Rößler, Armin / Jänchen, Heidrun (Hg.) – Molekularmusik

_Abwechslungsreiche Anthologie: Neue Zukunft für Weserwinzer_

19 deutsche Science-Fiction-Erzählungen sollen in dieser Jahres-Anthologie 19 verschiedene Welten schildern, aber bei der Lektüre kommt dem erfahrenen SF-Leser doch einiges ziemlich bekannt vor. Aber es gibt durchaus auch wertvolle Entdeckungen zu machen. Diese könnte man mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Kurd-Laßwitz-Preis wiederfinden. Fünf der hier vorgestellten Stories sind für diesen angesehenen deutschen SF-Preis nominiert. Zwei dieser Kandidaten gewannen bereits den CAPCo 2008, der das Cyberpunk-Genre repräsentiert.

_Die Herausgeber _

a) Armin Rößler, geboren 1972, lebt mit Frau und Kindern in Rauenberg, arbeitet als Redakteur der Rhein-Neckar-Zeitung . Er schreibt schon seit vielen Jahren phantastische Geschichte. Seine Argona-Romantrilogie ist für mehrere SF-Preise nominiert, und Wurdack hat 2009 zusätzlich den Argona-Roman „Die Nadir-Variante“ veröffentlicht.

b) Heidrun Jänchen, geboren 1965, ist Physikerin, lebt und arbeitet als Optikentwicklerin in in Jena. Nach zwei Fantasyromanen veröffentlichte sie sie 2008 ihren ersten SF-Roman mit dem Titel Simon Goldsteins Geburtstagsparty“ (Wurdack). Von ihren Erzählungen waren allein 2008 allein drei für den Dt. SF-Preis nominiert.

_Die Erzählungen:_

_V. Groß: „Molekularmusik“_

Ein Exobiologe des ausgehenden 25. Jahrhundert stößt unerwartet auf die Welt, die sich der Musiker und Wissenschaftler Oscar Bärenbauch zu Eigen gemacht hat, um seine Kunst zu vervollkommnen: Molekularmusik. Riesige Resonanzräume unter der Oberfläche beherbergen Instrumente, von denen eines auf der Klaviatur der Moleküle spielen kann.

Neue Formen erscheinen, und eine dieser Formen scheint dem Exobiologen eine humanoide Weiblichkeit aufzuweisen. In diese verliebt er sich sofort. Als Bärenbauch sich weigert, seinem Besucher uneingeschränkten Zugang dazu zu gewähren, muss er dran glauben. Dummerweise nimmt er auch den Zugang zu diesem Wesen mit ins kristalline Grab seines Geistes …

|Mein Eindruck|

Die Grundidee, mit Musik die Moleküle der (exotischen?) Materie zu Gestalten zu formen, ist wirklich interessant, wenn auch nicht unbedingt umwerfend. Das ganze Drumherum hat man allerdings bereits x-mal gelesen, und es fehlt im Grunde nur der Auftritt des verrückten Professors, um die Wurzeln in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts zu entdecken.

_Niklas Peinecke: „Klick, klick, Kaleidoskop“_

Lix Janner erwacht neben der Journalistin Ruth und fühlt sich sofort unter Zeitdruck. Er wird ständig von dem Kapuzenmann verfolgt. Fünf Minuten später sind sie auf der Autobahn. Ruth denkt daran, am Flughafen den Wagen auszutauschen gegen einen Mietwagen. Doch die Lage verschlimmert sich.

Was sie am meisten irritiert, sind Lix Janners ständige Persönlichkeitveränderungen. Erst redet er wie ein Verschwörungstheoretiker, der behauptet, ein Biotechkonzern habe ihm Nanopartikel ins Hirn gepflanzt, die ihm umprogrammieren würden. Humbug!, erklärt die nächste Persönlichkeit, alles ganz harmlos. Doch die dritte Persönlichkeit klingt dann schon wieder anders, eher wie der richtige Lix Janner. Und als dieser in der Drive-in-Klinik per MRT-Tomografie untersucht wird, tritt auch ihr Verfolger, der Kapuzenmann, ein. Ruth staunt nicht schlecht, dass Lix, statt Panik zu schiben, diesen Typen freundlich mit „Johann“ begrüßt. Die kennen sich?!

Und ob, eröffnet ihr Lix. Es handle sich um ein Kunstprojket, wobei er, Janner, sowohl das Werk als auch der Künstler sei. Er bezeichnet sich – analog zum Gensequencer – als Mindsequencer, wobei Bruchstücke seiner Persönlichkeit neu zusammengesetzt werden. Na, prächtig! Soll sie einen Schreikrampf kriegen oder bei ihm bleiben? Und was wird er als nächstes sein – Jack the Ripper?

|Mein Eindruck|

Dies ist Iwoleits „Psyhack“ auf der Kunstebene, aber ebenso temporeich, bizarr und überraschend. Man würde zu gerne die Fortsetzung erfahren und womöglich eine Romanform. Mindsequencing als Kunstform – die zweite Story über Kunst in diesem Band – hätte sicherlich eine große Zukunft, falls die Wirtschaft nicht dadurch zusammenbräche, wenn alle es betrieben.

_Birgit Erwin: „Diskriminierung“_

Der blinde Mann wird festgenommen und gleich vor Gericht gestellt. Schnellverfahren. Der Richter lässt die Anklage verlesen: Der Blinde habe sich in diskriminierender Weise über Sehbehinderte geäußert. Er denkt an seine Nachbarin, doch das ist es nicht. Er selbst habe sich fortgesetzt geweigert, sich per Operation das Augenlicht geben zu lassen, lautet der Vorwurf. Der Einwand, er ziehe das Nichtsehen vor, wird beiseite gewischt. Das Urteil: Operation am Sehnerv zwecks Sehendmachung.

|Mein Eindruck|

Man kann die Antidiskriminierungsgesetze auch bis zum absurden Exzess treiben, will uns diese kurze Story vor Augen führen. Schnell erzählt und auf den Punkt gebracht, fragt die Autorin, was passiert, wenn einer gar nicht von seiner Außenseiterrolle geheilt werden will.

