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Morgan, Richard K. – Profit

Aufgemerkt! Jetzt habe ich hier das Sagen. Und alles läuft so, wie ich das will. Ich bin aus guter Familie, zwischenzeitlich leider in den Slums aufgewachsen. Doch das habe ich gerächt. Mehrfach. Denn ich bin schlauer als die anderen. Und schneller. Härter. Ich habe jeden Gegner totgefahren. Jeden. Deswegen verdiene ich das hier. |“Männer wie ich, die sind nicht mehr aufzuhalten, da kannst du machen, was du willst. Verstehst du?“|

_London in 50 Jahren_

Die ganze Welt wird vermeintlich von den Kräften des Marktes regiert (im Original heißt das Buch „Market Forces“). Doch eigentlich regiert eine hoch mobile und rücksichtslose Oligarchie. Die Gesellschaften der früheren Industrieländer haben sich ausdifferenziert: Über den breiten Massen ungesund dahinkrauchender Slumbewohner braust eine schmale Kaste von Investmentbankern daher, in großem Reichtum und großer Unsicherheit. Erreichen sie doch ihren beruflichen Aufstieg nicht allein durch harte Arbeit, sondern noch vielmehr durch ihre Fertigkeiten bei tödlich endenden Crash-Duellen auf den für sie reservierten Autobahnen. Und der Held, der da oben spricht, der ist einer von ihnen.

_Wer schreibt denn so was?_

Richard K. Morgan ist gerade 40 geworden, kommt aus der Nähe von Norwich in England, lebt in Glasgow und noch nicht allzu lange von der Schriftstellerei. Sein Debütroman „Altered Carbon“ erschien 2002 beim britischen SF-Spezialisten |Gollancz| (deutsch im September 2004 als [„Das Unsterblichkeitsprogramm“ 464 bei |Heyne|). Der Roman spielt einige Jahrhunderte in der Zukunft und bietet einen gut balancierten Mix aus traditionellem Hard-Boiled-Thriller und Hard-Science-Fiction – gar nicht soo ungewöhnlich, aber halbwegs glaubwürdig. Doch nicht die schön männliche Mischung machte das Buch zu einem gewaltigen Erfolg. Wohl eher war es die sehr sehr drastisch konsequente Schilderung von hemmungsloser Gewalt um den einsamen Helden Takeshi Kovacs – ein unmenschlich kalter, ultrabrutaler Schlächter und doch irgendwie auch mitfühlender Gelegenheitsdetektiv, Frauenversteher und Sinnsucher: Ein nach Heilung und Gerechtigkeit strebender Großserienkiller von nebenan, in wechselnden Körpern. Bei aller extrem blutigen Härte bot „Altered Carbon“ offenbar genug Einfühlmöglichkeiten und kreativ-plastisches Storytelling, um Hollywood aufmerksam und interessiert zu machen.

Morgan verhandelte gut beim Verkauf der Filmrechte. Sicher half auch der zwischenzeitlich verliehene |Philip K. Dick Award| für den besten Roman des Jahres. So konnte er sich allein mit dem Geld für die Film-Option auf „Altered Carbon“ endlich ganz dem Leben als Berufsautor zuwenden (vorher war er Englischlehrer für Nicht-Muttersprachler, immerhin 14 Jahre lang, mehrere Jahre davon jeweils in Istanbul und Madrid). Einst ein nach eigener Aussage nicht wirklich bemerkenswerter Student der philosophischen Fakultät (etwas Sprache, Abschluss in Geschichte) strebt er mittlerweile als zusätzlichen Zeitvertreib einen Master in „Development Economics“ an – doch scheint die Schriftstellerei ordentlich Geld abzuwerfen.

In schneller Folge erschienen bei |Gollancz| bis heute zwei weitere Romane um Takeshi Kovacs: 2003 „Broken Angels“ (deutsch im Juni 2005 als [„Gefallene Engel“) 1509 und Anfang 2005 „Woken Furies“ (wird zum Jahreswechsel als „Heiliger Zorn“ auch auf Deutsch erscheinen). Zudem schreibt er bei |Marvel| die Texte für die Comicbuchreihe „Black Widow“ – die muss aber in Deutschland noch herauskommen.

Genau zwischen die beiden jüngeren Kovacs-Romane fällt indes die Veröffentlichung von „Market Forces“ 2004. Und das Buch hat auch etwas mit „Development Economics“ zu tun. In der deutschen Übersetzung von Karsten Singelmann ist es als „Profit“ im April bei |Heyne| erschienen. Ach ja, die Filmrechte sind auch schon wieder für schönes Geld verkauft und der |John W. Campbell Memorial Award| 2005 für den besten Roman eingesackt …

_Der Plot_

Chris Faulkner ist um die 30 und hat gerade den Job gewechselt. Er steigt neu in die Abteilung „Conflict Investment“ der Firma |Shorn Associates| ein, ein als besonders aggressiv und erfolgreich geltendes Investmenthaus – und „Conflict Investment“ ist deren erfolgreichstes Geschäftsfeld. Es geht im Wesentlichen um die Steuerung ausgewählter Entwicklungsländer zur größtmöglichen Gewinnschöpfung. Gleich zu Beginn erhält Chris seine Firmenpistole überreicht, auf dass er möglicherweise nicht ganz sauber entschiedene Duelle auf der Autobahn sicher zum Ende bringen möge.

Etwas mulmig ist ihm hier schon, erst einmal. Das ebenfalls angebotene Firmenauto (BMW) lehnt er sogar ab, fährt er doch seit Jahren einen ganz speziell verstärkten Saab, umgebaut und gewartet von seiner schwedischen Frau Carla. Die arbeitet ganz offiziell als Mechanikerin, und ihr Vater lebt freiwillig in den Slums – eine stete Quelle für Streit in der jungen Ehe.

Bei |Shorn| findet er schnell einen Verbündeten: Mike Bryant, ein paar Jahre älter, etwas höher in der Hierarchie. Zusammen werden sie bald nach einem extralangen Arbeitstag das Nachtleben in den „Zonen“ erkunden, mit Checkpoints ausgestattete verlotterte Gegenden, in denen die Mehrheit der Bevölkerung verarmt vor sich hin vegetiert. Verständlich, dass Mikes aufgerüsteter BMW hier das Interesse einer Bande von jugendlichen Autodieben hervorruft. Relativ überraschend für Chris ist allerdings die Kaltblütigkeit, mit der Mike die mit einer Eisenstange bewaffneten Diebe mit der Firmenpistole hinrichtet. Selbstverteidigung, klar.

