Winter, Maren – Stundensammler, Der

Mit „Der Stundensammler“ legt Maren Winter ihren zweiten Roman vor, dessen Handlung wie ihr Debüt erneut in ein historisches Gewand verpackt ist. Beschrieb sie in „Das Erbe des Puppenspielers“ die schicksalhafte Reise eines Puppenspielers, der in die Intrigen und Verschwörungen zu Zeiten Karl des Großen verwickelt wird, so verlegt sie in ihrem Zweitwerk die Geschichte gut 700 Jahren nach vorne. Genau genommen in das Jahr 1492, zu Hochzeiten der Renaissance.

„Der Stundensammler“ wurde wie ihr Erstling erneut bei |Heyne| veröffentlicht und erschien dort als Taschenbuchausgabe in der Reihe |Heyne Original|. Auf den knapp 500 Seiten lassen sich neben der Romanhandlung zwei Karten sowie einige Anhänge finden. Die Karten stellen Nürnberg sowie das Nürnberger Umland dar und sind mit für den Plot wichtigen Ortschaften gekennzeichnet. Für das Nachvollziehen der Handlungsstränge wären sie zwar nicht notwendig gewesen, als nette Beigabe taugen sie aber allemal. Die Anhänge beschäftigen sich mit dem historischen Hintergrund und listen detailliert die wichtigsten Fachausdrücke mit prägnanten Erläuterungen sowie die Protagonisten der Handlung und deren Bezug zur historischen Realität auf. Wer tiefer gehende Informationen sucht, kann sich anhand der gelieferten Hinweise so um weitere Literatur bemühen.

Während Maren Winter mit „Das Erbe des Puppenspielers“ auf sicherem Terrain agierte – immerhin schloss die 1961 geborene Autorin eine Ausbildung zur Puppenspielerin ab und gründete mit ihrem Mann ein Figurentheater -, wagt sie sich in „Der Stundensammler“ auf ein zumindest aus ihrer Biographie nicht ersichtliches, neues Gebiet vor. Zentraler Aspekt in ihrem Roman ist die Erfindung der Taschenuhr, um den sie die Lebensgeschichte der fiktiv ausgestalteten Hauptfigur Severin und den damit verbundenen Plot anlegt:

Severin wird als Findelkind von seiner leiblichen Mutter in die Familie des Bauern Georg Geiss gegeben, in der er mit seinen neuen Geschwistern eine harte Kindheit erlebt – unbedacht von seiner tatsächlichen Herkunft. Er muss schuften und hart arbeiten, doch die Anerkennung in seiner Familie bekommt er nicht. Als er eines Tages die Schafe hüten muss und nicht verhindern kann, dass eines von ihnen im Fluss ertrinkt, hat er sich seine letzten Sympathiepunkte verspielt. Die Strafe, das Schaf durch noch härtere Arbeit abzugelten, trifft ihn hart.

Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf, als die Familie ins Dorf Affalterbach zieht, um dort auf dem kleinen Markt ihre Waren feilzubieten. Denn während die Bauern noch unbedacht handeln, zieht der Markgräfliche Erbprinz gen Nürnberg und schlachtet auf seinem Weg die schutzlosen und völlig überraschten Bauern regelrecht ab. Zwar kann das Heer vor Nürnberg aufgehalten und schließlich vertrieben werden, doch Severin verliert seine gesamte Adoptivfamilie, während sich der Junge im Kirchturm versteckt hält. Denn den Angriff verschläft der Junge schlicht und ergreifend unter der über ihm tickenden Kirchenuhr. Alles, was er danach noch vorfindet, ist ein Feld voller Leichen.

Dieses Ereignis prägte ihn so sehr, dass die Zeit, und vor allem das Wissen über die Zeit, sein künftiges Leben fortwährend begleitet. Anfangs noch unbewusst, später im Verlaufe der Handlung immer drängender, wird ihm klar, dass es nur eine Lösung gibt: eine Taschenuhr, die jeder mit sich herumtragen kann. Erst dann hätten die Menschen die Kontrolle über die Zeit …

Maren Winter schafft es leider nicht, gleich zu Beginn eine fesselnde Atmosphäre aufzubauen. Zwar wird schnell klar, dass sich die Autorin auf dem historischen Gebiet auskennt und weiß, wovon sie schreibt, doch der Funke will zunächst nicht überspringen. Das mittelalterliche Bild, das sie aufzubauen versucht, setzt sich einfach nicht plastisch im Gedächtnis fest, als dass darauf aufbauend die Handlung wirklich mitreißen könnte.

Dies scheint an mehreren Faktoren zu liegen. Zunächst wirken die Figuren anfänglich äußerst platt, auch wenn der Hauptcharakter Severin und die Heinlein-Brüder, unten denen der Junge später dient, hier angenehm herausstechen. Die meisten Nebenfiguren bleiben recht blass und leblos. Die Bauernfamilie etwa, die auf den ersten Seiten beschrieben wird, kommt einerseits klischeeartig tumb, voreingenommen und rüde daher, anderseits werden den Bauern dann aber Dialoge in den Mund gelegt, die äußerst unpassend erscheinen. Wenn sie in einigen Szenen plötzlich auf die politische Situation und die kriegerischen Konflikte zu sprechen kommen und mit erstaunlichem Hintergrundwissen argumentieren, entsteht der Eindruck, dass an dieser Stelle recht gezwungen der Plot vorangetrieben werden soll. Auch Severins Motivation, durch das Verschlafen des Gemetzels unter der Kirchenuhr die Zeit kontrollieren zu können, damit ihm solch ein Missgeschick kein weiteres Mal passiert, kann nicht so recht überzeugen.

Der Leser wird also auf eine harte Probe gestellt, wenn er sich der Romanhandlung hingeben möchte, aber immer wieder bemerken muss, dass diese sich nicht von alleine entfaltet, sondern von der Autorin mal mehr, mal weniger auffällig in die gewünschte Richtung vorangetrieben wird. Schade, denn dadurch kann sich auch die mittelalterliche Szenerie nicht festsetzen. Durchaus verständlich, wenn der Leser hier frustriert aufgibt – doch durchzuhalten lohnt sich.

Denn in dem Moment, als Severin auf die Bettlerin Barb trifft, die sich seiner annimmt und nach Nürnberg bringt, gewinnt „Der Stundensammler“ an Fahrt. Plötzlich kann sich der Leser mit der Hauptfigur identifizieren, kämpft seinen täglichen Kampf ums Überleben mit und freut sich für ihn, während er sich langsam vom Bettler über den Tagelöhner zum Gesellen hocharbeitet. Nürnberg, in dem sich die weitere Handlung abspielt, wird plastisch. Es gewinnt an Facetten ebenso wie an Leben, wenn immer mehr einflussreiche Leute in Severins Leben treten, die ihm helfen, seinen Traum von der Kontrolle der Zeit zu realisieren und ihn beim Bau einer Taschenuhr unterstützen. Dass sein Ziel schlussendlich Wirklichkeit wird, er seinen wahren Vater trifft und auch in der Liebe fündig wird, rundet den Roman würdig ab. Alles andere als ein Happy-End hätte man nach diesem Aufbau auch nicht erwartet.

Wer tapfer ist und durchhält, bekommt schließlich mit „Der Stundensammler“ einen ordentlichen Roman geboten, der zwar keine Lorbeeren gewinnt, aber durchaus unterhalten kann. Das historische Gewand um die Erfindung der Taschenuhr ist überzeugend, die schriftstellerische Aufarbeitung dessen aber ausbaufähig.

Schreibe einen Kommentar