Charles de Lint – Die vergessene Musik (Das kleine Land 2)

Magie und die Verwandlung der Welt

Auf dem Dachboden des großväterlichen Hauses stößt Janey auf ein Buch mit dem Titel „Das kleine Land“. Beim Aufschlagen ertönt eine geheimnisvolle Melodie – und John Madden, Großmeister des Ordens der Grauen Taube, wird alarmiert. Ihm ist jedes Mittel recht, um in den Besitz des Buches zu gelangen – und sei es um den Preis von Menschenleben. (Verlagsinfo) Im zweiten Band des Doppelromans spitzen sich die Konflikte zu Showdowns zu – und etwas Wunderbares geschieht …

Hinweis

Dies ist kein Buch für Kinder, sondern für Erwachsene. Es wird von mir erst ab 14 Jahren empfohlen. Dieser Band ist weniger explizit als der erste.


Der Autor

Der 1951 geborene Kanadier Charles de Lint publizierte bereits 1979 seine erste Fantasy-Story und hat sich seitdem als einer der fleißigsten Autoren profiliert. Dabei verfaßte er nicht nur Fantasy, sondern auch einen Horrorroman („Angel of Darkness“, unter Pseudonym) und einen SF-Roman mit dem Titel „Svaha“. Bei uns ist er bislang durch seine zwei Romane für Ph. J. Farmers „Dungeon“ und durch den Fantasy-Roman „Das kleine Volk“ (alle bei Heyne) bekannt geworden.

Es wäre zu wünschen, daß sich seine Fangemeinde vergrößert, um auch die anderen zauberhaften Romane „Into the Dream“, „Yarrow“, „Moonheart“, „Memory & Dream“ und „Spirit Walk“ zu entdecken. Inzwischen hat es De Lint zu seiner Spezialität gemacht, Kurzromane in Eigenherstellung und mit niedrigster Auflage zu Sammlerpreisen anzubieten.

Werke auf Deutsch:

1) Grünmantel (1998)
2) Das kleine Land (1994):
Band 1: Das verborgene Volk
Band 2: Die vergessene Musik
3) Das Dungeon 3: Tal des Donners
4) Das Dungeon 5: Die verborgene Stadt

Handlung

An der Südküste von Cornwall finden sich in der Nachsaison unterschiedlichste Menschen zusammen. Die einen hüten ein altes Geheimnis, die anderen wollen es ihnen abjagen. Die Hüter, das sind die Littles und ihre Freunde, allen voran die Musikerin Janey Little und ihr Großvater, ihr Freund Felix Gavin, ein Seemann, und ihre Freundin Clare Mabley, eine Buchhändlerin. Die Jäger dieses angeblich magischen Schatzes, der offenbar die Gestalt eines bemerkenswerten Buches hat, sind der Großmeister eines weltumspannenden Ordens angeblicher Magier und seine Handlanger.

Der Killer

Dummerweise ist alles nicht so einfach. Während die Littles noch herauszufinden versuchen, WAS sie da eigentlich hüten, geht der Killer, den John Madden, der Ordensmeister, ausgeschickt hat, um das Buch um jeden Preis zu beschaffen, eigene Wege. Den psychopathischen Serienmörder Michael Bett gelüstet es weniger nach diesem blöden Buch, sondern mehr danach herauszufinden, wie seine Opfer funktionieren – und wie lange sie seiner Folter standhalten können. Es verblüfft ihn daher einigermaßen, dass ein Unbekannter ihn von seinem Opfer Clare Mabley abbringt – und sich dann, obwohl er ihn in die Brust geschossen hatte, in Luft auflöst …

Der Weise

Nachdem sie sich vom Schock dieses Angriffs auf ihr Leben erholt hat, begibt sich Clare Mabley zusammen mit Janey Little zu dem einzigen Mann, der die mysteriösen Vorgänge in Mousehole halbwegs erklären könnte. Doch Peter Gonigan, ein alter Jugendfreund ihres Großvaters und dessen Freund Bill Dunthorne, lebt sehr zurückgezogen und drückt sich ein klein wenig rätselhaft aus, um das Mindeste zu sagen.

