In einer Wohngruppe für schwer traumatisierte Kinder beginnt der Ich-Erzähler seinen Dienst als sozialpädagogischer Mitarbeiter im Winter auf einem abgelegenen Dorf. Trotz langer Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gelangt er schnell an seine Grenzen. Jeder neue Tag wird zur absoluten Herausforderung. Doch wie die Kinder in der Gruppe kann auch er nicht einfach fliehen, scheint gefangen in einer aussichtslosen Lage.
Der Ich-Erzähler beginnt ein Tagebuch, schreibt seine Eindrücke nieder, doch die Sätze zerfließen, fließen ineinander, lösen sich auf, treten aus ihrer gewohnten Struktur. Die üblichen Zeichen verlieren ihre Bedeutung, verschwinden, verlieren ihren Grund und Boden. Die Form verliert sich, die Sprache passt sich dem Inhalt an.
Doch im Prozess findet eine Entwicklung statt. Die Kinder und der Ich-Erzähler nähern sich an. Am Ende der Erzählung feiern sie Weihnachten zusammen, beginnt ein neues Jahr, auf dem Dorf, im Winter.
Herr Sternmut, als Untertitel Ihres Buches steht auf dem Cover „Trauma. Prosa und Gedichte.“ Bedeutet dies, dass in „Winterdienst“ je ein Prosa- und ein Gedichtband enthalten ist, die beide das Thema Trauma behandeln?
Sternmut: Sowohl der Prosateil als auch der Gedichtteil behandeln denselben Inhalt und Hintergrund. Sie gehen fließend ineinander, beziehen sich aufeinander. Auch die Sprachform ist angeglichen. In beiden Teilen wurde komplett auf Satzzeichen verzichtet, fließen die Sätze und Zeilen ineinander. Der Prosateil verwendet darüber hinaus nicht selten eine eher poetische Sprache, den Gedichten gleich.
Was verstehen sie unter dem Begriff „Trauma“ allgemein?
Sternmut: „Trauma“ bedeutet eine seelische Verletzung, die auch durch eine körperliche Verletzung oder Verwundung hervorgerufen werden kann. Insgesamt hervorgerufen durch eine oder mehrere traumatisierende Erfahrungen, Erschütterungen, Erlebnisse, sehr oft bereits im Kindheitsalter (Kindheitstrauma) durch Kindesmisshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung, Kriegserlebnisse usw.
Im Prosateil „Winterdienst“ stellen sie gleich auf den ersten Seiten traumatisierte Kinder vor. Die soll offenbar ein Psychologe oder ein Sozialpädagoge irgendwie behandeln. Worin besteht das Problem einer solchen „Traumabehandlung“ und wie verarbeiten Sie diesen Vorgang inhaltlich?
Sternmut: Im Zusammenhang der beschriebenen Wohngruppe ist kein pädagogisches oder psychologisches Handlungskonzept vorgegeben und erkennbar. Für die Arbeit mit traumatisierten Menschen ist traumapädagogisches und psychologisches Fachwissen unumgänglich. Die Problematik im Umgang beginnt, wenn dieses Fachwissen nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist und wenn aus dem notwendigen Wissen heraus kein entsprechend fachliches Handlungskonzept für die Arbeit mit traumatisierten Menschen umgesetzt wird.
Die erzählende Prosa stellt den Leser vor Herausforderungen. Die Sätze sind elliptisch, also voller Lücken und gehorchen eher einer assoziativen als grammatischen Logik. Das bedeutet, dass der Leser eher in die Gedanken des Chronisten blickt als auf die Realität. Welcher Gedanke steckt dahinter, den Inhalt so zu präsentieren?
Sternmut: Die Form oder besser hier die Formlosigkeit passt sich dem Inhalt an, wie sie sich dem Chronisten darstellt. Der Blick in die Realität des Chronisten wird jeweils sicherlich auch bestimmt von eigenen traumatischen Inhalten in der eigenen Innerlichkeit, von dessen Erfahrungen innerhalb der eigenen Sozialisation und in der Reflexion auf dieser herausfordernden Ebene dieser kritischen Situation.
Die Krisensituation verlangt die Auseinandersetzung mit der eigenen Innerlichkeit, verlangt die Bearbeitung verdrängter Inhalte und bietet somit unfreiwillig die Chance zur Entwicklung. Persönliche Entwicklung entsteht nicht freiwillig, zumeist wird sie „aus der Not geboren“, aus Krisen, Mängeln, Wunden gefordert und gebildet, wenn es gelingt, die Verarbeitung und Bearbeitung zu leisten und zu einer Entwicklung zu kommen. Das bedeutet Arbeit an sich selbst, am eigenen Bewusstsein, an der eigenen Persönlichkeit, am eigenen Menschsein. Auch dies ist Teil der Geschichte.
