Arnaldur Indridason – Schattenwege. Island-Krimi

Die Liebe der GIs: eine Vergewaltigung Islands

„Ein alleinstehender Mann wird ermordet in seiner Wohnung entdeckt. Auf seinem Tisch liegen Zeitungsberichte über einen Mordfall aus den Kriegsjahren: Die junge Rósmunda war damals am Nationaltheater in Reykjavik aufgefunden worden. Die Wohnung des alten Mannes wirkt abgesehen von diesen Artikeln unverdächtig.

Bei einem gemeinsamen Essen mit seiner Ehemaligen Marta erfährt der pensionierte Polizist Konrad von dem Fall. Als sie ihm von den Zeitungsberichten erzählt, wird er hellhörig, denn dieser Fall ist ihm aus seiner Kindheit bekannt…“ (Verlagsinfo)

Konrad bietet der völlig überlasteten Marta an, sich in dem Mordfall umzuhören und stößt auf eine weitere Mordermittlung, die Anfang 1944 ergebnislos verlief. Aber warum wurde der alte Mann, der damals einer der Ermittler war, erst jetzt getötet? Er muss auf eine brisante Information gestoßen sein.

Der Autor

Arnaldur Indridason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Hakan Nesser und Henning Mankell!

Die Erlendur-Krimis von Indridason:

1) Menschensöhne
2) Todesrosen
3) Nordermoor
4) Todeshauch
5) Engelsstimme
6) Kältezone
7) Frostnacht
8) Kälteschlaf
9) Frevelopfer
10) Abgründe
11) Eiseskälte
12) Nacht über Reykjavik

Weitere Romane:

1) Gletschergrab
2) Tödliche Intrige
3) Codex Regius
4) Duell

Handlung

Der Exkommissar Konrad ist frisch pensioniert, aber immer noch rastlos. Bei einem gemeinsamen Mittagessen mit seiner überlasteten Ex-Kollegin Marta, die nicht gerade die besten Tischmanieren besitzt, erfährt er von dem Fall eines 90 Jahre alten Mannes, der in seiner Wohnung im Reykjaviker Ortsteil Skuggansund, dem schäbigen „Schattenviertel“, aufgefunden wurde. Die Polizisten, die den Alten fanden, dachten erst, er sei friedlich in seinem Bett entschlafen, doch die Rechtsmedizinerin stieß auf verdächtige Spuren: Er wurde mit einem Kissen erstickt.

Skuggansund ist Konrads ehemaliges Viertel, in dem er bei seinem Vater, getrennt von Mutter und Schwester, aufwuchs. Er bietet Marta an, sich bei seinen ehemaligen Nachbarn umzuhören. Der Mordfall, um den es in den bei Stefan Thordarson gefundenen Zeitungsausschnitten geht, ist ihm selbst bestens bekannt: 1944 ist sein Geburtsjahr und noch lange Jahre machten Gerüchte über „die Tote vom Nationaltheater“ die Runde.

Es dauert nicht lange, bis Konrad herausfindet, dass „Stefan Thordarson“ ursprünglich aus Kanada stammte, also ein sogenannter „West-Isländer“ war. Aus der Provinz Manitoba stammend arbeitete er 1944 bis kurz vor der Invasion in der Normandie für die amerikanische Militärpolizei. Wegen seiner ausgezeichneten Sprachkenntnisse arbeitete er viel mit der isländischen Polizei zusammen, besonders mit einem Kommissar namens Flovent. Die Isländer hatten seit der Besatzung durch die Briten im Mai 1940 und danach durch die Amerikaner alle Hände voll zu tun, um „des Zustands“ Herr zu werden.

Februar bis Mai 1944

„Der Zustand“, das ist die fortwährende Interaktion der Einheimischen mit der Besatzungsmacht, also den Amerikanern, Kanadiern und etlichen anderen Soldaten. Nicht nur Rekyjavik mit seinem Hafen und Keflavik mit seinem Flughafen sind massiv ausgebaut worden, sondern auch die östlichen Fjorde, von denen aus schwerbewaffnete Schlachtschiffe auslaufen, um die Routen der Geleitzüge nach Russland zu schützen. Infolgedessen wimmelt es überall von Soldaten aller Heeresgattungen, und es kann nicht ausbleiben, dass junge Frauen mit den Soldaten anbandeln, die über so viel mehr Güter verfügen als sie selbst.