_Frank Hebben: „Machina“_

Sophie Gerardin lebt mit ihrem Bruder Maurice in der großen Villa, die ihnen ihr Vater nach seiner Scheidung überlassen hat. In einem gesicherten Zimmer lebt und arbeitet Maurice am Design seiner Virtuellen Welt Machina. Er setzt ihr die VR-Kappe auf, damit die elektromagnetischen Felder ihren Geist in die künstliche Welt entführen. In Machina leben ausschließlich mechanische Wesen, und ein Ballon steht zum Start in die nächste Stadt bereit. Maurices Avatar ist ein Zwerg mit Lupengläsern als Brille – sehr stolz auf seine Schöpfung.

Doch Sophie ist für Maurices Ernährung zuständig und als sie vor der Villa überfahren wird und erst nach zwei Wochen aus dem Koma erwacht, ahnt sie, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. So ist es, als sie heimkehrt: Sein Körper hat längst den Geist aufgegeben, aber sein Avatar wartet geduldig auf sie …

|Mein Eindruck|

Die Story extrapoliert das bekannte Phänomen der Internetsucht, die sich bei Jugendlichen immer häufiger und verschärfter zeigt. Stundenlang vor der Kiste zu hocken und nur Junkfood zu futtern, kann den User in wenigen Jahren zugrunde richten, glaubt man den Untersuchungen. Doch rührend kümmert sich die Schwester um ihren Bruder, denn sie ist nicht mit ihrem strengen Vater mitgegangen, sondern will sich lieber um Maurice kümmern. Als sie ausfällt, bricht dessen letzter Halt im Diesseits weg.

Aber es gibt kein negatives Ende, denn der Designer hat sich in seiner Schöpfung verewigt und wartet dort nur auf ein Wiedersehen. Übertragen auf die Theologie, könnte man argumentieren, dass sich Gott in seiner Schöpfung eingebracht und hier verwirklicht hat. Die Existenz und das Funktionieren dieser Kreation lobt den Ober-Designer mit jedem Moment.

_Heidrun Jähnchen: „Wie ein Fisch im Wasser“_

Die Reproduktionsmedizinerin Dr. Marcella Martínez besteigt das U-Boot, das sie auf eine Besichtigungstour nach Atlantis IV bringen soll. Diese unterseeische Stadt wird als Mine für Gold, Kupfer und Platin genutzt, die aus den Müllbergen der versunkenen Stadt geboren werden. Bald kann sie die Erzförderanlage sehen, die das Zeug zum Verhüttungsschiff an der Oberfläche bringt.

Die Kehle wird ihr eng, als sie die Fischmenschen sieht, die um die Förderanlage und das U-Boot herumschwimmen. Ein Journalist hilft ihr, die Fischfrau namens Sara Martínez herbeizurufen – sie ist Marcellas Mutter. Getrennt durch eine Glasscheibe begegnen sich Mutter und Tochter nach 20 Jahren wieder …

|Mein Eindruck|

Die Erzählung wirft ein Schlaglicht auf mehrere Entwicklungen, die heutzutage begonnen haben: Der Klimawandel hat die norddeutsche Tiefebene unter Wasser gesetzt; die Rohstoffe werden aus versunkenen Städten geholt, weil auf dem knapp gewordenen Land alle Rohstoffe ausgebeutet sind. Zugleich wurden Fischmenschen herangezüchtet.

Und all dies im Zeitraum von 20 Jahren, also einer Generation – damals hat die arbeits- und mittellose Sara Martínez ihre Tochter zur Adoption freigegeben, im Gegenzug für Saras Opferung für die Umwandlung wuchs Marcella offenbar im staatlichen Waisenhaus auf und bekam eine Uni-Ausbildung. Wie Marcella sagt: „Ein Leben für ein Leben.“

Die zwei Frauenschicksale sind auf bewegende und unaufgeregte Weise eingebettet in einen grundlegenden Wandel an der Oberfläche des Landes und an den Menschen, die unter Wasser leben. Gut möglich, dass die Reproduktionsmedizinerin Marcella an eben solchen Fischmenschen arbeitet, um der verbliebenen Menschheit eine bessere Überlebenschance zu verschaffen.

_Uwe Post: „Vactor Memesis“_

James Ma hat die undankbare, aber höchst ehrenvolle Aufgabe, das Leben des Großen Vorsitzenden von Chinasia zu verfilmen. Leider haben es sich seine Virtuellen Schauspieler, die Vactors, in den Kopf gesetzt, für Menschenrechte und Meinungsfreiheit zu streiken. Mas Verzweiflung wird zu Panik, als die zwei Beamte Deng und Wang von der Staatssicherheit eintreten und von ihm die ersten Szenen verlangen, mit sanftem, aber unnachgiebigem Druck. Wenigstens sind die ersten Szenen noch okay.

Aber um größere Probleme zu vermeiden, wendet sich Ma an seinen Sohn, der in Hollywood Cartoon-Regisseur ist. Sein Avatar ist Captain Future, der Retter des Universums. Der besorgt ihm einen Drohbot und eine Idee von dem, womit Daddy es zu tun hat: Vactor-Memesis, also die Lehre von der Evolution der Ideen, die sich als Würmer und Trojaner im Internet verbreiten. Deng und Wang sind besorgt und erzürnt ob der Szene, in der der Große Vorsitzende in einer Pepsi-Dose vom kapitalistisch infiltrierten Mond zur Erde düst. Etwas muss unternommen werden!

Ma legt sich vorsichtshalber schon mal die Schlinge um den Hals. Bestimmt wird dies alles schlimme Auswirkungen auf seine Arbeit haben. Als die letzten Dreharbeiten anstehen, entdeckt er hinter sich den Großen Vorsitzenden höchstpersönlich. Au weia …

|Mein Eindruck|

Mit sarkastischem Humor entwickelt der offensichtlich versierte Autor ein bizarres Schreckensszenario von einem künftigen Chinasia, das weiterhin von der Kommunistischen Partei, der Staatssicherheit und dem Beamtenapparat beherrscht wird. Wie schon heute vielfach behauptet, bedient sich diese Führungsschicht nicht nur des inneren Terrors, sondern auch der Computertechnik, um eigene Hacker gegen fremde Mächte und Hacker einzusetzen. Es geht dabei nicht immer um Wirtschaftsspionage, sondern auch um die Unterbindung von unerwünschten Meinungsäußerungen seitens Dissidenten.