Es gehe um Magie, behauptet der todkranke Greis, der nur von einer Großnichte gepflegt wird. Um die Magie jenes Buches, das Bill Dunthorn den Littles hinterlassen hat. Es erzählt jedem, der es liest, eine andere Geschichte. Sollte es den Hütern jedoch gelingen, die Magie durch das vollständige Lesen des Buches freizusetzen, werde sich etwas Wunderbares ereignen. Wunderbar genug, um den entschlossenen Angriff von John Madden und seinen Schergen abzuwehren? Diese Konfrontation jedenfalls ist unausweichlich.

Moorspuk bei Mondaufgang

Als wäre dieser Konflikt noch nicht genug, spitzt sich die Auseinandersetzung der Freunde von Jodi Shepherd, dem in ein kleines Wesen verzauberten Mädchen, mit der Hexe Pender zu. Jodi und ihrem Freund Edren ist es gelungen, vor der Hexe und ihrer Monsterkatze zum Hafen zu fliehen. Nach Edrens „Tod“ – er ist ein mechanischer Automat im Kleinstformat – wird Klein-Jodi von ihren Freunden aus dem Hafenbecken gerettet. Ihr Ersatzvater, der Erfinder Denzil Gossip, kann nicht fassen, dass es Hexen, Automaten und Minimenschen gibt. Herrje, jetzt müssen sie auch noch Klein-Jodi zurückverzaubern, damit sie ihre frühere Gestalt wiedererlangen kann!

Es gibt nur einen Ort in der Nähe, an dem dieser magische Akt vollzogen werden kann: Der Men-an-Tol ist ein stehender Stein mit einem großen Loch darin. Passiert man bei Mondaufgang neun Mal dieses Loch, so gelange man ins Feenland – oder werde verzaubert, heißt es. Doch als die Freunde Jodis endlich auf der Moorheide angelangt sind und der Mond aufgeht, geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Sie können Jodi zwar in das Feenland transportieren – schwupps, weg war sie! – aber zugleich greift die Hexe Pender an, mit Wasserleichen und Moorgeistern …

Mein Eindruck

Ein De-Lint-Buch ist immer ein Erlebnis, denn hier ist eine eigenständige Welt zu erforschen. „Das kleine Land“ bildet für diese Regel keine Ausnahme. Der Autor entführt uns in die sehr stimmig und detailreich beschriebene Welt der Bewohner von West-Cornwall. Jede einzelne Figur dieses „verborgenen Volks“ ist in zahlreichen Merkmalen erfasst, so dass selbst bei kurzen Auftritten wie dem des Malers ein Gefühl für sein Innenleben und seine Motivation entsteht.

Viele dieser Menschen halten sich irgendwie über Wasser, sei es mit Diebstahl, Prostitution oder eben Musizieren. Sie sind aber unabhängig, nachdem das Leben ihnen mehr oder weniger übel mitgespielt hat. Durch ihre Unabhängigkeit sind sie empfänglich für die besondere Magie, die ihre Gegend ausstrahlt. Und wenn ein Mann doch einmal zu vernünftig ist, wie etwa Denzil der Erfinder, dann wird er rasch eines Besseren belehrt, als seine Nichte Jodi wieder auftaucht, verwandelt in ein kleines Däumelinchen.

Dieser zweite Band setzt selbstverständlich die Kenntnis des ersten voraus. Während dort, die Figuren vorgestellt wurden und es erste, noch rätselhafte Begegnungen und Konflikte gab, so müssen sich viele dieser Figuren transformieren, indem sie geheimes Wissen erwerben und es passend anwenden. Wer dies nicht schafft, wird das Ende der hier geschilderten Handlung nicht erleben …

„Ursprüngliche Musik“

Das geheime Wissen – das sagt sich so leicht. Tatsächlich finden Janey, Jodi und ihre Gefährten das Wissen nicht in dem Buch von Billy Dunthorn und auch nicht in den Erklärungen des weisen Peter Goninan. Diese Dinge liefern lediglich hilfreiche Hinweise. Aber die eigentliche Erkenntnis und ihre Umsetzung in rettende Aktionen müssen die beiden Heldinnen in sich selbst finden.