Ingiborg ist so eine junge Frau. Obwohl ihr strenger Vater, immerhin ein Ministerialrat, es ihr verboten hat, trifft sie sich mit einem Sergeant namens Frank Caroll. An diesem Abend im kalten Februar muss sie ihm ein Geheimnis verraten: Sie ist von ihm schwanger. Doch dazu kommt es nicht: Frank entdeckt am Hintereingang des unfertigen und zweckentfremdeten Nationaltheaters die Leiche einer jungen Frau.

„It’s not our business“, sagt er. Statt wie erwartet die Polizei zu rufen, haut er mit Ingiborg ab. Doch sie wurden von einer Frau gesehen und gemeldet, und als dann Stefan Thorson alias Thordarson und sein isländischer Kollege bei Ingiborgs Familie vorsprechen, um sie zu befragen, ist das Gezeter groß.

Ingiborg fällt aus allen Wolken, als die Polizisten ihr sehr schonend beibringen, dass Frank Caroll nicht so heißt, kein Sergeant ist und nicht aus Illinois kommt. Vielmehr ist er mit einer Frau und zwei Kinder verheiratet. Wer die tote Frau ist, kann sie aber auch nicht sagen. Diese wird erst von deren Pflegeeltern identifiziert: Sie hieß Rósmunda, stammte aus dem Norden und arbeitete als tüchtige Schneiderin.

Weitere taktvolle Befragungen bei Rósmundas Chefin und ihrer Freundin ergeben, dass sie abgetrieben hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war. Seltsam finden Thorson und Flovent vor allem, dass sie die Vergewaltigung „verborgenen Wesen“ zugeschrieben hatte. Damit sind Elfen und Trolle gemeint. Aber an die glauben nur noch Bauern.

Flovent weiß, dass es auf Island eine „Parapsycholgische Gesellschaft“ gibt, die regelmäßig Séancen veranstaltet. (Ja, Konrad kann sich gut daran erinnern: Sein eigener Vater organisierte diese sogenannten Séancen, um die Teilnehmer abzuzocken.) Aber unter der bäuerlichen Landbevölkerung hängt man immer noch dem uralten Volksglauben an Elfen und Trolle an, die in den Hügeln leben sollen.

Als die beiden Cops von einem weiteren Mädchen namens Hrund aus Ost-Island hören, das sich nach einer Vergewaltigung auf die „verborgenen Wesen“ berufen hatte, bevor sie sich in einen Wasserfall stürzte, sehen sie auf einmal sonderbare Parallelen zwischen den beiden Fällen. Was, wenn es sich um eine ganze Serie von Vergewaltigungen und anschließenden Todesfällen handelt?

Ihr Verdacht fällt auf einen Studenten namens Jónatan, der Hrund kannte, weil er bei einer Straßenbautruppe arbeitete. Dieser junge, verhuschte „Professor“ arbeitet an einem Referat über den alten Volksglauben. Verdächtig macht ihn vor allem seine Abschrift eines Gerichtsprozesses aus dem 19. Jahrhunderts, in dem das Vergewaltigungsopfer unter Zwang aussagte, die „verborgenen Wesen“ hätten sie überfallen. Doch mit dem „Professor“ nimmt es überraschenderweise ein schlimmes Ende, und die beiden Ermittler sind wieder so schlau wie zuvor. Erst Jahrzehnte später macht sich Thorson nach Flovents Krebstod erneut an die Arbeit an dem fall. Er hat Schuldgefühle und findet keine Ruhe.

Gegenwart

Der letzte Mensch, den Stefan Thordarson besucht zu haben scheint, ist die alte Vigga aus dem Viertel Skuggansund. Sie liegt in ihrem Seniorenheim im Sterben. Aber Konrad hat Glück: In einem ihrer lichten Momente erinnert sie sich an „dieses andere Mädchen, dessen Knochen nie gefunden wurden“. Sie meint die bedauernswerte Hrund. Aber als Konrad ihr offenbart, wessen Sohn er ist, faucht sie ihn mit letzter Kraft an, was für ein „elender Lump“ sein Vater war. Sie weiß, wie sehr der Alte seine Opfer betrog und schröpfte. Von wegen „verborgene Wesen“! Das Leben seines verbrecherischen Vaters war durch zwei Messerstiche im Hafen beendet worden. Geschah ihm recht.

