, die sie erst einmal verdauen muss. Vielleicht braucht sie dafür den Rest ihres Lebens.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so hat Howard das tolle Haus von Mr. Graham geerbt und seine Sylvia geheiratet – die natürlich gar nicht seine Cousine ist. Dann kann also nichts mehr schiefgehen.

Die Übersetzung

Norbert Stöbe ist selbst Schriftsteller und hat bei Heyne und Fabylon mehrere Romane veröffentlicht. Seine Übersetzung ist stilistisch ausgezeichnet, gut verständlich und fast völlig frei von Druckfehlern. Nur einmal greift er, auf Seite 405, etwas daneben. Ein „Safeway“ ist keine Straße, AUF der man in den USA fährt, sondern ein Supermarkt, ZU dem man fährt. Auch eine „Sähmaschine“ (ca. Seite 440) kommt von „säen“ und wird ohne H geschrieben.

Unterm Strich

Da dies ein phantastischer Roman für Erwachsene ist, würde man nicht erwarten, dass er sich in einem auf jugendliche Leser ausgerichteten Verlagsprogramm – nämlich Fantasy und Science Fiction – findet. Vielmehr würde ich so ein schönes Buch eher als Leinenausgabe (vulgo: Hardcover) herausbringen und einen völlig anderen Klappentext schreiben, nämlich einen, der nicht auf Magie durch Papier abzielt (die überhaupt nicht erklärt wird), sondern mit den skurrilen Figuren argumentieren.

Hier findet ein existentieller Kampf am Rand der Supermacht USA statt, und eine kleine alte Frau schickt sich an, mit Hilfe einer magischen Skizze das Wasser zu beherrschen und immer mehr Macht an sich zu reißen. Ihr und ihren seltsamen, ebenso skurrilen Handlangern stehen ein Sammelsurium von einfallsreichen Leuten gegenüber, die keineswegs wissen, was sie wollen. Ihr Dingsymbol ist Humpty Dumpty aus „Alice hinter den Spiegeln“, der Eiermann auf der Mauer, der sich nicht entscheiden kann und der womöglich bald herabfallen wird. Mrs. Lamey sorgt dafür, dass sie sich bald entscheiden müssen, was sie mit der ihnen anvertrauten Macht – Stab und Skizze – anfangen wollen. Wenn sie ihnen nicht zuvorkommt und danach die Weltherrschaft übernimmt.

Diese einfach skizzierte Grundhandlung hat sicherlich noch mehr Schichten der Bedeutung, aber es ist müßig, diese nun auch noch herauspulen zu wollen. Was mir jedoch besonders gefiel, ist die überall spürbare Sympathie für alle diese Randexistenzen, so böse, skurril, bizarr oder durchgeknallt auch sein mögen. Ihnen hat der Autor schon immer seine ganze Liebe entgegengebracht, so etwa in seiner viktorianischen Phantastik wie etwa „Homunculus“.

Doch die Mühe lohnt sich für den Leser, der bis zum Schluss durchhält, durchaus. Wirkliche Magie wird gewirkt, ob sie nun aus einem Stab, einer Papierskizze oder aus einer uralten Maschine kommen mag. Daher sollte man sich von Anfang auf ein sehr sachtes Ansteigen des Spannungsfaktors gefasst machen, bis sich die Spannung schlussendlich in mehreren Actionszenen entlädt – Beinahe-Weltuntergang inklusive. Merke: Wer mit Magie herumspielt, sollte auch die Statur dafür haben.

Taschenbuch: 542 Seiten
Originaltitel: The paper grail, 1991.
Aus dem Englischen von Norbert Stöbe
ISBN-13: 9783453162280

www.heyne.de

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