Bei „Winterdienst“ handelt es sich um ein literarisches Buch zum Thema, das aber einen absolut realistischen Hintergrund und Inhalt beschreibt. Nichts im Buch wurde erfunden, ist fiktiv, nur die Namen wurden verändert. Darüber hinaus ist es die „reine Wahrheit“, die hier in einer durchaus assoziativen Sprache aufgezeigt wird. Gleichzeitig handelt es sich nicht um die „Realität“ aus einem fachtheoretischen Sachbuch zum Thema.
Der Lyrikband, der „Winterdienst“ ergänzt, trägt den Titel „Mandelkern“. Was verstehen Sie unter dieser Vokabel und in welchem Zusammenhang steht sie zum Thema „Trauma“ (denn auch in den Gedichten geht es um traumatische Erfahrungen)?
Sternmut: Der „Mandelkern“ ist die Bezeichnung für die Amygdala im Gehirn als Teil des Limbischen Systems. Die Amygdala-Drüse spielt eine zentrale Rolle bei der Bewertung und Wiedererkennung von Situationen zur Analyse möglicher Gefahren. Sie hat zentralen Einfluss auf das vegetative Nervensystem, etwa für die Empfindung von Angst.
Steht dieser Lyrikband „Mandelkern“ in irgendeinem Zusammenhang zu ihren vorigen Gedichtbänden, etwa zu „Strahlensatz von 2018?
Sternmut: Dieser Lyrikband „Mandelkern“ steht im Grunde zu jedem vorherigen Sternmut-Gedichtband in Verbindung. Das Thema taucht in zahlreichen Gedichtbänden und Gedichten immer wieder auf. In „Strahlensatz“ von 2018 gibt es das Gedicht „Mandelkern“ („Der alte Brandgeruch / steigt ins Hirn, die Angst / fährt unter die Haut…) ebenso wie zum Beispiel im Band „Nachtlichter“ (Dort die Ameisenstraße: das menschliche / Gehirn, es forscht / Über sich selbst, will wissen, / Sich zeigen / Als sich selbst, in Patagonien…) von 2010.
Sie haben aus diesem Doppelband bereits öffentlich gelesen. Wie reagierte das Publikum darauf?
Sternmut: Bei der ersten öffentlichen Lesung im Januar 2020 im Kreishaus Ludwigsburg wurde eine große Betroffenheit über die beschriebenen Inhalte deutlich. Die wenigsten konnten sich vorstellen, dass dieser beschriebene Text über ein Wohnheim mit Kindern-und Jugendlichen tatsächlich der Realität entspricht. Sie waren teilweise schockiert und zutiefst betroffen. Viele gaben an, dass sie an ihre eigene Kindheit denken mussten, ihnen auch eigene traumatische Inhalte zu Bewusstsein kamen.
Die ungewohnte Sprachform und Schreibweise war für die meisten nach einer kurzen Eingewöhnungszeit kein Problem. Der beschriebene Inhalt zeigte sich allerdings als „schwere Kost“, und es wurde nach der Lesung noch lange über das Buch und die Praxis im Umgang mit traumatisierten Menschen gesprochen. Es wurde aber auch angesprochen, dass „Winterdienst“ zudem die Möglichkeiten der Entwicklung im Umgang mit den Kindern-und Jugendlichen aufzeigt, wie im Umgang mit Krisen sowohl im individuellen Bereich als auch in der Gemeinschaft des Zusammenlebens insgesamt.
Die Krise wird auch als mögliches Entwicklungspotential gesehen, als Chance für sich selbst und andere. Es wurde im Publikum verstanden, dass es in „Winterdienst“ nicht allein um eine Wohngruppe auf dem Dorf geht. Das Buch bietet das Bild einer Gemeinschaft insgesamt einer Gesellschaft in der „Krise“. Es geht nicht allein darum, die „Krise“ zu überstehen, sondern aus ihr zu lernen, an ihr zu wachsen und aus ihr heraus ein neues Denken und Fühlen des Zusammenlebens zu entwickeln.
Sternmuts Corona-Update
Zwei Monate später (März 2020) nun die „Corona-Krise“ und die Frage, wie sie weltweit möglicherweise die Sicht auf das menschliche Zusammenleben allgemein verändert. Hier besteht eine klare Verbindungslinie zum Inhalt in „Winterdienst“. Die durchgängige Sternmut-Vorstellung von der „Solidarität der Kreaturen“ ist in weite Ferne gerückt. Der Neokapitalismus, der Neonationalismus und der Neonationalsozialismus zeigen sich global vorrangig und gegen jede menschliche Vernunft gerichtet. Die Frage stellt sich, ob es durch Anregungen in der „Krise“ langfristig zu einer menschlich „artgerechten“ Weltgemeinschaft kommen kann. Die Antwort steht noch aus.
Das schriftliche Interview führte Michael Matzer.