Die Freundschaft wird anschließend durch gegenseitige Familienbesuche in den idyllisch weit vor der Stadt liegenden Häusern gepflegt und muss sich durch allerlei gemeinsame Projekte beweisen. In mehreren Duellen auf der Straße bleibt das |Shorn|-Team siegreich, und Chris trägt entscheidende Teile dazu bei. Klar, dass möglicherweise überlebende Crash-Gegner in ihren Wracks noch schnell der Kreditkarten entledigt und erschossen werden, bevor die Polizei zum Aufräumen randarf.

Chris zerreißt sich immer mehr zwischen harten langen und langen harten Arbeitstagen und den Resten eines Familienlebens. Ja, die Brutalität zerrt an ihm, und gelegentliche Zweifel im Diktatoren-Schach des Arbeitsalltags verdichten sich immer mehr. Er überlegt sogar den Ausstieg, trifft sich mit einem UN-Bürokraten. Der garantiert Immunität gegen Kronzeugendienste über das verbrecherische Treiben von |Shorn|. Ob Chris die Option wahrnehmen wird?

Die berufliche Zerrissenheit zeigt sich schließlich am deutlichsten im Fall einer kleinen unbedeutenden Diktatur in Südamerika (Kolumbien). |Shorn| finanziert seit langem den Diktator, doch der zeigt langsam Alterserscheinungen und sein Sohn ist ein großmäuliger Psychopath. Chris freundet sich sogar mit dem wesentlichen Rebellenführer und dessen Kampf für „Gerechtigkeit“ an – eine bessere Geldanlage, und dazu noch moralisch besser?

Nicht wirklich produktiv ist in der Zwischenzeit, dass Chris nach weiteren spektakulären Straßensiegen auch noch eine Affäre mit einer sehr attraktiven Fernsehmoderatorin beginnt. Die war mal Porno-Aktrice, präsentiert aber mittlerweile eine eigene Show, in der es hauptsächlich um die fahrenden Investment-Ritter geht (die sind auch noch die Popstars der 2050er). Nebenbei hatte die Dame vorher auch noch Affäre mit Mike, und der findet die neue Entwicklung gar nicht so toll, hat er doch geglaubt, mit dem Mädel echte Liebe zu erleben. So wie sich Mike allmählich zum Rivalen und Gegner entwickelt, war es Chris’ formale Chefin schon von Beginn an. Sie fühlte sich schon bei der Einstellung von Chris übergangen, setzte ihn immer wieder auf die haarsträubendsten Duelle an. Doch zu ihrem großen Ärger hat er alle Herausforderungen gemeistert und wurde immer schwerer beherrschbar.

Zeit zur Eskalation.

Bei Investmentgesprächen in London begegnen sich Altdiktator und Rebellenführer in den Räumlichkeiten von |Shorn|. Ziemlicher Mist für Chris, haben ihn seine Gegner in der Firma mit diesem Zusammentreffen doch ernsthaft bloßgestellt. Da hilft nur noch beherztes Handeln: Im Büro, vor den Augen der Kollegen und des Rebellenführers prügelt er den Altdiktator mit einem Baseballschläger zu Tode. Das ist doch mal Einsatz für einen Kunden!

Wie das so kommen muss, hat Chris nun noch eine Menge Ärger durchzustehen, bis zum finalen Showdown: Straßenduell um eine offene Partnerstelle gegen Mike Bryant. Na, wer gewinnt das wohl? Ach ja, das Zitat zum Beginn dieser kleinen Besprechung, das stammt vom Ende des Buchs …

_Gibt es was zu mäkeln?_

So richtig viele Einwände müssen gar nicht sein. Handwerklich ist Morgans drittem Roman wenig vorzuwerfen, die Sprache ist schnörkellos direkt, einfach und mitreißend. Das großzügig mit „fuck“s angereicherte Englisch des Originals hat Singelmann eher milde übertragen, das stört aber keineswegs. Etwas seltsam mutet indes die Ausstattung des mit 13 Euro recht teuren aber zumindest großformatigen |Heyne|-Taschenbuchs an: Was soll das seltsame Bergsteiger-Porträt auf dem Titel?

Die Story ist dafür in sich weitgehend stimmig und relativ sauber ausgearbeitet. Mir scheinen ein paar Details nicht allzu plausibel. Natürlich bin auch ich nicht mit der fehlerfreien Kristallkugel ausgestattet, aber ist es wahrscheinlich, dass ein Yuppie der 2050er noch mit einem Handy telefoniert und einen Saab fährt? Wenn seine härtesten Gegner BMW und Audi fahren? Nur zur Erinnerung: Zu Beginn der 1950er-Jahre hießen die prestigeträchtigsten Automarken in den USA Cadillac oder Packard, in Deutschland waren es Mercedes oder Borgward, in Großbritannien Bentley, Rolls Royce und Daimler – von anderen Ländern ganz zu schweigen. Warum sollten sich die gerade gut laufenden Marken und Produkte noch weitere 50 Jahre halten können, vor allem wenn sich doch scheinbar die böse Ökonomie zum Schaden der Menschheit verändert?

Da sitzt auch mein wesentlicher Kritikpunkt: Die von Morgan postulierte Verelendung der Massen, die scheint mir doch ein wenig altbacken klischeehaft und äußerst unwahrscheinlich. Warum sollten sich veritable Massenproduzenten der Automobilindustrie auf einmal mit der Herstellung von ein paar Hundert Sonderanfertigungen für Investment-Eliten begnügen? Wo kommen die teuren Klamotten, die Telefone, die Neubauten, wo kommt der reichlich verzehrte Malt Whisky her, wenn doch angeblich der ganze arbeitende Mittelstand in die Slums abgesunken ist? Aber egal, ein bisschen negative Utopie darf ruhig sein, auch wenn das Teil mich nicht wirklich zum „Nachdenken“ über ach so gefährliche Globalisierungstendenzen anregt. Die Stärken von „Profit“ jedenfalls liegen woanders.

_Viel Lob_

Es gibt mindestens zwei Gründe, diesen wüst brutalen Roman zu mögen, sehr sogar.
Da ist zunächst die Charakterisierung der Figuren. Chris ist zigfacher Mörder, Ehebrecher, und in seinem Handeln eigentlich auch sonst ein ziemliches Arschloch. Und doch werden sich viele Leser mit ihm identifizieren und ihn leicht schaudernd, ja, doch, sympathisch finden. Denn eigentlich, so suggeriert Morgan geschickt, eigentlich ist er auch ein ganz normaler, patenter Bursche. Er hat immer mal wieder Skrupel, und zumindest zu Beginn seiner beruflichen Karriere auch eine gerechte Motivation (sein erstes Duell-Opfer hatte einst die Familie in Armut gestürzt). Außerdem liebt er seine Carla, doch es sind halt die Lebensentwürfe, die nicht mehr zueinander passen.

