Taylor, Michael Ray – Höhlen. Expeditionen in die faszinierenden Innenwelten an Land, unter Wasser und im Eis

Im Jahre 2000 begab sich ein Team der Firma MacGillevray Freeman Film, Spezialisten für die Herstellung von IMAX-Filmen, auf eine Nabelschau ins Innere unserer Erde. Unterstützt von der National Geographic Society wurde ein abenteuerliches Projekt realisiert: Zum ersten Mal sollte die komplizierte Technik, mit deren Hilfe außergewöhnlich scharfe und farbintensive Aufnahmen möglich sind, in Höhlen eingesetzt werden, die nicht nur unter der Erde und damit im Dunkeln, sondern teilweise sogar unter Wasser oder im Gletschereis lagen.

Vom Ewigen Eis des Nordens bis in die warmen Meere Mittelamerikas ging die Fahrt, die in diesem Buch beschrieben wird, das eine Mischung aus Expeditionsbericht und Sachbuch darstellt. Als „Blickfang“ und Identifikationsfiguren für die Zuschauer wurden Hazel Barton und Nancy Aulenbach, zwei junge und in ihrem Metier erfolgreiche, aber auch optisch ansprechende Höhlenforscherinnen angeheuert, welche für eine bezahlte Forschungsreise gern in Kauf nahmen, vor der Kamera ihrem Job nachzugehen. Der Wissenschaftsjournalist Michael Ray Taylor schloss sich der Expedition an und sammelte parallel zu den Filmaufnahmen das Material für sein hier vorgelegtes Buch. Es gliedert sich in drei Großkapitel, die sich an den drei Höhlentypen orientieren, die auf dieser Erde vorkommen: Höhlen im Eis, unter Wasser und im Felsen.

„Eis: ins Herz von Grönland“ (S. 12-67): Viele Kilometer dick sind die Eisschichten, welche die meisten Gebiete der größten Insel dieser Welt bedecken. Vor allem im Sommer, wenn die Sonne sogar in diesen eisigen Breiten für Wärme sorgt, beginnen Schmelzbäche Rinnen, Schluchten und Höhlen in das Eis zu fräsen. Dies ist der Zeitpunkt, auf den einige Spezialisten unter den Naturforschern gewartet haben, können sie doch nur auf diese Weise in die Welt unter dem Eis eindringen, das ansonsten undurchdringlich weil hart wie Eisen bleibt. Angetrieben werden sie nicht durch Abenteuerlust. Wissenschaftliche Neugier treibt sie hinab in die Tiefe – ein gefährliches Unterfangen, denn Eis ist ein Material, das sich in Nichts auflösen, zusammenstürzen oder rasant neu bilden kann. Eishöhlen sind deshalb ständigen Veränderungen unterworfen, die eine Expedition dem Irren durch ein einsturzgefährdetes Labyrinth gleichen lassen. Doch der Einsatz lohnt sich, denn dort, wo man normalerweise nur öde Kälte erwartet, gibt es Leben. Einzeller und anderes mikroskopisch kleines Getier sowie Kreaturen, deren Einteilung in den Stammbaum des Lebens schwer fällt, tummeln sich hier unten und gedeihen prächtig. Sie erweitern die Grenzen dessen, was die Forschung bisher als Lebensraum definierte, gewaltig. Plötzlich wirken auch fremde Welten wie der Mars oder der Jupitermond Europa nicht mehr absolut lebensfeindlich: Es ist dem Leben offenbar nicht nur theoretisch möglich, unter solchen Extrembedingungen zu existieren.