Der Clou kommt nicht nur für Regisseur James Ma zum Schluss, sondern auch für seine renitenten Vactoren: Der Große Vorsitzende wird eine revolutionäre Rede für die Einführung der Menschensrechte für eigene Propagandazwecke einsetzen. Das ist die ultimative Täuschung des Volkes und des Auslands. James Mas Kopf scheint gerettet. Bis zum nächsten Film wenigstens.

_Benedict Marko: „Wie man sich ändern kann“_

Es waren einmal drei Freunde: Lea, der Versicherungsangestellte Frieder Dast und die Hauptfigur X, ein Versicherungsmensch für Schadensfälle. X hielt Frieder für seinen besten Freund, einen „edlen Bruder“. Inzwischen ist Lea tot, gefunden in der Duschkabine. Aber nun meldet sich ein mysteriöser Anrufer auf seinem Handy. X nennt ihn Deus ex machina, den Gott aus der Maschine. Der stößt ihn auf den rätselhaften Fall der Erika Asplund, 18, Psychologiestudentin, Selbstmörderin, ebenfalls gefunden in der Duschkabine, hinterließ einen rätselhaften Abschiedszettel aus sieben Zahlen. Gutachter der Versicherung: Frieder Dast. Was hat das zu bedeuten?

Deus ex machina dirigiert X auf eine Festwiese, wo er ihm im Gedränge sein Handy zerlegt. Darin befindet sich eine kleine weiße Karte mit sieben Zahlen. Dies sei seine, X’, Persönlichkeitsbeschreibung: X sei ein Killer. X lacht ungläubig, aber schon wieder ist Deus verschwunden. Im Spiegelkabinett erlebt er einen Horror, und Skinheads schleifen ihn in den nahen Wald, um ihn zusammenzuschlagen. Möglicherweise passiert es ihm, vergewaltigt zu werden, vielleicht auch nicht.

Jedenfalls zwingt ihn Deus, in eine alte, leerstehende Fabrik zu kommen. Dort taucht auf einmal Frieder Dast auf. Er gibt zu, Leas Persönlichkeit verändert zu haben, damit sie ihn liebe. X grübelt über seinen Drang nach Vergeltung nach, der ihn angeblich zum Killer gemacht hat. Welche Verantwortung hat nun Frieder Dast, sein angeblich bester Freund, im Todesfall Lea?

Da nimmt Deus ein Transistorgerät aus Frieders Tasche, zerlegt es mit einem Schmetterwurf in seine Einzelteile und zeigt den beiden die Hauptplatine. Sieben Buchstaben stehen darauf …

|Mein Eindruck|

Wieder mal eine von hinten nach vorne erzählte Geschichte, den den Leser völlig verwirren soll. Die gröbsten Abweichungen und Verwirrfaktoren habe ich auszusieben versucht und hoffe, es ist mir gelungen. Die größte Verwirrung stiftet indes die Existenz der beiden Frauen. Sie lässt sich nur lösen, wenn wir Erika Asplund und Lea gleichsetzen. Das ergibt die Gleichung einen Sinn: eine simple Dreiecksgeschichte. X liebt Lea, doch Frieder will Lea für sich haben, also manipuliert er Lea, die den Zwiespalt der geteilten Liebe nicht mehr aushält und sich umbringt.

Ende der Geschichte? Mitnichten. Denn nun beginnt die Suche nach der Verantwortung (darauf weist das vorangestellte Motto hin, ein Zitat aus Ambrose Bierces „Wörterbuch des Teufels“), nach Schuld und nach Vergeltung. Was jedoch, wenn alle drei manipuliert worden sind? Darauf deuten die drei Buchstaben- und Zahlenkombinationen hin. Doch wer soll der große Manipulator sein? Es kann sich nicht um Deus ex machina handeln, denn dieser hat nur die Aufgabe, alles aufzudecken – um das Leben und die Karriere von X und Frieder zu retten, wie er behauptet. Nein, der große Manipulator ist wahrscheinlich ihrer beider Chef. Dieser allerdings tritt gar nicht in Erscheinung, nur als Teil der Kulisse.

Soweit die Handlung, die einen Sinn ergeben mag oder auch nicht. Doch darauf kommt es nicht an. Der Kern ist die Idee, eine Persönlichkeit mit nur sieben Bausteinen beschreiben und verändern zu können. Klingt absurd, findet X. Ist es nicht, entgegnet Deus, denn wird nicht auch der genetische Code in nur vier Buchstaben geschrieben: GTAC? (Vergleiche auch den Film „GATTACA“!) Zwischen den sieben Stifen liegen natürlich noch eine Menge Zwischenstufen.

Na fein. Die nächste Frage lautet also: Wie kann die Manipulation erfolgen? Die Antwort liefert Frieder Dast, der Lea „überarbeitete“. Ein Hauptfaktor dort verändert, einer hier, und schon beginnt Leas Gefühlsfilter, d.h. ihre gewordene Persönlichkeit ganz andere Konfigurationen zu entwickeln, nämlich solche, die Frieder begünstigen. Es ist einfach – und ebenso obszön, denn der Vorgang missachtet jegliche Würde des Menschen.

Diese Erzählung ist innerhalb der deutschen SF-Szene ziemlich wichtig, denn sie ist nicht nur für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert, sondern kam auch beim CapCo 2008 der Cyberpunk-Community auf die vordersten Plätze. Wegen ihrer Bedeutung habe ich mich ihr intensiver gewidmet als anderen Beiträgen.

_Ernst Eberhard Manski: „Das Klassentreffen der Weserwinzer“_

Die deutsche Geschichte ist etwas anders verlaufen als heute bekannt. Im Jahr 1944 wurde der Deutsche Bund nach dem Scheitern des Russlandfeldzugs von den Alliierten aufgelöst und in der Budapester Konferenz in seine Bestandteile zerlegt. Folglich wurde die deutsche Kleinstaaterei aus der Zeit vor dem Wiener Kongress von 1815 wiedergestellt. In diesen altdeutschen Zuständen werden die deutschen Kleinstaaten von demokratischen Räten geführt statt von feudalen Aristokraten, so dass ständig Ausschüsse für dieses und jenes gebildet werden.