Auch heute gibt es eine Reihe Leute, die sich in hoch bezahlten Dienstleistungsberufen (größere Rechtsanwaltsfirmen, Consulting, Investmentbanking) mit überlangen Arbeitstagen und heftigster Konkurrenz herumschlagen. Und auch sie verlieren oft genug die Bodenhaftung, trennen sich von Herkunft und Familie, leben in einer teuren Parallelwelt mit merkwürdig exzessiven Ritualen (habe in der Richtung selbst schon einiges erlebt). Morgan dreht die Schraube hier nur ein ganz klein wenig weiter – und Chris bleibt äußerst glaubwürdig.

Das gilt auch für seine langsam verzweifelnde Frau Clara, den ach so skrupellosen und doch verunsicherten und heillos verliebten Mike, die eiskalten und doch sentimentalen Chefs, und und. Durchgängig sauber gezeichnetes Personal bevölkert „Profit“.

Doch es gibt noch mehr zu loben. Kommen wir endlich zur wesentlichen Stärke des Buchs, und zur größten Stärke des Richard K. Morgan: Hier gibt es ACTION Writing! In den reichlich vorhandenen schnellen Gewaltszenen, besonders bei der Schilderung der Duelle, ist es absolut unmöglich, das Buch auch nur einen Moment zur Seite zu legen. Ich ertappe mich dabei, die Zähne zusammenzubeißen, die Luft anzuhalten. Beobachte, wie Muskelanspannung und Blutdruck steigen. Wahnsinn. Morgan bekommt beinharte und absolut umwerfende Actionszenen hin, die sich auch noch bis zu ihren jeweiligen Höhepunkten permanent steigern. Großer Applaus dafür, „Profit“ schlägt so ziemlich jeden Actionfilm in der schieren Präsenz und Kraft der Gewaltszenen. Kein Wunder, dass Hollywood da Interesse zeigt.

Schnell, hart, direkt, mitreißend, toll. Natürlich sollte schon eine gewisse Bereitschaft vorhanden sein, sich auf so etwas einzulassen, doch Morgan kann hier auf ganzer Linie überzeugen. Die Gewalt ist nicht ganz so überblutig wie bei den SF-Reißern um Takeshi Kovacs, doch sie unterhält wie eine gute Achterbahnfahrt.

_Und damit zum Urteil:_

„Profit“ bietet eine trotz leichter Logikmängel ordentliche und halbwegs plausible Story, schön zur Katharsis strebend. Es gibt glaubwürdige und gut gezeichnete Charaktere. Dazu atemlos machende Actionszenen, reichlich davon. In der Summe ein höchst spannender und unterhaltsamer Roman zur nahen Zukunft, der sogar bei mehreren Szenen zum wiederholten Lesen animiert. Sicher ist er eher für eine männliche Kundschaft geschrieben, doch die sollen ja durchaus auch mal was lesen … Richard K. Morgan hat den Erfolg verdient, und auch diese Empfehlung. Wenn er so weitermacht, ist er nicht mehr aufzuhalten. Kaufen!!!

http://www.richardkmorgan.co.uk/

|Originaltitel: Market Forces
Aus dem Englischen von Karsten Singelmann
Taschenbuch, 576 Seiten
ISBN-10: 3-453-52202-8
Paperback, 576 Seiten (April 2005)
ISBN-10: 3-453-40051-8 |

Barry, Max – Logoland

Eine neue Welt, ganz vertraut.

Endlich! Die Steuern sind abgeschafft, die Regierung nicht mehr so wichtig. Sie muss sich für all ihre Aktivitäten jeweils gezielt von den Bürgern bezahlen lassen. Die Polizei ist auch nur eine Sicherheitsfirma, genau wie die |National Rifle Association|, NRA (derzeit noch amerikanischer Lobbyverein für Waffennarren). Rechtsprechung – eine Sache des Preises.
Dazu tragen die Leute praktischerweise gleich mal den Namen ihrer Hauptgeldquelle (i.d.R. der Arbeitgeber) als Nachnamen – oder gar keinen, wenn sie selbständig sind. Überraschend aber schon, dass bei all der vermeintlichen Freiheit von Staat und Verwaltung doch nur einige wenige amerikanische Konzerne die Welt dominieren – jedenfalls außerhalb Europas.
Australien, Japan, Südostasien und Russland haben sich mit den USA zu einem amerikanisch bestimmten Superstaat zusammengeschlossen – und überall sieht es gleich aus (identische Produkte, Malls, Wolkenkratzer).
Eine munter pseudoliberale Parallelwelt, in die Max Barry da führt. Und sie als „nahe Zukunft“ bezeichnet. Wie glaubwürdig der Weltentwurf auch sein mag, immerhin zieht er einige der beliebtesten Argumentationslinien der Globalisierungsgegner durchaus sorgfältig und mit viel Spaß am Detail nur ein ganz klein wenig weiter – und baut einen rasanten Krimi hinein.

|Max Barry|

… ist Australier, im März 1973 geboren, hat mal für |Hewlett Packard| Computer verkauft – und legt mit „Jennifer Government“, so der Original-Titel, nach „Syrup“ bereits seinen zweiten Roman vor. Gerne gibt sich der junge Bestseller-Autor aus Melbourne clever, heutig, frisch – und unverschämt. In diesem Jahr wird sein dritter Roman „Company“ erscheinen.

Autorenhomepage: http://www.maxbarry.com

|Logoland|

In der deutschen Übersetzung von Anja Schünemann ist „Jennifer Government“ als „Logoland“ noch im Jahre 2003 bei |Heyne| erschienen. Das Buch scheint sich in Deutschland steter Beliebtheit zu erfreuen. Womöglich liegt das auch an der gelungenen Übersetzung, die Geschwindigkeit und Frische zuverlässig übertragen soll (habe bislang nur das Original gelesen). Barry schreibt temporeich, wendig, einfach lesbar, und immer mit ironischem Nebenton.