„Wasser: Flüsse unter Yucatan“ (S. 68-133): Diese Theorie findet auch an einem ganz anderen Ort Bestätigung. Die mittelamerikanische Halbinsel Yucatan ist ein riesiger Schweizer Käse, unter dessen dünner Erd- und Felsoberfläche ein gewaltiges Höhlensystem im stützenden Gesteinssockel ausgewaschen wurde. Nachdem der Meeresspiegel in der Vergangenheit angestiegen ist, liegt es heute unter Wasser. Oft künden nur „Cenotes“, riesige runde Löcher dort, wo die Decke eingestürzt ist, von ihrem Vorhandensein. Riesige Flüsse erstrecken sich unter einem Regenwald, in dem es kaum offene Wasserflächen gibt. Die Höhlenwelt im Wasser ist warm aber dunkel und keineswegs ohne Leben. Die Besucher finden hier neue, bemerkenswert an ihre seltsame Umwelt angepasste Lebewesen, die in geradezu bizarren Symbiosen „zusammenarbeiten“ und so den Anforderungen genügen, die ihre Heimat an sie stellt. Deren Erforschung ist sogar noch riskanter als der Gang ins Eis, muss sich der Mensch doch in ein Element wagen, das ihm die wichtigste Grundlage für seine Existenz versagt: den Sauerstoff, auf den er anders als die Wesen, die er in der Tiefe sucht, keineswegs verzichten kann. Soll dann auch noch gefilmt werden, werden die logischen Anforderungen für einen Tauchgang zu einem Albtraum.

„Erde: Klettern und Kriechen“ (S. 134-203): Höhlen in Felsen erweisen sich endlich einmal als stabil. Dies macht ihre Erforschung freilich nicht einfacher, denn in der Regel finden sich die für die Forschung besonders interessanten Stellen exakt dort, wo kaum ein Hinkommen möglich ist. Viele hundert Meter geht es durch das rote Gestein von Arizona in düstere, gähnende Schlünde oder durch sargenge Schlupfgänge hinab in den Bauch des Planeten, aus dessen Wänden womöglich giftige Gase oder gar Säuretropfen quellen. Aber selbst hier hat das Leben seine eigenen Wege gefunden. Absonderliche Geschöpfe mit nie vermuteten Fähigkeiten werden hier entdeckt; womöglich verbergen sie in ihrem Inneren Heilstoffe gegen menschliche Krankheiten, welche die Medizin revolutionieren können.

Die Forschung als Abenteuer verpackt, kann durchaus das Interesse wecken (oder Sponsorenbörsen öffnen). Nur die echten Ignoranten winken ab, aber ihnen bleibt das Reich der Jamba-Jingles & Privat-TV-Komiker, dessen Grenzen sie hoffentlich nie überschreiten. Freilich ist es durchaus möglich, dass sogar einige dieser (im Kopf) Hartgesottenen durch dieses Buch angelockt werden. Höhlen üben auf Menschen eine eigentümliche Faszination aus. Sie fürchten sich entweder vor der Enge, der Dunkelheit, dem Unbekannten, das sich dort verbergen mag, oder sie werden magisch angezogen auf der Suche nach Schätzen, welche in diesem Fall aus wissenschaftlichen Erkenntnissen bestehen. Möglicherweise spielt ja eine kollektive Erinnerung an jene fernen Zeiten eine Rolle, in denen der Mensch in Höhlen wohnte. Es sind indes nie so viele gewesen, wie man heutzutage annimmt; Höhlen mit Lebensqualität sind nicht gerade zahlreich.

Erstaunlich viele Kreaturen sehen das allerdings anders. Tief unter der Erdoberfläche gibt es bizarre Ökosysteme, die sich der Mensch bis vor kurzer Zeit nicht hätte träumen lassen. Höhlen stellen das ideale Versuchslabor der Natur dar. Hier existieren alle nur denkbaren Extrembedingungen: extreme Hitze oder Kälte, Trockenheit, Nässe, Atmosphären mit Gasen, die man für giftig gehalten hatte, die manche Bakterien jedoch zum Leben benötigen; die frische Luft ist es, die sie töten würde. Kein Wunder also, dass diese Spezialisten Spitznamen wie „Klingone“ tragen: Sie muten außerirdisch an – und geraten damit zu Hoffnungsträgern jener, welche auf den Planeten und Monden unseres Sonnensystems allzu gern Leben fänden. Wie es aussieht, könnten sie Recht behalten.

Die Suche nach solchen Wesen ist unter den beschriebenen Umständen schwierig. Michael Ray Taylor weiß für sein Buch davon zu profitieren. Er muss nur beschreiben, was sich vor seinen Augen in diversen Höhlen abgespielt hat, und könnte sich dabei sogar die Mühe sparen, dies ebenso präzise wie knapp und lesenswert zu tun (was er glücklicherweise nicht macht): Die Aufmerksamkeit des Lesers wird sofort auf 135 bemerkenswerte Fotos gelenkt.

Die IMAX-Technik gehört vermutlich bald zu den Sackgassen der Technikgeschichte. Gewaltige Kameras müssen mit überdimensionalen Filmrollen gefüllt werden. Für die entstandenen Werke wurden sogar eigene Kinos mit entsprechenden Leinwänden gebaut: IMAX-Bilder sind riesig, farbintensiv und unglaublich detailscharf. Bis auch hier die digitale Revolution Einzug hält, gehören sie zu dem Feinsten, was man dem menschlichen Auge bieten kann. Durchweg auf feines Kunstdruckpapier gedruckt, spiegeln die ausgewählten Aufnahmen das Dargestellte mit spektakulärer Intensität wider.

„Höhlen“ ist auch ein Bericht über eine Reise in ferne und fremde Länder. Er hilft begreiflich zu machen, wieso der Mensch Informationen über solche Expedition liebt: Sie führen dorthin, wo noch niemand zuvor war. Es gibt sie noch, die berühmten „weißen Flecken“ auf der Landkarte. Heute werden sie denjenigen, die es vorziehen, den mit der Erforschung verbundenen Strapazen aus dem Weg zu gehen, sogar ins Haus gebracht. „Höhlen“ ist so dicht am Geschehen, dass man leicht vergisst zu berücksichtigen, dass diese Bilder im Grenzbereich des Lebens entstanden. Obwohl sich Verfasser Taylor nach Kräften bemüht, die Gefährlichkeit von Höhlen angemessen darzustellen, ist ihm klar, dass die vielleicht größte Gefahr erst durch Film und Buch heraufbeschworen wird. Nicht grundlos werden die Zugänge zu vielen Höhlen sorgfältig geheim gehalten. Die hier angesiedelten Ökosysteme sind fragil, die laienhaften Besucher tölpelhaft oder offen zerstörungswütig. Vor allem fällt es ihnen schwer zu begreifen, dass in einer Höhle jeder Schritt bedacht sein will; es könnte sonst der letzte werden.

„Höhlen“ ist in jeder Beziehung ein monumentales Werk. Damit die Bilder wie beschrieben zur Geltung kommen können, wurde ein Buchformat von 23 x 30 cm (Hochformat) gewählt. Das Ergebnis hat seinen (Kauf-)Preis, doch hier gibt es einen Tipp: „Höhlen“ wird nunmehr antiquarisch angeboten. Mein Exemplar erwarb ich für weniger als die Hälfte des ursprünglichen Preises. Unter diesen Umständen ist es beinahe unmöglich, einen Kauf zu verhindern …

Der amerikanische Journalist und Buchautor Michael Ray Taylor ist Dozent für Journalismus an der Henderson State University im US-Staat Arkansas. Er nimmt an Expeditionen teil und hat sich auf die Erforschung von Höhlen spezialisiert, von denen er inzwischen ca. 600 besucht hat. Sein besonderes Interesse gilt dabei der Suche nach den „Extremspezialisten“ unter deren Bewohnern – den Nanobakterien. Als Wissenschaftsjournalist arbeitet Taylor u. a. für die Website des Discovery-Channels (www.discovery.de bzw. www.discovery.com) und als Berater für Dokumentarfilme dieses Hauses, für die National Geographic Society sowie für andere Fernsehsender.

Die National Geographic Society informiert unter der Adresse http://www.nationalgeographic.de über ihr Buchangebot.

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