Wagenstein, Angel – Leb wohl, Shanghai

Viele Bücher sind bereits geschrieben worden über den zweiten Weltkrieg und über jüdische Schicksale, die damit in Zusammenhang stehen. Dass viele Juden zu dieser Zeit nach Shanghai ausgewandert sind, weil man dafür kein Visum benötigte, ist bislang eher selten erwähnt worden. Angel Wagenstein bringt mit „Leb wohl, Shanghai“ Licht in dieses Dunkel und erzählt anhand einzelner menschlicher Schicksale diese beschwerliche Zeit nach.

Obwohl viele Personen und ihre Geschichten in der Handlung vorgestellt werden, liegt der Hauptfokus doch auf einer jungen Frau und einem jüdischen Paar. Hilde Braun ist eine bildhübsche blonde Schauspielerin, die bereits für Leni Riefenstahl vor der Kamera stand und dann nach Paris ging, um dort Arbeit zu suchen. Was niemand weiß: Trotz ihres Aussehens und ihrer Arbeit für Riefenstahl ist sie eine Jüdin. Als die Luft in Paris für sie knapp wird, begibt sie sich zusammen mit dem ungarischen Pianisten, den sie auf ihrer letzten Arbeitsstelle kennen gelernt hat, nach Shanghai. Dort angekommen hilft ihr erneut ihr „arisches“ Aussehen, um einen Job zu finden: Sie wird die Vorzimmerdame des deutschen Botschafters.

Für den bekannten Geiger Theodor Weisberg und seine deutsche Frau Elisabeth läuft die Flucht nicht ganz so glimpflich ab. Nachdem Elisabeth es geschafft hat, ihren Mann aus dem Konzentrationslager zu befreien, finden sie sich in Shanghais schäbigem Flüchtlingsviertel wieder, das später zu einem Ghetto umfunktioniert werden soll. Beide halten sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser, doch seine Musik kann Weisberg einfach nicht aufgeben. Also stellt er ein jüdisches Orchester zusammen, mit dem er der unerträglichen Wohnsituation entfliehen kann.

Weitere wiederkehrende Charaktere sind beispielsweise der ungarische drogenabhängige Pianist, mit dem Hilde flieht; ihr Pariser Liebhaber Vladek, ein Spion, der seine wahre Herkunft und Beschäftigung mit viel Humor und Lügen zu verschleiern weiß; Shlomo Finkelstein, der gerissene, gnomgroße Taschendieb. Angel Wagensteins Geschichte lebt durch all diese Personen und ihre ganz persönlichen Schicksale, Charaktereigenschaften und Unzulänglichkeiten. Nebenbei erzählt der Autor chronologisch, was damals in Shanghai passierte. Häufig verpackt er diese Ereignisse in kleine Geschichten, von denen es in dem Buch nur so wimmelt. Eine stringente Handlung gibt es nämlich nicht. Vielmehr folgt man als Leser den Leben der einzelnen Personen, die durch Zufälle, Begegnungen und ähnliches geprägt sind.

Trotz dieser lockeren Herangehensweise an die jüdische Geschichte wird der Schrecken dieser Zeit durch die Verbindung mit menschlichen Charakteren wesentlich realer als in einer sachlichen Aufzählung. Man muss sich erst an Wagensteins Erzählstil gewöhnen, da er des öfteren Zeitsprünge in seine Episoden einbaut. Kennt man diese jedoch, ist das Buch nicht nur überaus interessant, eben weil es ein bisher eher wenig beleuchtetes historisches Ereignis und dies auf eher ungewöhnliche Art und Weise behandelt, sondern auch sehr lesenswert. Mit starken Worten und intensiven rhetorischen Mitteln zeichnet Wagenstein ein sehr lebendiges Bild. Seine Situationsbeschreibungen sind immer auf den Punkt gebracht, die Dialoge teilweise geradezu göttlich. Immer wieder lässt er Humor und Sarkasmus einfließen, ohne dabei respektlos zu werden.

Die wohl größte Ironie in der Geschichte ist wohl Hilde Braun und ihre Berufe. Sie führt die Nationalsozialisten in ihrer Not geradezu an der Nase herum und ist damit ein unglaublich starker Charakter. Sie ist nicht nur hübsch und intelligent, sondern auch frech und um keine Antwort verlegen. Manchmal wirkt sie geradezu modern mit ihrer selbstbestimmten Einstellung und ihrer Fähigkeit, sich durchzumogeln.

Ähnlich grundsympathisch sind die anderen Charaktere, von denen es im Buch genügend gibt. Sie haben alle eines gemein: Sie sind menschlich. Die Juden werden nicht immer als die Guten dargestellt und auch die Nationalsozialisten in der Geschichte haben menschliche Züge. Sie wirken häufig wie Mitläufer, die die Befehle von oben ausführen, aber ansonsten keine Ungeheuer sind. Der Autor verzichtet also fast gänzlich auf Schwarz-Weiß-Zeichnung. Er konzentriert sich lieber darauf, die Personen ausgewogen darzustellen, was ihm herausragend gelingt. Die Taten der Nationalsozialisten werden dadurch aber nicht weniger schrecklich.

„Leb wohl, Shanghai“ ist ein Buch, dem ein interessanter Gedanke zugrunde liegt: Juden in Shanghai. Den historischen Abschnitt, den Wagenstein in der Geschichte behandelt, stellt er hauptsächlich mit Hilfe von menschlichen Schicksalen dar. Er drückt dabei selten auf die Tränendrüse, sondern lässt im Gegensatz auch lustige und schöne Momente zu. Dadurch rückt die Geschichte von dem schulbuchartigen Charakter, den andere Bücher über die Zeit des Zweiten Weltkriegs haben, ab und wird zu einem überaus empfehlenswerten, da ungewöhnlichen Roman.

|Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm
348 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3570580080|
http://www.edition-elke-heidenreich.de

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