_Der Plot_

Hank Nike, ein rechter Tropf und armer Tor in Diensten des niedrig beleumundeten Nike-„Merchandising“ wird von gleich zwei wichtigen John Nikes aus dem megawichtigen „Marketing“ für einen besonderen Job rekrutiert. Er soll ein mutiges Stück Guerilla-Marketing verantworten. Um zu sichern, dass der seit Monaten heftig beworbene, bisher aber nur in Minimalst-Auflagen an Prominente verteilte „Mercury“-Schuh sich richtig schnell zu einem maximalen Preis (2500 $) abverkauft, gilt es ihn bei der Primärzielgruppe unglaublich begehrt zu machen: Teenager. Dazu sollen beim großen Rollout am nächsten Wochenende zehn frischgebackene Käufer gleich beim Verlassen eines beliebigen Nike-Stores erschossen werden – So begehrt sollen die Schuhe erscheinen, dass dafür auch mal ein Mord begangen werden kann. Oder auch zehn davon.

Hank wird, tropfig wie er nun mal ist, erst nach Unterschrift unter den umfangreichen Vertrag zu dieser ehrenvollen Aufgabe klar, auf was er sich da wirklich eingelassen hat. Nach Rücksprache mit seiner energischen Freundin Violet (ohne Nachnamen) entschließt er sich, zur Polizei zu gehen.

Gerne hilft die Polizei – und präsentiert gleich mal die bestmögliche Lösungsalternative für Hanks Dilemma: Wir machen das für Sie! Natürlich nur gegen einen kleinen Obulus von 150.000 $. Verstört und recht aufgelöst willigt Hank ein. Die Polizei ihrerseits allerdings hat gerade ein Ressourcenproblem und beauftragt ein weiteres Subunternehmen, die National Rifle Association. Die kann nach Auflösung der meisten Regierungseinheiten immerhin die größte Armee der neuen großen Vereinigten Staaten aufbieten. Die Jungs von der NRA erledigen den Job, sogar besser als geplant: Gleich 14 Teens mit frisch gekauften Turnschuhen finden den schnellen Tod.

An einem der Schlachtpätze treten dann auch erstmalig zwei wichtige weitere Figuren auf:
Buy Mitsui, Flüchtling aus dem überregulierten Frankreich und Börsenmakler. Er wird einem Teenmädel, Opfer, kurz vorher das nötige Geld für den Erwerb der Mercurys schenken. Einfach so, hat er doch kurz zuvor mit einem hochriskanten Deal (nicht legal) seinen Job, seinen Bonus und sein Auskommen gerettet. Das Mädel wird in seinen Armen sterben, während er für den Callcenter-Menschen von der Ambulanz nach seiner Kreditkartennummer sucht.

Auftritt Jennifer Government, Titelheldin des Romans. Sie ist zufällig dienstlich in der Nähe und erwischt einen der NRA-Attentäter fast, bevor sie mit einem Schuss auf ihre selbst gekaufte Sicherheitsweste in die Windschutzscheibe eines zwei Stockwerke tiefer zu gewinnenden Mercedes katapultiert wird (natürlich muss die Regierung den Schaden am Auto ersetzen).
Jennifer, alleinerziehende Mutter, früher mal wichtig in der Werbebranche, wird die Verfolgung der Täter aufnehmen.

Die tödlichen und abstrusen Vorfälle häufen sich. Während der eine der bösen Marketing-Johns von Hanks Freundin mittels Toaster ins Koma befördert wird, steigt der andere in der Nike-Hierarchie weiter auf. Nike ist mit anderen Firmen in einem gemeinsamen Bonusprogramm („US Alliance“) verbunden. Und eigentlich gibt es nur noch ein einziges ernsthaft zur Rivalität fähiges Bonusprogramm: „Team Advantage“. John will Krieg – und den Gegner vernichten. Doch bevor es den Firmen-Gegnern an den Kragen geht, muss noch ein anderes lästiges Hindernis beseitigt werden: Die Reste der Regierung!
Schnell gedacht, konsequent gehandelt, ein Flugzeug mit den wichtigsten Ministern und dem Präsidenten wird (für gutes Geld) von der befreundeten NRA abgeschossen. Dann geht der Krieg der Bonusprogramme auf der Straße erst richtig los. Mitten drin Buy, Hank, Violet und Jennifer, die es nach etlichen Verwirrungen tatsächlich schafft, den ultrabösen John (nebenbei auch noch Vater ihrer Tochter) hinter Gitter zu bringen. Nach den zahlreichen Todesfällen wird es den anderen Chefs der Bonusprogramme nämlich doch etwas unsicher – und vor allem zu wenig profitabel.

Moral von der Geschicht: Ohne Regierung geht es nicht, aussteigende Börsenmakler geben gute Väter ab – und geschwängert verlassene Frauen sind auf Dauer unbezwingbar!

_Was es bringt_

Wenn auch die konzernkritische Grundstimmung manchmal arg platt vorgetragen wird – dieses Buch ist sehr unterhaltsam. Immer wieder erfreuen kleine Vignetten und Seitenhiebe auf den Konsum-Absolutismus amerikanisch-japanischer Prägung. Marketing-aktive Menschen mögen so manche Situation wiedererkennen – und konstatieren, dass die Überzeichnung oft nur gering scheint.
Zudem ist das Buch bis in die Nebenfiguren hinein (tumbe Scharfschützen, blöde Teenkälber, überambitionierte Softwareentwickler) farbig und erfrischend besetzt. Sicher sind einige Charaktere eher Schablonen denn wahrhaftige Menschen – aber in einem lustigen Actionkracher darf das auch mal sein. Zumal er gelegentlich auch ein wenig zum Weiterdenken anregt.

|In der Summe:| Spannende Unterhaltung mit anregender Wirkung, gut beobachtet, humorvoll und schnell lesbar: |JUST DO IT!|

Eugenides, Jeffrey – Middlesex

Gekauft – aber noch nicht gelesen? Angelesen, aber irgendwie nicht weitergekommen? Mit belletristischen Bestsellern machen wohl viele Käufer solche Erfahrungen. Angelockt von hymnischen, begeisterten oder einfach nur positiven Besprechungen wird gekauft, aber dann …

Mit „Middlesex“, dem 2003 erschienenen zweiten Roman des Amerikaners Jeffrey Eugenides, mag es sich ähnlich verhalten. Aber: Er hat diese mögliche Missachtung nicht verdient. Im Gegenteil.
Abschreckend mag am Anfang wirken, dass das Buch recht umfangreich ist. Es bietet 529 Seiten im Original, 816 in der deutschen Übersetzung von Eike Schönfeld, als Taschenbuch mit 736 Seiten im November 2004 bei |Rowohlt| erschienen. Aber das sollte doch die eifrigen Leser langer Schmöker, von denen es unter unseren Lesern durchaus einige geben soll, nicht abhalten. Zurückhaltung mag auch durch das vordergründig nicht so wahnsinnig spannende Thema gefördert werden: Der Roman erzählt die Familiengeschichte eines griechischstämmigen Hermaphroditen, dessen Kindheit und Adoleszenz, sehr knapp durchschossen von einigen Sequenzen im Berlin von heute (die sind aber nur schmückendes Beiwerk).