Erst als Konrad bei der Schneiderei nachhaken will, in der Rósmunda arbeitete, stößt er auf einen wichtigen Hinweis: Die Schneiderei wurde längst verkauft, denn Konfektionsware war viel billiger geworden, aber die Tochter der Besitzerin, Petra, redet gern und viel über ihre Mutter und deren Kundschaft.

Mutter habe sich für was Besseres gehalten und auf Bauerntrampel wie Rósmunda herabgesehen, selbst noch in jener Nacht, als das Mädchen mit zerrissenem Kleid von einem Botengang zurückkehrte und offensichtlich in Not war. Die Mutter ließ nichts auf „die Herrschaften“ kommen und fragte niemals nach den Hintergründen für Rósmundas Weigerung, noch einmal einen Fuß in jenes Haus zu setzen. Das habe ihr bis zu ihrem Tod Kummer bereitet, sagt Petra.

Als Konrad den Namen der hochgestellten Familie erfährt, fällt es ihm nicht leicht, Rósmundas Fall mit dem der armen Hrund in Verbindung zu bringen. Aber eines hat er auf der Polizeiakademie gelernt: So etwas wie Zufälle gibt es nicht. Niemals. Es ist wohl an der Zeit, den nordöstlichen Fjorden einen Besuch abzustatten…

Mein Eindruck

Der Kriminalroman untersucht die Zeit, in der Island sich für von Dänemark unabhängig erklärte und 1944 einen eigenen Staat gründete. Doch der Autor legt den Finger in die Wunde und fragt, was das für Leute waren, die diesen Staat schufen. Handelte es sich stets um Ehrenmänner oder mehr um solche, die sich dafür ausgaben und dafür jede Menge Vergünstigungen erhielten? Die Antwort, die der Autor mit seiner mehrsträngigen geschichte gibt, ist negativ: Auch Schweine und Mörder zählten zu den Gründungsvätern. Und wie sich zeigt, leben ihre Nachkommen infolgedessen immer noch im moralischen Zwielicht.

Mehrsträngig

Die Ermittlungen, die das Buch erzählt, verlaufen auf drei Zeitebenen. Konrad ist der Ausgangspunkt in der Gegenwart. Kurz vor ihm ermittelt Thorson alias Stefan Thordarson erneut in dem alten Rósmunda-Fall, was zu seiner Ermordung führt. Und im Jahr 1944 ermitteln Thorson und Flovent an dem eigentlichen Rósmunda-Fall. Da ist Hrund bereits drei Jahre verschwunden.

Wer mit dieser mehrsträngigen Erzählweise nichts anzufangen weiß, wird erhebliche Probleme haben, die fortwährende Vermischung der Erzählzeiten zu akzeptieren. Aber warum sollte man diese Probleme überhaupt haben? Das Gedächtnis springt ja auch ständig zwischen Zeiten hin und her. Außerdem legt der Autor eine Meisterschaft in der Handhabung der Zeiten an den Tag, die ihresgleichen sucht.

So gelingt ihm, thematische Bezüge herzustellen und zu verdichten, die dem Leser klarmachen, dass der alte „Zustand“ über Jahrzehnte hinweg stets weiterexistiert hat. Waren es früher die Amis und Tommys, so sind es nun die Wirtschaftskapitäne, die sich für etwas Besseres halten und zur Selbstjustiz greifen. Sie gehen einfach davon aus, dass sie damit durchkommen: „too big to fail“. Sie sind, ähnlich wie Großbanken, „systemrelevant“ geworden.

Macht oder Gerechtigkeit

Aber stehen sie deshalb über dem Gesetz, scheint der Autor zu fragen. Und tatsächlich scheint jeder Mitwisser des großen Geheimnisses, das die „Herrschaften“ Rosmundas umgibt, entweder mit Geld oder mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden zu sein. Dies stellt Konrad mit einer gewissen Verbitterung fest. Aber er hat den Mörder Stefan Thordarsons auf dem Video einer Überwachungskamera, wie es sie mittlerweile auch in Reykjavik zu Hunderten gibt. Er hat einen Beweis, nicht bloß Hörensagen und Indizien. Diesmal gibt er keinen Millimeter nach, selbst gegen verlockendste Angebote nicht, selbst als er sich damit in Gefahr bringt.