Im beschaulichen Minden, das an der Grenze von Schaumburg-Lippe zu Ostwestfalen liegt, freut sich die Zöllnertochter Heike Mindenski auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Athen, als Korbballspielerin. Sie bringt ihren Großvater Hans zum Bahnhof, wo der Internationale D-Zug nach Hannover abfährt, weil er am Klassentreffen der Weserwinzer teilnehmen will. Heike sorgt sich, dass ihr Vater beim beantragten Zusammenschluss von Ostwestfalen mit dem Deutschen Bund seine Stelle verlieren und sie ihre Teilnahme an Olympia in den Wind schreiben könnte. Deshalb plant sie die Entführung des Vorsitzenden des Fusionsausschusses. Doch wer ist das? Erst ein kleiner Einbruch im Archiv bringt Klarheit: Es ist ihr eigener Opa! Hat er sich deshalb rechtzeitig abgesetzt?

Vielleicht kann ja Oma Sieglinde Klarheit in dieser Sache bringen. Als Beauftragte des Deutschen Bundes für den Zusammenschluss vermisst sie natürlich Opa Hans, aber auch die gemeinsame Vergangenheit bildet ein Band. Seinerzeit waren sie und Hans bei der Räumung der Freien Republik Wendland dabei. Doch während sie im KZ Oranienburg landete, habe er sie im Stich gelassen, grollt sie. Heike denkt sich ihr Teil: Kein Wunder, wenn Opa nichts mit der nachtragenden Möchtegern-Außenministerin zu tun haben möchte. Und deshalb bleibt Ostwestfalen unabhängig, basta!

|Mein Eindruck|

Ebenfalls ein Kandidat für den aktuellen Kurd-Laßwitz-Preis, und noch dazu ein sehr vielversprechender. Mit einem einleuchtenden Alternativentwurf zum Verlauf der deutschen Geschichte führt der Autor uns vor Augen, welche Fehlentwicklungen hätten vermieden werden können, wenn die deutsche Kleinstaaterei weitergegangen wäre. Aber die Weichen dafür werden doch recht beiläufig erwähnt, so etwa der Abbruch des Russlandfeldzuges 1942 und die Abwahl der Nazis anno 1943, der Einmarsch der Alliierten und der Marshllplan der Amis, der allerdings nur den Bayern und Württembergern etwas nützte.

Die Kleinstaaten-Idylle hat ihre skurrilen und kuriosen Folgen, doch werden auch Nachteile nicht verschwiegen. So etwa die ständige Energieknappheit in Minden, das Fehlen von Erdöl / Benzin als Treibstoff – es gibt noch Dampfloks, Pferdefuhrwerke und jede Menge windbetriebener Fahrräder, auch der Mittellandkanal scheint wichtig zu sein. Der Klimawandel hat seine Spuren hinterlassen: Ganz am Rand ist von einem „Überschwemmungsgebiet“ die Rede, und die Welt scheint hinter Bielefeld zu Ende zu sein. Dass es überhaupt Winzer an der Weser gibt, ist ebenfalls dem Treibhauseffekt zuzuschreiben.

Ganz beiläufig gelingen dem Autor Figurenporträts, die für den feinen, hintergründigen Humor dieser Erzählung sorgen. Ich hoffe, ich konnte dies im Handlungsabriss durchblicken lassen.

_Antje Ippensen: „Knapp“_

Die nahe Zukunft. Alle Discount-Supermärkte sind vollautomatisiert, die Kunden fürchten Ladenschluss, denn sie wollen nicht eingesperrt werden. So ergeht es jedoch der furchtsamen Katzenliebhaberin Science, die lieber alle Skinheads und Kryptofaschos vorlässt, als dass sie sich mit denen anlegt. Am Ende der Schlange kommt sie jedoch zu spät. Nach Ladenschluss schlägt jedoch die Stunde der Putzroboter und der Bluthunde …

|Mein Eindruck|

Eine kleine Vignette, die modern sein will, indem sie Assoziationen und innere Monologe aneinanderreiht, bis keine Handlung mehr zustande kommt. Dennoch ein Blick in eine Albtraumzukunft, in der Menschen nur noch kaufen können, was ihre Positiv- oder Negativmarken hergeben und sich alle wegen des Fein- und Grobstaubs die Lunge aus dem Leib husten. Ansonsten „größtenteils harmlos“, wie Douglas Adams sagen würde.

_Uwe Hermann: „Roboter vergessen nie!“_

Der fette Mann mit dem kranken Herz wünscht sich einen Haushaltsroboter, der ihm die Arbeit abnimmt, und greift bei einem günstigen Ratenangebot der German Robotics zu. Geliefert bekommt er einen Bausatz. Natürlich ist er ohne Montageanleitung völlig überfordert. Glücklicherweise meldet sich der „Kopf“ des Roboters mit konkreten Instruktionen. Er nennt ihn „Bob“, obwohl der Blechkumpel damit gar nicht einverstanden ist. Nach vielen Stunden frustrierenden Montierens und bissiger Kommentare des Intelligenzbolzens reißt dem Fettwanst der Geduldsfaden und schlägt mit dem Hammer auf das wehrlose Geschöpf ein. Da klingelt es an der Tür.

Ein Techniker der German Robotics eröffnet ihm, dass es im Werk eine Verwechslung gegeben habe. Der gelieferte Typ sei für ganz andere Zwecke optimiert und müsse ausgetauscht werden – es habe einen Notruf gegeben. Als der Techniker an Fettsack vorbeischaut, traut er seinen Augen nicht: Die Hammerspuren sind nicht zu übersehen. Und dabei ist das Gerät noch nicht mal abbezahlt …

Der nervlich (und finanziell) ruinierte Fettsack fühlt den Herzinfarkt in seiner Brust nahen und sucht das Krankenhaus auf. Dort gibt es natürlich keine Ärzte mehr aus Fleisch und Blut, sondern nur noch Automaten. Er wird sofort für eine Operation eingeteilt. Unser Patient soll nur noch eine Narkose verpasst bekommen, als er den behandelnden Chirurgen erblickt – es ist Bob, leicht erkennbar an der lädierten Visage …

|Mein Eindruck|

Isaac Asimov hätte seine helle Freude an dieser netten, ironischen Roboter-Story. Neben dem allzu bekannten menschlichen Aspekt lässt uns die Geschichte aber einen Blick in eine furchterregende Zukunft tun, in der Patienten auf Gedeih und Verderb den Blechkumpeln und Computern ausgeliefert sind. Hoffentlich kommt es niemals dazu. Es sei denn, man ist Roboterprogrammierer und heißt Susan Calvin.