_Wer schreibt da?_

Jeffrey Eugenides ist hierzulande seit Erscheinen des Buches auf Deutsch im Sommer 2003 ein immer wieder gerne präsentierter Vorzeige-Amerikaner. 1960 in Detroit geboren, seit einigen Jahren in Berlin lebend und arbeitend. Griechische Herkunft, Intellektuellen-Kinnbärtchen, Halbglatze.
Warum das wichtig ist? Nun ja, die Hauptfigur des Romans („Calliope“ oder einfach „Cal“) teilt mit ihm das Geburtsjahr, den spitzen Künstlerbart, annähernd die Herkunft – aber nicht die Halbglatze.

Eugenides wurde vor rund zehn Jahren mit seinem Romandebüt „The Virgin Suicides“ (auch verfilmt, mit ordentlichem Soundtrack der geschmäcklerischen Franzosen |Air|) schon recht bekannt. Da hatte er ein Thema, das sich auch in Middlesex wiederholt: Den Beginn der bewussten Wahrnehmung eigener Sexualität, das Leben in geordneten amerikanischen Vorstadt-Verhältnissen, und die Turbulenzen darunter. Vereinfacht könnte man sagen: Der Kerl schreibt ja Jugendromane! Aber so ganz stimmt das natürlich nicht. Und mit „Middlesex“ übertrifft er meiner Meinung nach das vor zehn Jahren hoch gelobte (und von mir damals auch erfreut aufgenommene) Debüt doch erheblich. Reifer ist er geworden, tiefer, schärfer, brillanter.

_Worum es geht_

Nein, die Story in allen Verästelungen darf ruhig ein anderer nacherzählen, am besten lässt sie sich ohnehin im Buch selbst nachlesen. Da dies keine klassische Spannungs- oder Abenteuerliteratur ist, sind die Wendungen des Plots ohnehin nicht das Wichtigste.
Kurz gefasst spannt sich die Erzählung über einen Rahmen von etwa 80 Jahren, beginnend mit der Vertreibungsgeschichte der kleinasiatischen Großeltern des Helden / der Heldin. Zwei Geschwister wachsen auf in einem Dorf, leben von der Seidenraupenzucht, bis der Krieg (Atatürk) sie aus der Heimat vertreibt. Auf dem Schiff nach Amerika heiraten die Geschwister, kommen an in Amerika, genauer in Detroit. Dort beginnen sie ihr neues Leben, arbeiten für Ford, als Schmuggler, in der eigenen illegalen Kellerbar (Prohibition), für eine falsche schwarze Erweckungsgemeinschaft, im eigenen Imbiss.
Die zweite Generation (Cals Eltern) ist schon richtig amerikanisch, verlässt nach Rassenunruhen das Zentrum Detroits (wie so ziemlich alle anderen auch), kommt zu jährlich neuen Cadillacs und zu zwei Kindern. Eins davon ist das Wunschmädel Calliope, deren Kindheit und ganz besonders frühe Teenjahre ausführlich geschildert werden. Sie verliebt sich in eine junge rothaarige Kettenraucherin, einem liebevollen Sommer (samt Entjungferung Cals) folgt das jähe Erwachen: Cal ist genetisch ein Mann – und die zugehörigen Geschlechtsorgane sind auch da, nur ein wenig versteckt. Jetzt sind schon über achtzig Prozent des Plots herum, die männlichen Jahre Cals bis heute werden nur noch in kurzen Impressionen geschildert.

_Und worum geht es wirklich?_

Die eigentlichen Themen von Eugenides’ Roman sind durchaus vielschichtig. Nach meinem Verständnis geht es unter anderem um

– sexuelles Erwachen
– Immigration
– Identitätswechsel
– sich entvölkernde Städte
– Selbstfindung in Suburbia
– Nature vs. Nurture
– letzte Chancen

Und am Rande lernen interessierte Leser natürlich auch noch einiges über Hermaphroditen, die Geschichte Kleinasiens und Detroits, griechisches Essen, Kultur, und und und.

_Zur Bewertung_

In der Rückschau darf „Middlesex“ als eine der besten Neuerscheinungen des Jahres 2003 gelten – wenn nicht |die| beste.
Vieles, wenn nicht das meiste an der Story dieses breit angelegten Romans ist durchaus nicht im alltäglichen Erfahrungsfeld der allermeisten Leser zu finden – und doch fühlt zumindest dieser Rezensent sich konstant angesprochen. Die Charaktere sind fast durchgängig mehr als glaubhaft, interessant bis fesselnd. Die Sprache ist souverän, so soll Erzählen heute klingen. Die Geschichte, die Jeffrey Eugenides ausbreitet, ist bei aller Entfernung eine Geschichte, die mich schon nach wenigen Seiten wirklich interessiert und stellenweise fasziniert.
Und hatte ich mich anfangs noch hauptsächlich wegen des in guter Erinnerung gebliebenen Autors und des etwas exotischen Sujets für „Middlesex“ interessiert, so wich diese oberflächliche Neugier doch bald dem unbedingten Weiterlesen-Wollen.

„Middlesex“ unterhält, es macht nachdenklich, es öffnet neue Blickwinkel. Der |Pulitzer|-Preis dafür ist mehr als gerechtfertigt, und ich bin froh, dass der Detroit-Berliner Vorzeige-Autor noch jung genug ist, weitere Bücher zu schreiben. Wenn er in dieser Form weitermacht, dann kommt da alle paar Jahre mal wieder ein wirkliches literarisches Ereignis. Von denen gibt es nicht genug, also sage ich schon im Voraus einmal: Danke.

Und damit zur abschließenden Empfehlung (in vier Worten):

Nicht bloß kaufen – |LESEN!|

Stephenson, Neal – Quicksilver (Barock 1)

_Vorspann_

Das ausgehende 17. Jahrhundert war besonders für Europa eine erbauende Zeit – auch wenn die richtig großen Fortschritts-Schübe noch eine Weile auf sich warten lassen sollten. Die Nachwehen des 30jährigen Kriegs wurden allmählich überwunden. Wirkliche Demokratie war noch ein ganzes Stück entfernt, dazu verbrauchten sich die untereinander eng verwandten europäischen Monarchen in endlosen Kleinkriegen. Aber dennoch begann die Aufklärung durch die Lande zu leuchten. Das, was die Heutigen als „Wissenschaft“ („Science“) wahrnehmen, das nahm ganz allmählich heute noch vertraute Formen an. Und deswegen sollten Erzählungen vor diesem historischen Hintergrund auch für die Heutigen durchaus verständlich und spannend sein. Besonders für Leute aus dem angelsächsischen Sprachraum, denn vor gut 300 Jahren lebte in England mit Isaac Newton eine der wichtigsten Gründungsfiguren moderner Wissenschaft. Und dazu erhob sich ganz allmählich eine ernst zu nehmende englische Seemacht. Und in dieses Umfeld begibt sich Neal Stephenson mit seinem monumentalen Roman „Quicksilver“.

_Neal Stephenson_

… gilt seinen zahlreichen Verehrern als herausragender Science-Fiction–Autor. Er wurde 1959 geboren und lebt in der Nähe von Seattle. „Science““hat er sicher schon als Kind mitbekommen, entstammt er doch einer Familie, die bereits seit Generationen allerlei naturwissenschaftliche Professoren hervorgebracht hat. Er selbst studierte zuerst Physik, dann Geografie. Beides sollte sich für dieses Buch als hilfreich erweisen. Bereits mit Ende zwanzig konnte er erste Erfolge im Feld der „Fiction“ aufweisen. Auf sein Konto gehen vergnügt verschrobene Abenteuer-Erzählungen wie der Erstling „Zodiac“ (1988) oder „The Diamond Age“ (1995). Dazu das bahnbrechend visionäre „Snow Crash“ (1992) und der erstaunliche Bestseller „Cryptonomicon“ (1999).
„Quicksilver“ ist der erste Teil seiner etwa zwischen 1670 und 1720 spielenden „Barock“-Trilogie. Er behauptet dazu weiterhin, nichts anderes als eben „Science Fiction“ zu schreiben. So mancher Leser mag sich allerdings eher im historischen Roman oder einem schön altmodischen Mantel- und Degen-Epos wähnen. Keine Raumschiffe hier, auch keine Computer (nur frühe Ideen dazu).

_Das Buch_

„Quicksilver“ ist zunächst einmal rein haptisch ein überaus beeindruckendes Werk. Der im September 2004 als |Manhattan|-Buch im |Goldmann|-Verlag erschienene Schmöker wiegt 1,3 Kilogramm und hat (ohne Personenverzeichnis) satte 1130 Seiten Text, eng bedruckt. Wohl wegen des außerordentlichen Umfangs leistete sich der Verlag gleich zwei Übersetzer (Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl). Die Ausstattung orientiert sich sehr eng am amerikanischen Original (habe mittlerweile die beiden Fortsetzungen gelesen). Sie ist hochwertig, den Preis von 29 Euro durchaus rechtfertigend. Aber warum wurde eigentlich der Titel (auf Deutsch „Quecksilber“) nicht übersetzt? Wird der nächste Teil dann auch „The Confusion“ heißen?

_Was passiert?_

Der Riesenwälzer besteht aus drei zeitlich und in der Handlung miteinander verwobenen „Büchern“, mit zahllosen Handlungssträngen und kurzen Gastauftritten allerlei bekannter Figuren der Zeit. Die Namen der Hauptfiguren jedoch dürften dem geneigten Fan schon aus „Cryptonomicon“ bekannt vorkommen.
Auftritt Daniel Waterhouse, Querdenker, Puritaner und Verächter der überkommenen Alchemie. Er teilt sich das College-Zimmer mit – Isaac Newton! – und befreundet sich nebenbei mit allen verfügbaren realen Geistesgrößen, von Hooke über Wren zu Pepys und Leibniz. Na ja.
Gleichzeitig: Jack Shaftoe wird vom Londoner Henkersgehilfen zum legendären König der Vagabunden. Er reitet und schwingt das Schwert, riskiert Leib und Leben für sein Glück und seine Liebe – und verliert durch die Syphilis schleichend den Verstand.
Gleichzeitig: Eliza, als Sklavin von einem finsteren, verdorbenen Fisch futternden französischen Admiral einst aus dem fiktiven Land ihrer Herkunft (irgendwo in Großbritannien) geraubt, hat es zur türkischen Haremsdame gebracht. Dabei ist sie noch nicht mal volljährig! Der Obertürke nimmt sie mit nach Wien, dort befreit Vagabundenkönig Jack die Holde. Auf geht es durch manches Abenteuer in deutschen Fürstentümern, bis nach Amsterdam. Dort erweist sich die Dame als Finanzgenie, sie bringt es schließlich an den Hof Ludwigs XIV, sie wird Mätresse, Spionin und Schachfigur in den Händen diverser königlicher Staatsoberhäupter.
Munter geht es hin und her, kurze Abstecher in das Massachusetts des Jahres 1714 eingeschlossen. Und immer, wenn eine der Hauptfiguren nicht mehr weiter weiß – hurra! da kommt ein gewisser Enoch Root um die Ecke. Und er hat natürlich immer die richtige Idee, kein Wunder, bei seiner Erfahrung …

Es wäre schlichtweg vermessen, alle Handlungsstränge hier nacherzählen zu wollen. Es sind zu viele. Schon ein wenig störend wirkt, dass keine der Plotlinien wirklich zu einem klaren Ende geführt wird. Der Kauf der Fortsetzungs-Romane des großen Zyklus wird da fast unvermeidbar. Immerhin bleibt es zumeist sehr unterhaltsam, und immer recht abenteuerlich.

_Worum geht es denn?_

Ja, bei Bedarf lässt sich hier eine Menge über Wissenschaftsgeschichte erfahren, über Sittengeschichte, Staatenwerdung, etc. Aber zum Stillen übermächtigen Wissensdurstes ist „Quicksilver“ dann doch nur bedingt geeignet. Auch wenn all die in umfassender Detaillierung geschilderten Alltagssorgen und –verrichtungen der Figuren weitgehend authentisch sein dürften – da gibt es Besseres (wie zum Beispiel das echte Tagebuch des echten Samuel Pepys). Obwohl der historische Rahmen weitgehend korrekt beschrieben scheint, dominieren doch die fiktiven Figuren. Und deren philosophische Tiefe scheint mir trotz allen Diskurses der edlen Herren von der „Royal Society“ dann doch arg begrenzt. Dies ist ein extra langer Abenteuer-Schmöker in Cinemascope, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

_Und wie lässt es sich schmökern?_

Überaus vergnüglich. Stephenson hält eine mild ironische Tonlage locker durch. Die oft leicht antiquierte Schreibweise des Originals (uralte Verben, obsolete Rechtschreibung etc.) wurde durch die Übersetzer leider weitgehend getilgt. Schade eigentlich, steigert sie doch den Charme des Barock-Zyklus erheblich. Und barock, ja, barock geht es hier zu. Spielszenen werden eingeflochten, Spottgedichte, gelegentlich wandelt sich das Buch zum Briefroman. Immer aber gibt es flotte Action, Ehre und große Gefühle, erbauliche Details, manchmal etwas konstruiert anmutende Begegnungen – aber was soll’s. „Quicksilver“ ist mächtig unterhaltsam, und sehr schwer zur Seite zu legen. Auch wenn die Lektüre sicher einige Wochen Zeit beansprucht.

