Charles de Lint – Das verborgene Volk (Das kleine Land 1)

Fantasy für erwachsene Leser: voll Magie, Sex und Tod

Auf dem Dachboden des großväterlichen Hauses stößt Janey auf ein Buch mit dem Titel „Das kleine Land“. Beim Aufschlagen ertönt eine geheimnisvolle Melodie – und John Madden, großmeister des Ordens der Grauen Taube, wird alarmiert. Ihm ist jedes Mittel recht, um in den Besitz des Buches zu gelangen – und sei es um den Preis von Menschenleben. (Verlagsinfo)

Hinweis

Dies ist kein Buch für Kinder, sondern für Erwachsene. Von mir erst ab 16-18 Jahren empfohlen.

Der Autor

Der 1951 geborene Kanadier Charles de Lint publizierte bereits 1979 seine erste Fantasy-Story und hat sich seitdem als einer der fleißigsten Autoren profiliert. Dabei verfasste er nicht nur Fantasy, sondern auch einen Horrorroman („Angel of Darkness“, unter Pseudonym) und einen SF-Roman mit dem Titel „Svaha“. Bei uns ist er bislang durch seine zwei Romane für Ph. J. Farmers „Dungeon“ und durch den Fantasy-Roman „Das kleine Volk“ (alle bei Heyne) bekannt geworden.

Es wäre zu wünschen, dass sich seine Fangemeinde vergrößert, um auch die anderen zauberhaften Romane „Into the Dream“, „Yarrow“, „Moonheart“, „Memory & Dream“ und „Spirit Walk“ zu entdecken. Inzwischen hat es De Lint zu seiner Spezialität gemacht, Kurzromane in Eigenherstellung und mit niedrigster Auflage zu Sammlerpreisen anzubieten.

Werke auf Deutsch:

1) Grünmantel (1998)
2) Das kleine Land (1994):
Band 1: Das verborgene Volk
Band 2: Die vergessene Musik
3) Das Dungeon 3: Tal des Donners
4) Das Dungeon 5: Die verborgene Stadt

Handlung

An der Südküste von Cornwall lebt ein eigenartiges Völkchen. Weit entfernt von der großen metropole London lieben sie es, in alten Schmugglerhäfen ihren eigenen Vorlieben zu frönen. Janey Little etwa singt und musiziert für ihr Leben gern – und hat schon ein paar Platten aufgenommen. Sie wäre vor Jahren sogar auf Tournee gegangen, wäre nicht ihr Freund Felix Gavin dagegen gewesen. Es kam zum Streit, er ging zur See, sie blieb. So geht es eben.

Das Buch

Mittlerweile hat sie ihn schon fast vergessen, als sie auf dem Dachboden des alten Hauses, unter dessen Dach sie wohnen darf, in einer Schatulle ein bemerkenswertes Buch findet. Sie wusste ja schon als Kind, dass William Dunthorne, der Freund ihres Großvaters Tom Little, Geschichten schrieb und ein Buch nach dem anderen veröffentlichte. Doch dieses hier kannte sie noch nicht: DAS KLEINE VOLK heißt es, und es existiert in nur einem einzigen Exemplar. Als sie es aufschlägt, ertönte eine geheimnisvolle Melodie. Sogleich macht sie sich neugierig an die Lektüre.

Da sie aber an diesem Abend einen Auftritt hat, lässt sie das Buch auf einem Teetisch liegen. Der Seemann Felix Gavin, gerufen von einem Brief, der, wie er glaubt, von ihr stammt, tritt in das unverschlossene Haus ein und beginnt ebenfalls, das Buch zu lesen, als läge ein Zauber darauf. Doch wenig später dringt ein Unbekannter ein, um das Buch zu stehlen. Mit aller Kraft gelingt es Felix, das Buch zu beschützen. Der Unbekannte entkommt, aber mit leeren Händen. Er ist bei weitem nicht der erste Möchtegernräuber, erzählt ihm Janey später.

Der Killer

Dieser Dieb wurde, wie schon zahllose vor ihm, von John Madden geschickt. Madden, nun ein in den USA lebender Millionär, war einst der Rivale von Thomas Little, hat es aber durch krumme Touren nicht nur zu Reichtum, sondern auch zum Großmeister des Ordens der Grauen Taube gebracht. Er will nichts geringeres als die Weltherrschaft und betrachtet alle Erdlinge als „Schafe“ – außer jenen, die mit ihm in der Führungsetage herrschen.

Er glaubt immer noch wie früher an Magie und dass ihm Zauberkräfte, wie sie das Buch angeblich besitzt, zustehen. So setzt er, alarmiert durch den gescheiterten Raub des Buches, einen weiteren Mann in Marsch. Doch Michael Bett, ein psychopathischer Serienmörder seit seinem elften Lebensjahr, hat einen erweiterten Auftrag: Er hat die Lizenz zum Töten.

Als Janey Little mitten in der Nacht nach Hause heimkehrt, entdeckt sie den schlafenden Felix Gavin auf ihrem Sofa. Die Wiedersehensfreude ist groß – aber begrenzt. Soll sie ihn wirklich zurücknehmen?

Die Hexe

Janeys Nichte ist Jodi Shepherd, und Jodi ist wie alle Mädchen ihres zarten Alters von nicht mal elf Jahren ein Ausbund an Neugier. Die Hafenjungs erzählen jede Menge Unsin, schon klar, aber diesmal spitzt Jodi die Ohren. Diese auf unheimliche Weise stets ganz in Schwarz gekleidete Witwe Pender beispielsweise – na, wenn das nicht ne veritable Hexe ist! Ratty Friggens will bei ihr im Haus sogar einen kleinen Mann, einen Kobold, gesehen haben! Und sie besitzt eine Katze namens Windle mit einem furchteinflößenden Gebiss – na, wenn das kein Beweis ist!

Nichts kann Jodi davon abhalten, nächtens in das Haus der Witwe Pender einzudringen. Als diese sie überrascht, tut sie erst ganz freundlich. Doch als Jodi wirklich einen kleinen Mann entdeckt, der in einem Aquarium lebt, muss die Witwe sie leider verwandeln. Jodi erwacht in einem Traum. Denkt sie. Dass dies aber kein Traum ist, den sie da im Aquarium erlebt, beweist ihr ihr pessimistischer Nachbar und Leidensgenosse Edern Gee mit einfacher Logik: Sie kann nicht aus dem Aquarium herausklettern, denn dessen Wände sind viel zu glatt. Und Windle, die Monsterkatze, wartet draußen bereits auf eine saftige Kobold-Mahlzeit …

Die Flucht

Jodi jedoch lässt sich nach Überwindung des ersten Schocks nicht unterkriegen. Sie entwickelt einen Plan, wie sie dieses Gefängnis wieder verlassen kann. Ihr Herz wummert, als sie Edern für ihren Fluchtplan einspannt und sich daran macht, durch das Ofenrohr zum Fenster und von dort hinaus in die Rosenbeete zu klettern. Doch sie hat nicht mit dem Auftauchen von Windle, der Monsterkatze, gerechnet …

Mein Eindruck

Ein De-Lint-Buch ist immer ein Erlebnis, denn hier ist eine eigenständige Welt zu erforschen. „Das kleine Land“ bildet für diese Regel keine Ausnahme. Der Autor entführt uns in die sehr stimmig und detailreich beschriebene Welt der Bewohner von West-Cornwall. Jede einzelne Figur dieses „verborgenen Volks“ ist in zahlreichen Merkmalen erfasst, so dass selbst bei kurzen Auftritten wie dem des Malers ein Gefühl für sein Innenleben und seine Motivation entsteht.

Viele dieser Menschen halten sich irgendwie über Wasser, sei es mit Diebstahl, Prostitution oder eben Musizieren. Sie sind aber unabhängig, nachdem das leben ihnen mehr oder weniger übel mitgespielt hat. Durch ihre Unabhängigkeit sind sie empfänglich für die besondere Magie, die ihre Gegend ausstrahlt. Und wenn ein Mann doch einmal zu vernünftig ist, wie etwa Denzil der Erfinder, dann wird er rasch eines Besseren belehrt, als seine Nichte Jodi wieder auftaucht, verwandelt in ein kleines Däumelinchen.

Die Magie und der Zusammenhalt schützen diese kleine Gemeinschaft, die sich gar nicht als Clique begreift, vor dem nun ernsthaft einsetzenden Angriff des Bösen. Der Abgesandte von John Madden, der die Welt beherrschen will, ist der Killer Mike Bett. Er muss sich mit Lena Grant arrangieren, der eigensinnigen Tochter von Maddens bestem „Freund“ Roland Grant. Doch wie es bei den Bösen oft zugeht, so verfolgen sie meist eigene Ziele. Schon bald gibt es ein echtes Durcheinander und sie fragen sich, wie es dazu nur hat kommen können. Wir hingegen, die den Guten den Daumen drücken, lachen uns ins Fäustchen.

Mit Lena und Felix Gavin gibt es eine handfeste Sexszene, die sich nicht für Kinderaugen eignet. Anders als erwartet, wird Felix jedoch von lena mit einer Droge willenlos gemacht und zu ihrem Opfer – bis Janey Little, die ihn im grunde ihres temperamentvollen Herzens doch liebt, aus dieser Lasterhöhle herausholt. Dabei verpasst sie lena einen Boxhieb, der einem Jack Dempsey oder Max Schmeling Ehre gemacht hätte.