Das ist nicht das einzige Bemerkenswerte an diesem Buch. Das geheime Wissen, das andere auch „Magie“ zu nennen belieben, ist überall um uns herum, es ist in unseren Genen und hörbar vor allem in unserem Herzschlag: „Dumm-dum“ ist der grundlegende Rhythmus für die Magie, die in der „ursprünglichen Musik“ der Welt pulsiert. Sowohl Janey als auch Jodi verbinden diese „vergessene Musik“ entweder mit der Anderwelt der kleinen Leute, wo sie Chaos anrichtet (in Jodis Fall), oder mit der äußersten Bedrohung durch den Magier John Madden selbst: Dann wird die Magie zu einer Brücke, die ein Bewusstsein in beiden Richtungen überqueren kann.

Die Guten

In einer wunderbaren Szene gelingt es Janey Little auf diese Weise John Maddens Opfer Felix Gavin und Clare Mabley vor dem Wahnsinn zu retten, in die er sie gestürzt hat. Madden ist ein Telepath, der die Herrschaft über Menschen – er nennt sie „Schafe“ – erringt, indem er ihre schlimmste Angst weckt, so dass sie vor Furcht erstarren. Janey, ausgestattet mit dem Wissen um die befreiende Musik der Magie, dreht den Spieß um – und nimmt Madden seine eigene Magie. Er wird ironischerweise selbst zu einem „Schaf“. In diesem wehrlosen Zustand ereilt ihn seine Nemesis. Die Welt ist einen weiteren Tyrannen los.

Merke: Die vergessene Musik ist eine Art der Magie, die befreit und bereichert. Sie ist in allen Dingen um uns herum, in Schönheit, Tanz und Rhythmus. Sie wird geweckt von der Musik, die man im Einklang mit ihr hervorbringt. Und wenn man wie Jodi den Men-an-Tol als Brücke benutzt, kann die Magie der Anderwelt unserer prosaischen, ach so „vernünftigen“ Welt ein wenig Zauber vermitteln. Wer genau hinhört, vernimmt sie im Rauschen der Wellen und in den Schreien der Möwen und Seeschwalben.

Die Schurken

Neben John Madden spielen drei Schurken eine gewisse Rolle. Lena Grant verführte im ersten Band Felix Gavin auf höchst perfide Weise. Doch die Begegnung hat sie berührt, ja in ihr sogar verschüttete Gefühle erweckt. Sie erkennt, dass ihr Orden der Grauen Taube zwar grundsätzlich etwas Gutes will, von John Madden aber in etwas Böses pervertiert wurde: zu einem Instrument seiner egozentrischen Machtausübung. Lena wird bekehrt.

Wesentlich weniger Erfolg hat die vergessene Magie mit Michael Bett, dem Psychokiller. Er schnappt sich Janeys Großvater und foltert ihn – das ist keine Szene für Kinderaugen. Was aus Mike bett wird, darauf muss der Leser lange warten. Der daraus entstehende lange Spannungsbogen trägt das letzte Fünftel des Romans. Wer sich mit Schurken auskennt, etwa mit Macbeth oder Richard III, weiß, dass sie kein gutes Ende verdienen. Mike Bett, dem Möchtegern-Sohn von John Madden, ergeht es keinen Deut besser. Mehr darf nicht verraten werden.

Die hinterlistigste Attacke auf Janey Little und das Geheimnis ihrer Magie stellt das Auftauchen ihrer Mutter dar. Connie Hetherington wuchs in Mousehole auf, doch sie machte sich aus dem Staub, sobald sie einen Pornoproduzenten antraf, der sie aus diesem „Mauseloch“ herausholte und nach New York City, in die große weite Welt des – Pornofilms holte.

Mittlerweile Ende Vierzig reut es sich doch ein ganz klein bisschen, dass sie seinerzeit ihr Baby einfach so weggab. Ob sie Janeys Herz nach so langer Zeit erreichen kann, darf nicht verraten werden. Aber die von Janey und Jodi herbeibeschworene Magie der Anderwelt erreicht auch Connie und verändert sie…

Die Witwe Pender, ihres Zeichens böse Hexe, wirkt ihren Zauber und verwandelt Menschen in Menhire. Doch Jodi entkommt ihr zum Glück durch den Men-an-Tol ins Anderland. Die wütende Rache der Hexe droht die gesamte Bucht, an der Mousehole, Penzance und andere Dörfer liegen, in einem Gewittersturm zu verwüsten. Wer kann sie aufhalten? Es ist leichter als erwartet …

Die Übersetzung

Wie so viele Heyne-Bücher weist auch dieses etliche Druckfehler auf. Sie halten sich aber in Grenzen.