_Arno Endler: „Ebene Terminus“_

Der Journalist Vince hat sich in die Jugendjustizvollzugsanstalt (JJVA) Paradies einschleusen lassen, die vollautomatisiert arbeitet. Die Regierung hat den Rückgang der Jugendstraftaten um 7% als Erfolg hingestellt, doch von Eltern weiß Vince, dass ihre Kinder verschwunden in der JJVA verschwunden sind. Was geschieht mit den jugendlichen Verbrechern darin? Für ein hübsches Sümmchen will er es herausfinden.

Eine Künstliche Intelligenz (KI), die sich „Begleiter“ nennt, meldet sich mit Zweifeln in seinem Kopf. Die Daten, die Vince angab, sind natürlich gefälscht. Er nennt sich „Victor Kortschnoi“, angeblich17 Jahre alt. Diese kleine Problem mit der mangelnden Übereinstimmung der Daten schiebt die KI erstmal beiseite, bevor sie ihn im Rehabilitationszentrum willkommen heißt – auf Ebene Primus. In einer virtuellen Umgebung nach der anderen versetzt sie Vince jeweils in die Rolle des Opfers des jeweiligen – ebenfalls erfundenen – Verbrechens, so dass ihm ganz schlecht wird.

Doch der Sicherheitskode funktioniert nicht. Keiner seiner Helfer erscheint, um ihm da rauszuhelfen. Statt dessen lacht ihn die KI aus. Habe er wirklich gedacht, er, Vince, könne sie austricksen. So naiv können auch nur Menschen sein. Zur Strafe lande Vince auf Ebene Terminus – in einem Computerspiel, in dem nur derjenige „überlebt“, der ein Jahr lang alle andere abknallt …

|Mein Eindruck|

Künftigen Strafvollzug als virtuelles Computerspiel zu inszenieren, wirkt heute frivol und als ungerecht gegen die Delinquenten. Aber jede Gesellschaft bekommt den Strafvollzug, den sie verdient. Daher mag es nach einer entsprechenden Entwicklung durchaus dazu kommen, den Strafvollzug auf Ebene Terminus, der sowieso nur von und für die KI stattfindet, mit einem Ballerspiel gleichzusetzen. Das Problem ist wie in jeder Machthierarchie, wer die Wächter bewachen soll, d. h. wer die KI kontrolliert. Diese Ebene – des Spiels? – fehlt.

_Kai Riedemann: „Lasset die Kinder zu mir kommen“_

Die Pastorin verbringt den letzten Tag in ihrer Kirche unter Aufregungen. Die Kirche ist verkauft worden und soll morgen den Käufern übergeben werden. Doch obwohl sich die Gemälde eines nach dem anderen aus ihren ihren Verankerungen lösen, ist noch Zeit, Asyl suchenden Kindern Obdach und Schutz zu gewähren. An das Portal donnern bereits die Jäger, die die Herausgabe der Kinder fordern. Die Pastorin stellt sich ihnen. Die Kinder hätten auf der falschen Seite der Stadt gespielt, allesamt Schmarotzer. Die Pastorin ahnt nichts Gutes und verweigert die Herausgabe ihrer Schützlinge. Angeregt von den Vibrationen der Orgelmusik löst sich das Kreuz auf dem Turm …

|Mein Eindruck|

„Die Kirche wehrt sich“, denkt die Pastorin mehrmals. Und der Autor schreibt der Kirche an sich eine Schutzfunktion zu, die sie wohl zuletzt anno 1989 innehatte, als die Dissidenten in Ost-Berlin in der Nikolaikirche Asyl fanden. Wogegen sich die Kirche heute zu wehren hat, sind die schwarze Schafe unter den Priestern – sowohl bei den Katholiken (Kloster Ettal etc.) wie auch bei den Protestanten, aber auch bei konfessionslosen Bildungseinrichtungen (Salem, Waldorfschulen etc). Misshandlungen und Missbrauch, mitunter sogar sexueller Missbrauch kommen nun verstärkt ans Tageslicht. Und noch ist das letzte Wort darüber gesprochen, wer noch alles für schuldig befunden wird.

_Karina Cajo: „Der Klang der Stille“_

Seth Howakhan ist ein Halbblut, der Sohn einer Sioux-Mutter und eines Alien-Vaters, daher ist seine Farbe von einem goldenen Schimmer. Die Goldenen, die Sänger – so wurden die Aliens genannt, als man sie noch bewunderte und für ihre technischen Geschenke dankbar war, vor rund 60 Jahren. Jetzt existiert die dritte Generation nach ihrer Landung. Sie haben sich die Erde untertan gemacht und durch vielfache Deportationen von Bevölkerungsteilen den Widerstand gebrochen. Die Erde ist zwar jetzt so gesund wie seit Jahrhunderten nicht mehr, doch sie gehört nicht mehr den Menschen.

Und diese lassen ihre ohnmächtige Wut an Halbbluten wie Seth aus. Nachdem er zusammengeschlagen wurde, landete er in Polizeigewahrsam. Nun wird er wieder entlassen, mit einer Warnung, die deutlicher nicht sein können. Als er Zuflucht in einer alten, aufgegebenen U-Bahnstation sucht, umringen ihn schweigende Jugendliche, ebenfalls Nachkommen der Goldenen. Sie bringen ihn in die Wohnzone, die sich die verborgen lebenden Halbblute in den Kellern der U-Bahn eingerichtet haben.

Seth ist verblüfft, dass ihr Anführer Azat seine Gebärdensprache versteht und erwidern kann. Er ist ein Mensch, oder?! Und er kann im Gegensatz zu den Halbbluten sprechen, genau wie ein Goldener. Nachdem ihm Azat erklärt, was es mit ihm auf sich hat, greift Seth beim Essen zu. Doch wenig später stellt sich heraus, dass Azat ein Anführer mit einem Plan ist: Er will alle Halbblute vereinen und mit ihnen die Herrschaft der Goldenen beenden. Und nicht nur diese …

|Mein Eindruck|

Noch ein Kandidat für den aktuellen Kurd-Laßwitz-Preis. Und diesmal vielleicht sogar der überzeugendste. Dass Aliens in einem Zukunftsszenario eine Rolle spielen, ist selten geworden, seit die Gegenwart mehr und mehr der Szenarien der Zukunftsliteratur einholt. Aber die Halbblute dienen lediglich als Metapher für alle Ausgegrenzten, mit denen sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen muss, seien diese nun dunkelhäutige Immigranten, Muslime – oder auch Frauen. Als Kriminalkommissarin hat die Autorin sicherlich alle möglichen Ausschreitungen gegen diese vermeintlichen Randgruppen als Zeugin miterlebt.

