Michael Patrick Hearn/L. Frank Baum – Alles über den Zauberer von Oz

Dorothy aus Kansas reist ins Zauberland Oz, wo sie mit einer Vogelscheuche, einem Blechmann und einem feigen Löwen über eine gelbe Ziegelsteinstraße zieht .. – Opulente, vielfarbige Neuausgabe des US-amerikanischen Volksmärchens, eingeleitet von einer 100-seitigen, von vielen Fotografien und Zeichnungen begleiteten Biografie seines Schöpfers L. Frank Baum: ein Meisterwerk auch der Buchdruckkunst, in dem man sich viele schöne Lesestunden verlieren kann.

Das geschieht:

Ein Wirbelsturm trägt die kleine Dorothy aus Kansas ins seltsame Land Oz. Die Rückkehr scheint ausgeschlossen, helfen könnte höchstens der mächtige Zauberer Oz, der in der Smaragdenstadt residiert. Die Reise dorthin ist lang und gefährlich, aber Dorothy zieht los – und sie findet Freunde: eine hirnlose Vogelscheuche, einen herzlosen Blechmann und einen feigen Löwen, die dank Dorothy über ihren Schatten zu springen lernen.

Nach vielen Abenteuer wird die Smaragdenstadt erreicht, der Zauberer verspricht Hilfe, doch er stellt eine Bedingung: Dorothy und ihre Gefährten sollen die böse Hexe des Westens ausschalten, die seit langer Zeit Oz bedroht. Ratlos schlägt das Quartett ein, doch die Hexe hat längst Wind von ihrer Ankunft bekommt und schickt ihnen ihre Schergen, die gefürchteten geflügelten Affen, entgegen …

Ein Buch als Lektüre-Event

Womit erst ein Drittel des Inhalts dieses voluminösen Bandes beschrieben ist, denn die märchenhafte Geschichte wird ausgiebig, manchmal exzessiv kommentiert. Unzählige Anmerkungen führen in die Hintergründe der Oz-Story ein und versuchen nachzuvollziehen, wie Verfasser L. