Lewycka, Marina – Caravan

Nachdem Marina Lewycka mit ihrem Debütroman [„Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ 2970 einen großartigen Erfolg gelandet hat, der mittlerweile schon in 33 Sprachen übersetzt wurde, hat sie nun mit „Caravan“ ihren zweiten Roman abgeliefert. Die Thematik ist eine ganz ähnliche wie schon in ihrem Erstlingswerk. Es geht wieder einmal um ukrainische Einwanderer und ihren Lebensalltag in England – ein Themenkomplex, der Marina Lewycka schon aufgrund ihrer eigenen Biographie am Herzen liegen dürfte. Sie ist selbst Kind ukrainischer Flüchtlinge, in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und in England aufgewachsen.

Auch die Protagonisten ihres aktuellen Romans sind nach England gekommen, weil sie sich dort ein besseres Leben erhoffen. Irina möchte eigentlich Schriftstellerin werden, verdient ihren Unterhalt aber mehr schlecht als recht zusammen mit anderen Leidensgenossen auf den Erdbeerfeldern des skrupellosen Bauern Leapish. Für einen ausbeuterischen Lohn, für die Unterbringung in einem heruntergekommenen Wohnwagen am Rand des Erdbeerfeldes und die ziemlich magere Versorgung mit Lebensmitteln schuftet sie mit anderen Ukrainern, Polen, Chinesen und einem Afrikaner von früh bis spät auf den Feldern.

Dabei hatte sich Irina ihr Leben in England doch ganz anders erträumt: Sie wollte ihr Englisch verbessern und sich verlieben – in einen romantischen Engländer. Auch Andrij hatte sich das Leben in England irgendwie besser vorgestellt. Er hat die Ukraine verlassen, um auf keinen Fall als Bergmann in den Stollen des Donbass zu enden, wie sein Vater, und natürlich auch, um die große Liebe zu finden: seine „Angliska rosa“. Dann wären da noch der alternde polnische Hippietyp Tomasz, die erfahrene polnische Erdbeerpflückerin Jola mit ihrer frommen Nichte Marta, die der Truppe mit ihren Kochkünsten aus wenigen Zutaten so manches Festmahl bereitet, zwei asiatische Mädchen, von denen eines aus Malaysia kommt, und der gottesfürchtige Teenager Emanuel aus Malawi.

Als ihr ausbeuterischer Arbeitgeber Bauer Leapish eines Tages überfahren wird, ergreifen sie zusammen die Flucht – in einem klapprigen Wohnwagen. Doch das Leben in England ist nicht einfach und die Verwirklichung ihrer Träume scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Überall lauern ausbeuterische Arbeitgeber, maßregelnde Behörden und zwielichtige, bewaffnete Gangster, und so wird die Flucht der Erdbeerpflücker durch England zu einem aufregenden Abenteuer …

Was Marina Lewyckas Debütroman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ so liebenswürdig macht, ist Lewyckas gelungene Verquickung aus einer ironischen Betrachtungsweise ihrer Protagonisten und der Ernsthaftigkeit des Alltags. Auch in ihrem aktuellen Roman sind genau das wieder die Zutaten, die die Lektüre so interessant machen.

Etwas naiv betrachten die Erdbeerpflücker ihr Leben in England und die Möglichkeit, dort ihre Träume zu verwirklichen, ohne zu sehen, dass sie nie eine Chance darauf haben, wirklich Teil der Gesellschaft zu werden. Sie fallen auf dubiose Jobangebote herein, glauben „Jobvermittlern“, die ihnen das Blaue vom Himmel herunterlügen, und wundern sich dann, dass die versprochene Luxusunterkunft eine billige, überfüllte Absteige ist.

Eine traurige Ironie zieht sich durch das ganze Buch, wenn man sieht, wie blind die Erdbeerpflücker sich auf solche Offerten einlassen und es dabei schaffen, sich ihre Träume von einem besseren Leben zu bewahren, während sie in Wahrheit von Gangstern ausgenommen werden. Dennoch schafft Lewycka den Balanceakt, dass nicht der Eindruck entsteht, sie würde sich über die Naivität der Einwanderer lustig machen.

Diese Perspektive der außenstehenden, ausländischen Arbeitskräfte, die sämtliche Arbeiten verrichten, für die sich kein Engländer mehr opfern würde, ermöglicht Lewycka auch einen kritischen Blick auf die westliche Konsumgesellschaft, der sich vor allem in der Familie der MacKenzies manifestiert. Die MacKenzies sind reiche Leute, mit deren Sohn Emanuel während dessen freiwilligem Sozialdienst in Malawi Freundschaft geschlossen hat. Eine reiche Familie, im Luxus lebend, aber unglücklich, erzeugt bei Andrij nur ein müdes Kopfschütteln. Dennoch sind auch die Erdbeerpflücker voller naiver Bewunderung für die westlichen Konsumgüter.

Die Art der Jobs, die die Erdbeerpflücker im Laufe ihrer Reise durch England verrichten, ist ein nächster Ansatzpunkt für unterschwellige Gesellschaftskritik. Tomasz‘ Erlebnisse auf der Hühnerfarm und später auch im Schlachthof können einem schon gehörig den Appetit verderben. Lewycka gelingt es mit spielerischer Leichtigkeit, in einem unterhaltsamen und teilweise humorvollen Roman immer wieder ernsthafte Untertöne anklingen zu lassen. All das meistert Lewycka mit einem so lockeren Plauderton, dass man an manchen Stellen über den unverhofften Tiefgang der Geschichte staunt.

„Caravan“ ist ein Roman, der sich in viele einzelne Handlungsstränge gliedert. Mal beobachtet man die eine Figur, mal steht eine andere im Mittelpunkt. Jeder geht mit der Zeit seine eigenen Wege, jeder versucht auf eigene Art in England glücklich zu werden. Nett ist dabei auch immer wieder, wie die gleiche Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und jeweils anders beurteilt wird. Die Erlebnisse der Erdbeerpflücker muten teilweise schon recht skurril an und sie begegnen allerhand interessanten Figuren. Ein Leckerbissen für alle, die schon den Vorgängerroman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ mochten, ist das unverhoffte Wiedersehen mit Nicolai Majevski – mittlerweile ein paar Jahre älter, aber noch genauso herrlich schräg.

Trotz aller positiven Aspekte bleiben an „Caravan“ aber auch ein paar vereinzelte Schwachpunkte festzuhalten. Da wäre zum einen der plötzliche Wandel von Vittali. An einem Tag noch Erdbeerpflücker, am nächsten Tag geschniegelter „Mobilfon-Mann“. Der Wandel geht derart schnell, dass man geneigt ist, prompt noch mal zurückzublättern, weil man glaubt, man hätte einen größeren zeitlichen Sprung übersehen, aber den gibt es nicht.

Dann wäre da der Hund, der der Truppe zuläuft und fortan mitreist. Auch dessen Gedanken werden dem Leser offenbart, aber das ist oft wenig relevant und in abgehacktem Stil in Großbuchstaben geschrieben und stört somit irgendwie den Lesefluss. Und zu guter Letzt wären da die vielen Zufälle. Immer wieder laufen die Protagonisten den gleichen Figuren über den Weg, was bei einer Reise quer durch England irgendwie eigenartig anmutet. Diese Schwachpunkte tragen dazu bei, dass „Caravan“ nicht ganz so ein hochkarätiger Lesegenuss ist wie die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“.

Bleibt unterm Strich ein positiver, wenn auch schwächerer Eindruck zurück, als es noch beim Debütroman von Marina Lewycka der Fall war. Sie erzählt zwar eine unterhaltsame Geschichte, die gleichermaßen mit ernsten und traurigen wie mit humorvollen und ironischen Momenten gespickt ist, dennoch ist die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ insgesamt noch etwas besser.

http://www.dtv.de

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