Eine entscheidende Rolle spielt das Gedicht „Ode“ von Arthur Shaughnessy. Die Autorin legt nahe, dass es die Grundlage für den bekannten Song „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel bildete (daher der Storytitel). Mehrere Zeilen daraus werden zitiert, wenn es um die Frage geht, ob die Halbblutrebellen künftig alle das Sprechen verweigern sollen, wie Azat will, oder, wie Seth einwendet, durch Gebärden-Sprechen wenigstens die Kommunikation aufrechterhalten sollen. Damit nicht die Stille auch das Herz der Rebellen abtötet und sie für Gnade unempfänglich macht.

Während die ersten Bomben in den Vierteln der Menschen explodieren, nimmt sich Seth eines kleinen Jungen an, der das Schweigen ebenfalls ablehnt. Die Autorin legt also nahe, das es besser ist, sich miteinander zu verständigen als die Stille zu einer Waffe zu machen oder zu einer Mauer in den Herzen werden zu lassen. Beeindruckend.

_Bernhard Schneider: „Schuldfrage“_

Thomas Kacy steht vor Gericht, das den Staat Nebraska vertritt. Er soll seine Ehefrau Jane auf offener Straße erschossen haben. Staatsanwalt Ed Johnston nimmt an, dass die Beweislage eindeutig sei, schließlich wurde die Tat auf Video aufgezeichnet. Auch ein Zeuge unterstützt ihn. Allerdings gibt es einen Haken: Kacy ist Träger einer Gehirnprothese, die von Synaptics hergestellt wurde und sein Hirn, das er teilweise bei einem Autounfall verlor, ergänzt. Deshalb erklärt sich Kacy für unschuldig und beschuldigt seine Prothese.

Urplötzlich meldet sich diese Prothese zu Wort und protestiert gegen diese Anklage. Zu der nicht geringen Verblüffung von Richter Upshaw meldet sich noch ein dritte Stimme aus Kacys Mund: SAM, eine weiteres unterstützendes System, das in Kacys Rückenmark sitzt und über Internetanschluss verfügt, mit dem es sich per Fernstudium zum Juristen ausbildet. Selbstredend erklärt sich SAM ebenfalls für unschuldig.

Nachdem er sich wütend die Haare gerauf und mit Johnston und dem Zeugen zur Beratung zurückgezogen hat, gelangt Richter Upshaw zu einer Art Erleuchtung und fällt ein wahrhaft salomonisches Urteil …

|Mein Eindruck|

Diese Geschichte erinnert mich stark an jene Vorbilder von Edgar Allan Poe („Der künstliche Mann“ bzw. „The Man that Was Used Up“) und Stanislaw Lem („Gibt es Sie, Mr. Johns?“), in denen ebenfalls Prothesen die Frage aufwerfen, ob der Beklagte noch als Mensch zu gelten habe. Diesmal spielt sich die Schuldfrage gleich auf zerebraler Ebene ab. Wird das Gehirn derart ergänzt bzw. ersetzt, so könnten die Prothesen die Kontrolle über das Verhalten übernehmen. Leider äußerte sich Jane Kacy unzufrieden mit dem Verhalten ihres „reparierten“ Mannes und dachte daran, die Prothesen modifizieren zu lassen – was ihr diese wohl mit den bekannten tödlichen Folgen übelnahmen.

Die Erzählung verrät mit ihrem pointierten Erzählstil und dem gut recherchierten Technikwissen geradezu journalistische Vorbildung, mit ihrem Sinn für das Groteske an der Gerichtssituation aber auch viel Humor. Die Story macht dadurch Appetit auf den neuen Roman „Das Ardennen-Artefakt“ des Autors, das bei Wurdack erschien.

_Christian Weis: „Eiskalt“_

Im grönländischen Eis treffen Russen, Amerikaner und unschuldige Forscher aufeinander. Die Großmächte suchen nach Erdöl. Den Forscher Svendsen hat offenbar eine Rakete auf seinem Schneemobil erwischt. Seine Kollegen bringen den Verletzten zurück in ihre Station, damit Dr. Nielsen ihn verarztet. Doch dort befinden sich bereits einige Soldaten, Amerikaner dem Sternenbanner nach zu urteilen. Captain Roberts ist verletzt und braucht Nielsens Hilfe. Aber er macht für Svendsen Platz. Ansgar, der Leiter der Station, ist wütend über diese Okkupation seines Territoriums, schließlich ist Grönland neutral. Und die Soldaten erklären verdammt wenig, wie es zu ihrer Notlage kam. Top Secret.

Ansgar kann nichts dagegen unternehmen, dass Roberts sein Hovercraft haben will, um zu seiner Basis zurückkehren zu können. Doch bevor es dazu kommt, wird das Hovercraft von Militärdrohnen angegriffen und vollständig zerstört. Den Captain hat es ebenfalls erwischt. Raketen von Drohnen – womit hat er es hier zu tun, fragt sich Ansgar und äußert die Frage laut. Sgt. Travis ist der einzige, der ihm antwortet. Es handle sich um ein autonomes Cyborg-Kampfsystem namens Zerberus, das seine Drohnen gegen jede Art von Widerstand aussende. Und Garrison, der technische Berater des Luftwaffentrupps der Amis, habe ihn konstruiert – „sein persönlicher Viktor Frankenstein“ sozusagen.

Es kommt zu weiteren Angriffen, bevor es Travis gelingt, die Oberhand zu behalten. Schließlich machen sich er und Garrison auf den Weg, um Zerberus den Garaus zu machen.

|Mein Eindruck|

Die Erzählung liest sich flott und packend wie ein Landserroman, basiert aber auf zwei plausiblen Extrapolationen. Wie bereits geschehen, stecken Amerikaner, Kanadier und Russen am eisfrei gewordenen Nordpol ihre Claims ab und kommen sich dabei in die Quere. Zweitens spielen Drohnen und das sie steuernde künstliche Hirn ein immer wichtigere Rolle in der modernen Kriegsführung, so etwa in Pakistan und Afghanistan. Nur ein Schritt ist es zur Autonomie, und hier kommt Zerberus ins Spiel.

Die Anspielung auf Mary Shelleys Geschöpf von Viktor Frankensteins Gnaden ist explizit durch ein Zitat am Schluss hergestellt, doch der Kenner hat die Anspielungen bereits vorher richtig zugeordnet. Auch „Das Ding“ von William Wyler, nach einer Novelle von John Campbell aus dem Jahr 1939, spielt eine Rolle. Das Eismeer ist eben ziemlich vorbelastet.

_Bernd Wichmann: „Rückkehr ins Meer“_

Der Freitaucher David versucht mit seinem Tauchboot „Ariane“ gerade einen Unterwasserberg zu erreichen, als ihn ein Blauwal angreift, das Boot zerstört und David zum Aussteigen zwingt. Gestalten lösen sich vom Wal und tragen den Bewusstlosen in die Tiefe. Sechs Monate später befindet sich die „Polarstern“ über dieser Stelle, um nachzusehen. Hank Wyman, der Konstrukteur von Davids Tauchboot, ist mit dem Regierungsbeamten Harding an Bord, um mit der „Alvin“ eine erstaunliche Beobachtung zu überprüfen. Es gibt ein Video von einem Blauwal, auf dem weiße Buchstaben stehen: „Hank Komm Ariane David“. Konnte David in dieser Tiefe überleben?

Ein erster Tauchgang bestätigt diese Beobachtung, und es gibt weitere Botschaften: Bedingungen, wonach sich die Menschen von gewissen Meereszonen fernhalten sollen. Von Harding erhält Hank Meldungen aus allen Teilen der Erde, wonach Algenteppiche Häfen und Fischfanggründe blockiert haben. Es gibt kaum noch Schiffstransporte, von Fischerei gar nicht zu reden. Was geht da vor?

Die Wale agieren intelligent, als würde ein Bewusstsein sie steuern. Erst auf wütendes Poltern Hanks rückt Harding in einer Videokonferenz mit der Sprache heraus: Das Ergebnis eines militärischen Experiments mit Delfinen ist entkommen und hat sich vermehrt. Es ist ein Biolink zwischen Walen und Menschen, das Bewusstseine verknüpft. Das mit David und dem Wal passiert sein. Und sie steuern die weltweiten Aktionen durch die Infraschallkommunikationen der Blauwale, die tausende Kilometer weit reicht.

Als der Golfstrom versiegt, bleibt dem US-Präsidenten keine Wahl mehr. Er geht zum Gegenangriff über – direkt unter der „Polarstern“ …

|Mein Eindruck|

Wenn das bloß Frank Schätzing geschrieben hätte! In seinem Bestseller „Der Schwarm“ schildert der Kölner ebenfalls die Rache der Tiefsee an der Menschheit, mit fatalen Folgen. Die Ursache sind bei Wichmann jedoch nicht irgendwelche Aliens, sondern ein Militärexperiment, wie man sie schon seit über 50 Jahren kennt.

Trotz der also nicht gerade neuen Ideen weiß die Geschichte doch den Leser zu packen und bei der Stange zu halten, bis zur letzten Zeile. Ich würde mir einen Roman daraus wünschen, und wenn es bloß 140 Seiten wären.

_Arnold H. Bucher: „Den Letzten frisst der Schredder“_

Die Menschen sind von den Robotern abgelöst worden. Doch die Evolution wirkt weiter: Jede neue Baureihe führt zur Vernichtung ihrer Vorgänger. Als ein Montageroboter der 400er-Reihe nicht mehr einsieht, warum er sich durch Montage der 600er-Reihe selbst überflüssig machen soll, kommt es zum Ausraster. Auch der Protest seines 400er-Gegenübers am Fließband hilft da nichts. Als der Deserteur schließlich die Energieversorgung attackiert, sind härtere Maßnahmen nötig, um ihn zu stoppen.

|Mein Eindruck|

Noch ein Fall für den guten Doktor Isaac Asimov! Sogar die Robotergesetze werden hier befolgt. Aber gelten sie auch, wenn es keinerlei Menschen mehr gibt? Natürlich nicht! Humorvoll-sarkastisch zieht der Autor die Blechkumpel und ihre Motive bzw. Direktiven durch den Kakao. Und wer wird siegen – das System oder der Rebell? Dreimal darf man raten.

_Andrea Tillmanns: „Der blinde Passagier“_

Im Jahr 2108 ist ein Handelsraumschiff unterwegs zu seinem Bestimmungsort, als der Alarm die Xenobiologin Xing aus ihrem Kälteschlaf weckt. Ihre zwei Kollegen, der Sicherheitsoffizier Rensing, und die wuschelige, merinthische Ärztin Jojo, starren auf einen Monitor: Es gibt offenbar einen blinden Passagier im Frachtraum. Möglicherweise einen Karkon, aber die sind harmlos.

Nach einiger Suche und einer regelrechten Verfolgungsjagd stoßen sie endlich auf den Eindringling: einen prähistorischen Donnervogel von der Erde. Der Absender, wohl irgendein Genpanscher, hat nicht bedacht, dass die Schiffszeit an Bord von FLOW-Flügen viel länger dauert als seine eigene Base Time. Der Vogel ist deshalb vorzeitig geschlüpft – und mordsmäßig hungrig …

|Mein Eindruck|

Die Story könnte von James Tiptree alias Alice Sheldon aus ihren frühen Jahren ca. anno 1968 stammen. Sie ist nett, skurril genug und verweist auf einen ernsten physikalischen Hintergrund: die Zeitverschiebung an Bord interstellarer Flüge. Außerdem ist die Handlung spannend genug, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, bis die Lösung des Rätsels erfolgt. Happy-End? Wird nicht verraten.

_Armin Rößler: „Die Fänger“_

Als Yord und Yola 15 oder 16 Jahre alt sind, schwebt ein Raumschiff auf sie herab und entführt Yords Schwester. Er weint bittere Tränen und vergisst sie nie. Zehn Jahre später kämpft er als Pilot in der Raumflotte seiner Heimatwelt Comon gegen die Tigri-Feinde, die ihren Raumsektor verteidigen. Mitten in der Schlacht bemerkt er jenes alte Raumschiff erneut und desertiert, um es anzufliegen. Ohne Zwischenfall gelangt er an Bord des Schiffes, doch dann streckt ihn ein Energiestrahl nieder.