_Zum Abschluss_

In diesem Buch gibt es „Science Fiction“ nur im wörtlichen Sinne. Großzügig ausgeteilte Brocken Wissenschaftsgeschichte in einem herrlich dahinsprudelnen Abenteuerroman mit historischer Kulisse. „Quicksilver“ ist angenehmer Eskapismus. Die Helden sind nur selten eindimensional, meist liebevoll gezeichnet. Wärme und Humor durchströmen das Buch. Schön für lange Winterabende, schön als Urlaubslektüre.
Nur etwas schwer zu transportieren.

Homepage des Autors: http://www.nealstephenson.com

Metaweb des Autors: http://www.metaweb.com

Pelecanos, George P. – King Suckerman

Am Anfang drei Fragen: Gibt es wirklich einen Film, der „King Suckerman“ heißt? Spielt Sean Combs („P. Diddy“) darin eine Hauptrolle? Was hat dieser Krimi damit zu tun? Antworten kommen bald, zuvor noch einige Basis-Infos:

„King Suckerman“ ist 1997 als sechster Roman des amerikanischen Autors George P. Pelecanos erschienen und wurde 2000 als deutsche Übersetzung bei |Dumont| veröffentlicht (als |Dumont Noir|–Taschenbuch Nr. 16).

_George P. Pelecanos_

Wie der Name schon vermuten lässt, ist er griechischer Herkunft, allerdings in Washington DC geboren (1957) und dort auch aufgewachsen. Er lebt immer noch dort, heute indes mit Frau und drei Kindern in Silver Springs (formal Maryland, aber eigentlich ein Teil von Washington). In seiner Jugend hat er viel Basketball gespielt (mit 16 sogar in der Freizeitmannschaft, die die Stadtmeisterschaft gewann). Nur logisch, dass da fast jedes seiner Bücher auch ein Basketball-Nebenthema hat.
Als Krimi-Autor fühlt er sich (wie so häufig) von Hammet und Chandler angeregt, wichtigste Inspirationen waren ihm zu Beginn seiner Laufbahn allerdings James Crumley und Kem Nunns „Tapping the Source“. Von seinen Kollegen mag er besonders Michael Connelly und Dennis Lehane (beide wirklich sehr zu empfehlen).
Pelecanos ist nicht bloß Krimi-Schreiber. Er hat mal Schuhe verkauft, leitete eine kleine Ladenkette für Unterhaltungselektronik und später auch die Produktionsfirma Circle Films, die u. a. sämtliche der frühen Filme der Coen-Brüder produziert hat – „Blood Simple“, „Raising Arizona“, „Miller’s Crossing“ und „Barton Fink“. Pelecanos war es auch, der John Woo (u. a. „Face/Off“) nach Amerika holte. Heute verdient er sein Geld zu etwa gleichen Teilen mit Krimis und mit Fernsehen. Er veröffentlicht ungefähr ein Buch pro Jahr und ist Produzent der recht erfolgreichen TV-Serie „The Wire“ auf HBO.

_Washington DC, Sommer 1976_

Die 200-Jahr-Feier der USA steht an. Es ist heiß. In den Kinos läuft gerade ein weiterer Blaxploitation-Film los, „King Suckerman“ (fiktiver Titel). Aus dem tiefen Süden kommt ein seltsames Verbrecher-Häuflein nach DC, um einen größeren Drogendeal zu machen: Wilton Cooper, schwarz, ultrahart, Berufsverbrecher, ultraböse. Bobby Roy Clagget, ein unterbelichteter dürrer weißer Bengel, der am liebsten ein richtig harter böser Neger wäre und gerade den Besitzer eines Autokinos abgeknallt hat (weil der ihn so komisch anglotzte). Dazu Ronald und Russell Thomas, zwei schwarze Brüder an der Grenze zwischen massivem Schwachsinn und Tollwut, mordgeübt, mordlustig, mordbereit.

Hier sind sie nun in DC und holen sich Informationen bei einem lokalen Dealer, der sich nebenbei auch noch als Hehler betätigt. Cooper und Clagget treffen ihn, und treffen dabei auch auf zwei andere Gäste, die eher zufällig da sind. Das sind die wesentlichen Helden, beide Ende zwanzig:
Marcus Clay, groß, schwarz, ehemaliger Basketballer, in Vietnam gewesen, jetzt Eigentümer eines Plattenladens („Real Right Records“). Er liebt die Musik von Curtis Mayfield, seine Freundin Elaine, seinen 72er Buick Riviera und immer noch den Basketball. Außerdem kann er hart zuschlagen, aber nur, wenn es sein muss.
Dimitri Karras, sein bester Freund seit Kindertagen, auch groß und Hobby-Basketballer, Grieche (dritte Generation). Karras war mal auf dem College, hat sogar Kurse dort gehalten, doch seit einigen Jahren beschäftigt er sich vorwiegend mit den Frauen und arbeitet nebenher noch ein wenig als kleiner Drogendealer, verkauft Hasch und Tabletten an College-Kids. Nicht dass er deswegen auf der Seite des Bösen stünde.
Heute sind sie beide hier, um wieder mal ein wenig Stoff zu holen, Marcus ist nur dabei, weil sie gemeinsam noch zum Freizeit-Basketball fahren wollen.

Es kommt zum Streit mit Cooper und Claggett. Wenn die beiden mit ihren grenzdebilen Schießfreunden das Drogengeschäft erledigt haben (zusammen mit einer ganzen Rockerbande), dann wollen sie zurückkommen und auch Clay und Karras erledigen. Es wird viel Blut geben. Am Ende einen großen Showdown während des 200-Jahr Feuerwerks. Marcus und Dimitri, gestützt durch die Hilfe einiger alter und neuer Freunde, werden überleben – nicht ohne Verletzungen.

Eine harte Geschichte, dichte Atmosphäre, viel Blut und Gewalt. Einige kleine Nebenplots, die auf andere Bücher Pelecanos‘ verweisen. Tief verwurzelt in der Story die Moral: Freundschaft, Familie und Eigentum sind lebenswichtig und zu schützen, egal was an sittlichen Verfehlungen sonst so anfällt. So gesehen eigentlich recht konservativ, wie so ziemlich jeder gute „hard boiled“-Krimi. Dazu aber auch viel Musik der Zeit, coole Autos und, ganz wesentlich, interessant gebrochene Charaktere. Diese Leute, die Guten vielleicht etwas eher als die Bösen, wirken glaubhaft. Insgesamt liest sich „King Suckerman“ sehr flüssig und schafft es, mich als Leser von Beginn an zu fesseln. Nein, diese Story lässt sich nicht so einfach weglegen (und das Buch hat nicht zu Unrecht einige Preise gewonnen).

_Zum Schreibstil_

„King Suckerman“ bietet |Creative Writing| der Oberklasse (auch wenn Pelecanos das nie ausdrücklich gelernt hat). Schnell, direkt, plastisch, fast schon filmisch. Die filmische Struktur wird immer wieder deutlich, häufig springen den Leser beinahe fertig ausgearbeitete kleine Filmszenen an. Ich denke beim Lesen: Das Ding muss doch schon verfilmt sein, und einen Soundtrack müsste es doch auch geben …

Ganz wichtig für den Genuss dieses Krimis (wie der anderen Pelecanos-Bücher) sind die präzisen und profunden Milieukenntnisse. Ob das die Schilderung der Umgebung ist, der Kleidung, der Musik, der Bewegungen, alles stimmt bis ins Detail. Ganz besonders gilt das für den Dialog. Und hier offenbart die deutsche Übersetzung dann doch erhebliche Schwächen. Ich muss zugeben, diese Schwächen erst richtig gesehen zu haben, nachdem ich mir im Anschluss an „King Suckerman“ andere Bücher von Pelecanos auch mal im Original durchgelesen habe (es gibt ja längst nicht alles von ihm auf Deutsch).
Sämtliche Figuren werden da glasklar durch ihre Sprechweise charakterisiert, nicht bloß die schwarze Ghettosprache wird sauber abgebildet, bis in die letzte Nebenfigur stimmen Akzent und Wortwahl (soweit ich das mit amerikanischen Verwandten und mehrjähriger Ostküsten-Erfahrung beurteilen kann). Hier kommt das Deutsche einfach nicht nach, irgendwelche deutschen Sprachmuster einfügen zu wollen, wäre auch fatal. Auch die immer wieder eingewobenen Songtexte und Basketball-Referenzen verlieren durch die Übersetzung doch deutlich an Energie. Das ist schade, denn die enorme Farbigkeit von Pelecanos‘ Schreibe kommt so insgesamt nur etwas matt herüber. Also, meine Empfehlung (selbst wenn die Englisch-Kenntnisse nicht |so| perfekt sein mögen): Möglichst im Original kaufen. Trotzdem ist die Übersetzung von Bernd Holzrichter solides Handwerk. Und für den Einstieg eignet sich eins der |Dumont|-Bücher durchaus.

_Und was war jetzt mit dem Film?_

April 1998. Sean Combs (da noch „Puff Daddy“) ist auf dem Höhepunkt der Verkaufszahlen seiner Plattenfirma |Bad Boy| angekommen. Aber sein Ego ist zu groß, um sich nur mit einer Rolle als Plattenproduzent und Gelegenheits-Rapper bescheiden zu wollen. Modeschöpfer will er werden, und Filmstar. Die erste „Sean John“-Modelinie lässt er entwerfen – und er sichert sich die Rechte für die Verfilmung von „King Suckerman“. Oliver Stone soll den Regisseur geben. Für sich selber reserviert Puffy die Rolle des Marcus Clay (eigentlich erstaunlich, wo er doch eher kleinwüchsig ist).
Das von Pelecanos gelieferte Skript wird mehrfach umgeschrieben, doch eigentlich liegt es nicht am Skript, dass aus dem Film bis auf weiteres nichts wird: Der Herr Combs ist einfach kein Schauspieler (um es mal zurückhaltend zu sagen). Immerhin hat es mit der Mode funktioniert, die überteuerte „Sean John“-Konfektion läuft seit Jahren außerordentlich gut.
Schade um den Film jedoch. Dieses Buch hätte eine gute Verfilmung nicht bloß verdient – es bietet sich ganz klar dazu an, immer noch.

_Was geschah |nach| „King Suckerman“?_

George Pelecanos hat mittlerweile ein halbes Dutzend weiterer Bücher veröffentlicht. Vom direkten Nachfolger „The Sweet Forever“ liegt bereits eine deutsche Übersetzung vor (als „Eine süße Ewigkeit“ bei |Dumont Noir|). Die wichtigsten Charaktere aus „King Suckerman“ tauchen wieder auf, es ist 1986, Marcus Clay hat mittlerweile vier Plattenläden und Dimitri Karras ist sein BMW-fahrender Geschäftsführer – mit einem deutlichen Kokainproblem. Es gibt allerlei dramatische Verwicklungen mit jugendlichen Drogendealern und korrupten Polizisten, die ich hier nicht weiter verraten will. Stattdessen eine klare Kaufempfehlung.
Auch „Shame the Devil“, Anfang 2000 erschienen, greift auf Clay und Karras zurück, spielt aber wieder zehn Jahre später, 1996 – und ist meines Wissens bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt (dafür aber auf Französisch als „Funky Guns“ erhältlich). Das gilt auch für sein aktuelles Buch, „Hard Revolution“, in dem er Clay und Karras mal alleine lässt. Stattdessen besucht er einen anderen seiner Serienhelden, den schwarzen Privatdetektiv Derek Strange, als jungen Polizisten im Jahre 1968. Bin mal gespannt …

Als Einstieg in die Welt des George P. Pelecanos ist allerdings „King Suckerman“ kaum zu schlagen. Dass er nebenbei noch die auslaufende Blaxploitation-Welle und das schwarze Amerika der Mittsiebziger sauber aufzeichnet, das sind nur Nebenargumente: Hier ist einer der besten amerikanischen Autoren für „hard boiled“–Krimis am Werk – und er schreibt trotz verzeihlicher kleiner Abschweifungen ganz vorzüglich. Dieser Krimi ist spannend, kraftvoll und auf zugängliche Weise echte Literatur.

Also nochmals meine eindringliche Empfehlung: Go get it!