Elfen und Trolle

Nun könnte der leser vielleicht meinen, der Autor sei eingefleischter Atheist und blicke mit einer gewissen Verachtung auf den abergläubischen Volksglauben über Elfen und Trolle herab. Man könnte zu dieser Auffassung gelangen, denn sowohl Thorson als auch Flovent sind aufgeklärte Rationalisten, die sich allenfalls der Auffassung des Studenten Jónatan anschließen können: Dass die Geschichten des Volksglaubens, die unter den Frauen weitergereicht wurden, die jeweiligen sozialen Gegebenheiten berichten.

Wenn sich also ein Elf oder Troll an einer Frau verging, so wurde damit verschlüsselt ausgedrückt, dass sich ein unmoralischer Mann an ihr vergangen hatte. Auf der männlichen Seite werden jahrelange Fehden wiedergegeben, Rachefeldzüge, die zu Prozessen vor dem Thing führten und nicht selten zur Verbannung eines Schuldigen führten. So erging beispielsweise Leif Eiriksson, dem Besiedler Grönlands und wahrscheinlichen Entdecker Vinlands, also Amerikas.

Doch der Autor muss am Schluss selbst ausdrücken, was er von den alten Märchengestalten hält: Er schätzt sie für ihre poetische Kraft und ihren Bilderreichtum. Im letzten, dem 56. Kapitel lässt er uns deshalb einen Blick auf die Überreste Hrunds werfen: „[Kaltes Schweigen] gewährt der unseligen Elfentochter, die in diesem [Märchenschloss] zu Gast ist, den ewigen Schlaf.“ Einen besseren Schluss kann man sich kaum wünschen.

Der „Zustand“

Der Leser dürfte sich auch fragen, warum diese Geschichte über die Zeit, in der Island unabhängig wurde, ausgerechnet mit Vergewaltigungen, ungewollten Schwangerschaften und Morden in Verbindung gebracht wird. Sollten aus diesem Anlass nicht fröhlichere Saiten angeschlagen werden? Aber nein: Dieses Buch stellt den indirekten Kommentar des Autors dar: Die Zeit der Besatzung von Mai 1940 bis Mai 1944 war eine einzige lange Vergewaltigung des isländischen Volkes durch ausländische Besatzer.

Die beiden Ermittler Flovent und Thorson sagen es mehrere Male: Von der ursprünglich bäuerlichen Kultur Islands ist nach den beiden Invasionen durch Briten und Amerikaner kaum noch etwas übrig. Der alte Glaube gilt nichts mehr, höchstens als Deckmäntelchen für sozial Schwache. Das Perfide an diesem „Zustand“ ist jedoch, dass sich auch die „Herrschaften“ die Freiheiten der Besatzer herausnahmen und die Schwachen vergewaltigten. Und sie schafften es aufgrund ihrer Stellung in der Regierung (siehe oben), die Ermittlung einstellen zu lassen.

Kein Wudner also, dass Konrad Jahrzehnte später nur noch wenige Blätter an Akten dazu vorfindet, vergessen in nummerierten Aktendeckeln. Deshalb führt für ihn (und vor ihm Thorson) nur ein Weg zum Schuldigen: über die familiären Verbindungen, über die ihm nur die letzten Überlebenden jener Zeit des „Zustands“ noch Auskunft geben können (wie schon im Erlendur-Krimi „Eiseskälte“). Die Spur dieser Familie führt durch die Jahrzehnte hindurch zum heutigen Mörder Thordarsons. Wird das Morden endlich enden? Konrad bleibt knallhart und fordert Gerechtigkeit. Aber ist das Gesetz diesmal stark genug?

Die Übersetzung

Coletta Bürling hat meines Wissens praktisch alle Indridason-Romane ins Deutsche übertragen. Dabei hat sie regelmäßig ausgezeichnete Arbeit geleistet, denn es ist sicherlich nicht einfach, das umgangssprachliche Isländisch in die deutsche Alltagssprache zu übertragen. Selbstredend kennt sie sich bestens mit der Geschichte der Insel und ihrer Bevölkerung aus.