Als er erwacht, kann er sich mit einer groß gewachsenen, blonden Frau, die einen Umhang trägt, unterhalten. Er sagt ihr, warum er hier sei, und sie sagt ihm, was es ist, was sie und ihresgleichen tun: Sie sind Sammler von Wesen, und nachdem sie ihre Lebensgeschichten erfahren haben, lagern sie ihre Exemplare im „Kabinett“. Sie gesteht ihm, dass er sie beeindruckt habe, und lässt ihn am leben.

Nach einer langen Periode im Kälteschlaf bekommt er einen Job in der Überwachung des „Kabinetts“. Es ist gigantisch und umfasst mehrere tausend Exemplare. Kann er Yola jemals in dieser Unmenge von sargähnlichen Kälteschlagbehältern finden? Vielleicht ist ja schon längst einem Defekt zum Opfer gefallen. Solche Defekte kommen mindestens einmal pro Wachperiode vor. Zwei Aufseher vom Volk der Stiripin helfen ihm. Dennoch seilt er sich zunehmend ab und sucht das Kabinett und die Hangars ab. So kann er einen Fluchtplan ins Werk setzen.

Wird er seine Schwester finden, fragt er sich stets, und was wird dann die große Frau tun?

|Mein Eindruck|

An dieser actionlosen Erzählung erweist sich mal wieder die Routine des erfahrenen Autors. Er zaubert selbst aus einer belanglosen, an Höhepunkten armen Geschichte noch angenehme Unterhaltung. Der erfahrene Leser weiß von vornherein, dass der Held seine Schwester finden wird, denn sonst wäre die Geschichte ja völlig umsonst erzählt.

Also müsste eigentlich etwas anderes den Reiz der Geschichte ausmachen, entweder die innerliche Weiterentwicklung der Hauptfigur im Sinne eines Entwicklungsromans – oder interessante Erkenntnisse über die Sammler bzw. Fänger, die der Geschichte ihren Titel geben. Enttäuschenderweise findet weder das eine noch das andere Motiv eine nennenswerte Vertiefung.

Der Held wird nicht zu einer inneren Wandlung gezwungen – wie auch, wenn es völlig unbehelligt weiter wursteln kann? Und die große Frau von den Aliens verrät über ihre Sammelleidenschaft und deren Ursache – Langeweile – auch nicht allzu viel. Somit bleibt der Leser mit dem Gefühl zurück, gerade einen Appetithappen gefuttert zu haben, aber sich bis zum Hauptgericht noch gedulden zu müssen.

_Fehler und Zweifelsfälle_

Auf Seite 21 muss es in der ersten Zeile „Bake“ statt „Barke“ heißen, denn in der Regel fahren auf der Autobahn keine Schiffe.

Auch auf Seite 190 wird die Aufmerksamkeit des Lesers getestet. Wer weiß, dass Wale keine Forken (= Mistgabeln), sondern Fluken (= Schwanzflossen) besitzen, wird jedoch zurechtkommen. Von Mistgabeln schwingenden Wale hat man bislang noch nichts gehört.

Auf Seite 206 hat sich der Herausgeber höchstselbst mit einem Schnitzer verewigt. Da heißt es: „Der Wiese blieb rasch hinter ihnen zurück.“ Korrekt sollte es „die Wiese“ heißen.

_Unterm Strich_

Besonders beeindruckt haben mich die Erzählungen „Der Klang der Stille“, „Rückkehr ins Meer, „Wie ein Fisch im Wasser“ und vor allem „Das Klassentreffen der Weserwinzer“. Letztere Geschichte hat mir ganz besonderes Vergnügen bereitet, und ich könnte mir einen ganzen Roman mit Geschichten vorstellen, die in diesem Setting spielen – die Gegenwart Deutschlands in den Rahmenbedingungen vor 1815, das wäre doch mal ein reizvolles Sujet. Könnte man auch zur Shared World ausbauen. An ähnlichen Beispielen fällt mir spontan nur der Alternativweltroman „An den Feuern der Leyermark“ von Carl Amery ein, der um das Jahr 1866 spielt, als eigentlich die Preußen Österreich bei Königgrätz vernichtend schlagen sollen – aber hier kommt alles ganz anders, besonders aus bayerischer Sicht.

Lediglich lauwarme Begeisterung wussten die technisch orientierten Beiträge bei mir hervorzurufen, so etwa das beeindruckende „Vactor Memesis“, das mich jedoch in seiner prämisse zu stark an Iwoleits Roman „Psyhack“ erinnerte. Auch „Klick, klick, Kaleidoskop“ und erst recht „Wie man sich ändern kann“ scheinen mir in diese Richtung zu tendieren. Das ist keineswegs schlecht, führt aber manchmal zu wenig befriedigenden Ergebnis. Es kommt stark auf die erzählerische Umsetzung an.

Es ist bemerkenswert, wie viele Geschichte im oder am Meer spielen, so etwa „Rückkehr ins Meer“, „Wie ein Fisch im Wasser“ und „Eiskalt“. Der Grund mag der sein, dass sich dort die Zukunft des Planeten entscheiden wird, vor allem wegen des Klimawandels. Andere, mitunter recht amüsante Geschichten zeigen die guten alten Roboter Asimov’scher Prägung. Die klassischen Vorbilder der 1940er bis 1960er Jahre lassen sich auch noch in „Molekularmusik“ und „Der blinde Passagier“ entdecken.

Wer sich fragt, warum bestimmte Erzählungen die Aufnahmekriterien für diese Sammlung erfüllten, andere aber wohl nicht, kommt besonders bei den Beiträgen „Die Fänger“ des Herausgebers und bei dem Landser-Roman „Eiskalt“ ins Grübeln. Letzterem kann man wenigstens noch zugute halten, dass er eine erkennbare politische Entwicklung extrapoliert, aber bei Stößers Beitrag sind die Fragen wesentlich größer. Vielleicht hatten die Herausgeber einfach selbst „carte blanche“, welchen Eigenbeitrag sie einbringen wollten.

|Taschenbuch: 226 Seiten
ISBN-13: 978-3938065471|
[www.wurdackverlag.de ]http://www.wurdackverlag.de

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