S. 15: „dann verspürte er den Drang, sich wieder hin[zu]legen…“ Die Silbe „zu“ fehlt.

S. 131: „die Anerkennung ihre[r] Existenz“

S. 134: „Wie?“ fragte Clare. „Wozu?“ fügte Clare hinzu. — Warum fragt Clare anscheinend zweimal in zwei verschiedenen Zeilen? Ganz einfach: Die erste Frage (an Peter Goninan) wird nicht von ihr, sondern von Janey Little gestellt. Der Übersetzer hat die beiden Namen durcheinander gebracht.

S. 218: „das Tier, das er in DER Augen der Welt war“. Korrekt muss es „in DEN Augen der Welt“ heißen.

S. 219: „Und er war auch ein Teil davon. Nicht besser oder schlechter als [dieser] ein verdorrter Farnwedel.“ Das Wort „dieser“ ist überflüssig und verwirrt lediglich. Streichen!

S. 252: „Sie/Jodi (…) trat über die seltsame Grenze, dann verharrte [sie] mit einem Fuß in ihrer, mit dem anderen in seiner Welt.“ Das Wörtchen „sie“ fehlt.

Man sieht also, dass es sich lohnt, ganz genau aufzupassen, wo ein Wort fehlt oder zuviel ist, um nicht völlig von der Übersetzung verwirrt zu werden.

Die suggestiven Illustrationen von Johann Peterka fand ich teils sehr passend, teils weniger.

Das Titelbild

…ist diesmal halbwegs passend. Vorne sehen wir ein Mädchen auf einem Stein kauern, doch im Hintergrund erscheint zwischen riesigen Menhiren ein Wesen im Mondlicht, das wegen seiner Flügel und unheimlichen bzw. riesigen gestalt sehr unheimlich und bedrohlich wirkt. Das passt schon eher zu der Szene auf der Moorheide, in die Jodi Shepherd und die Hexe verwickelt werden.

Unterm Strich

Bei „Das kleine Land“ (im Original „The Little Country“ ist der Titel ein Wortspiel: das (kleine) Land der Littles wie auch der Kleinen) handelt es sich, im positiven Sinn, um eine Geschichte, die von Erwachsenen handelt und für Erwachsene geschrieben wurde. Hier kommen Sex, Folter, ein Mordanschlag und der Tod einer Hexe vor. Das sind furchterregende Momente voll Gewalt und Grenzüberschreitung.

Aber es gibt auch Wiederauferstehung, Erlösung und Wiedergeburt. Die von Janey und Jodi geweckte „ursprüngliche Musik“ weht als leise Magie in unsere Welt herüber und verwandelt sie, ganz allmählich, wenn wir es nur zulassen. Nach der Serie der Zerstörungen folgt nun im zweiten Band eine Reihe der Verwandlungen, Bekehrungen und schließlich der Heilung der Welt. Es ist ein Versprechen. Jeder, der es erkennt, kann es einlösen. Das ist ein wunderbares Geschenk des Autors an seine Leser.

Dieses Wunder ist dem Sieg über das Böse abgerungen, kommt also keineswegs ohne Preisschild daher. Und dieser Kampf, der von Janey und Jodi auf mehreren Ebenen geführt wird, sorgt bis zum Schluss für einen langen Spannungsbogen. Der Doppelroman verwebt seine gute Botschaft in unterhaltsame Action, die sowohl für weibliche wie auch für männliche Leser interessant ist. Diese Leser sollten m. E. mindestens 14 Jahre alt sein. Es handelt sich sicherlich nicht um ein Buch für Kinder.

Schade, dass der Heyne-Verlag all die schönen Lieder, die Jane und Clare spielen und die der Autor im Original mitlieferte, wegließ. So können wir uns gerade mal über eine Liste dieser Lieder freuen und wundern, die auf Seite 413 abgedruckt ist.

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Broschiert: 412 Seiten
Originaltitel: The Little Country, 1991, Teil 2
Aus dem kanadischen Englisch von Norbert Stöbe
ISBN-13: 978-3453079984

www.heyne.de