Eine gewisse Herausforderung sind die Schriftzeichen der isländischen Sprache und Literatur. Wo die Briten auf der abgedruckten Landkarte einfach ein Th (stimmlos wie in „think“) schreiben dürfen, setzt die deutsche Fassung das Zeichen þ bzw. Þ. Das stimmhafte Th hingegen, das fast wie ein D ausgesprochen wird, sieht so aus: ð bzw. Ð. Der Laut Æ bzw. æ klingt ähnlich wie . Mehr Infos dazu unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Isl%C3%A4ndische_Sprache#Alphabet. In meinem Text habe ich alle entsprechenden zeichen durch im Deutschen gebräuchlichen Zeichen ersetzt, um ihn lesbarer zu machen.

S. 12: über Elfen und andere[n] verborgene[n] Wesen“: Die zwei N’s sind überflüssig.

S. 151: „und wenn das Land schon von [den] einer fremden Macht besetzt wurde“. Das Wörtchen „den“ ist überflüssig, es sei denn das Wort „Männern“ fehlt hinter „den“.

S. 238: „Anscheinend hatte die Tochter [gemeint ist Petra] nicht das geringste Interesse an Nähen oder an eleganter Kleidung aufzubringen…“ Diese Satzkonstruktion ist doppelt gemoppelt, denn sie drückt zweimal das gleiche aus. Am besten streicht man das Wort „aufzubringen“ einfach.

S. 306: „Handelte es sich bei „dem armen Mädchen aus dem Norden“ tatsächlich um diese[r] Hrund?“ Das R ist überflüssig.

Unterm Strich

Ich habe diesen komplexen Krimi in nur wenigen Tagen gelesen. Der ehemalige Journalist Indridason versteht es, seinen vielschichtigen Stoff so einfach und klar verständlich wie nötig zu präsentieren. Dabei verzichtet er durchaus nicht auf Spannung: Fortwährend tun sich neue Fragen auf, und menschliche Schicksale gilt es zu erzählen und zu würdigen.

Dies ist aber kein Serienkiller-Thriller. Da sollte sich der Leser keine falschen Hoffnungen machen. So war Indridason noch nie eingestellt. Ihm geht es nicht nur um die Menschen und ihre Beziehungen, sondern auch um das Schicksal seines Landes, seiner Nation. Er hat schließlich kräftig mitgeholfen, Island auf die literarische Landkarte Europas zu bringen und dort zu verankern.

Das Thema Unabhängigkeit, Verdienst und Schuld sind bei ihm stets vorhanden: Der „Codex Regius“ etwa ist das literarische Erbe in Gestalt der von Dänen gestohlenen Edda-Manuskripte, das nach Hause gebracht werden soll – ein echter Dan-Brown-Thriller. In „Nordermoor“ ging es um den vergleichsweise kleinen Genpool der Isländer. In „Abgründe“ verurteilte der Autor die „Expansionswikinger“, die bis zum Bersten der Investitionsblase kräftig absahnen wollten.

Jetzt schildert „Schattenwege“ die kulturelle Invasion und Vergewaltigung der bäuerlichen Inselkultur durch fremde, wenn auch „freundliche“ Besatzer. Kann daraus wirklich reinen Gewissens eine unabhängige Nation entstehen, scheint der Autor zu fragen. Die Antwort fällt negativ aus, denn die Sünden der Vergangenheit – zwei vergewaltigte und tote Frauen – wurden lediglich unter den Teppich gekehrt. Die Wunde, die das Geheimnis geschlagen hat, schwärt noch. Ich fragte mich zunehmend bange, ob Konrad, der den Finger in diese Wunde legt, enden wird wie sein Vorgänger Thordarson. Wie die Sache ausgeht, darf hier nicht verraten werden.

Kritik

Sehr ärgerlich fand ich hingegen, dass dieser Band weder Land- noch Stadtkarten aufweist, obwohl es doch vor Ortsangaben nur so wimmelt. Die Karten fand ich in „Eiseskälte“ sehr hilfreich, doch glänzen sie durch Abwesenheit. Es gibt ein paar Druckfehler und missglückte Sätze. Auch der Preis ist mit knapp 23 Euro ziemlich hoch. Am besten wartet man also noch ein oder zwei Jahre, bis das Taschenbuch auf den Markt kommt.

Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
Originaltitel: Skuggansund, 2013
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling.
www.luebbe.de

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