In diesem ersten Band kommt das titelgebende Buch „Das kleine Land“ noch nicht so recht zu Ehren. Es scheint zunächst mehr als MacGuffin zu dienen, um den sich alle streiten, als selbst eine Rolle zu spielen. Dies ändert sich jedoch mit dem Epilog völlig. Aus dem geöffneten Buch steigen Mächte an die Oberfläche, die in die unbewussten Köpfe der Bewohner eindringen und sie heimsuchen, mal als Traum, mal als Alptraum.

Diese Macht verspürt auch John Madden und macht sich mit Roland Grant auf den Weg nach Cornwall, um das Vermächtnis von William Dunthorn an sich zu bringen und zu ergründen. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er sich begibt. Dieser offene Ausgang versetzt den Leser in die Spannung, die ausreicht, ihn zur Fortsetzung „Die vergessene Musik“ greifen zu lassen.

Die Übersetzung

Wie so viele Heyne-Bücher weist auch dieses etliche Druckfehler auf. Sie ahlten sich aber in Grenzen.

S. 18: „The Wind in the Wallows“. Autsch!! Korrekt heißt dieser berühmte Kinderbuchklassiker „The Wind in the Willows“, also „Der Wind in den Weiden“. „Wallows“ hingegen sind Suhlen für Säue…

101: „Auqarium“ statt „Aquarium“. Es gibt noch einige andere Buchstabendreher.

118: „sieben[d]unddreißigseitig“. Das D ist überflüssig und verwirrt bloß.

229: „Mundorgel“ als Verwandter des Akkordeons? Gemeint ist vermutlich die Mundharmonika und nicht etwa die Maultrommel.

350: „nicht der junge Mann war, als der [den] ihn der Chef von alten Fotos her in Erinnerung hatte“. Korrekt wäre „den“, denn „jemanden in Erinnerung haben“ fordert den Akkusativ, nicht den Nominativ.

Die suggestiven Illustrationen von Johann Peterka fand ich teils sehr passend, teils weniger. Das Titelbild, geschaffen 1983 von Carl Lundgren, führt den Leser völlig in die Irre. Hier tritt kein Gandalf-mäßiger Zauberer auf.

Unterm Strich

Mehrfach hatte ich den Eindruck, dass der Heyne-Verlag hier eine Mogelpackung verkaufte. Was so lieblich in Rosa und Violett daherkommt, ist keineswegs eine harmlose Fabel, die man jedem Lillifee-geschädigten Mädchen bedenkenlos in die Hand drücken könnte. Vielmehr handelt es sich, im positiven Sinn, um eine Geschichte, die von Erwachsenen handelt und für Erwachsene geschrieben wurde. Hier kommen Sex mit einem (schein-) toten Mann vor, ein Mordanschlag und der Tod eines mechanischen Automaten. Das sind furchterregende Momente voll Gewalt und Grenzüberschreitung.

Einzige Ausnahme von dieser Regel scheint der Handlungsstrang um Jodi Shepherd zu sein. Sie ist nicht mal elf Jahre alt, doch keineswegs feucht hinter den Ohren. Ihre Tante ist Nettie, die Bordellchefin, und ihr Mentor ist Denzil Gossip, der geniale Erfinder. Entsprechend unerschrocken reagiert sie auf das Gerücht von der Hexe und ihrem „kleinen Mann“. Daraus wird ein Abenteuer, das an James Blaylocks Steampunk-Fantasy „Homunculus“ erinnert, allerdings ohne die viktorianische Hintergrundmalerei. Auf Jodi wartet eine ganz besondere Bestimmung: Um in einen echten menschen zurückverwandelt werden zu können, muss sie zu den magischen Steinen, die aus dem Moor ragen – bei Mondaufgang …

Ohne Zweifel ist diese quasi-urbane Phantasie des kanadischen Autors völlig eigenständig. Er hat mit keltischen Phantasien wie „Into the Green“ begonnen, sich dann aber immer weiter der Gegenwart angenähert. Alle seine Figuren sind Grenzgänger, die es mit der magischen Anderwelt zu tun bekommen und dabei verwandelt werden. Gut und Böse wechseln dabei mitunter die Farbe und die Seiten. Das macht de Lints Romane stets zu einem unvorhersehbaren Abenteuer. Wohl dem, der sich darauf einlässt.

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)

Broschiert: 366 Seiten
Originaltitel: The Little Country, 1991
Aus dem kanadischen Englisch von Norbert Stöbe
ISBN-13: 978-3453079977

www.heyne.de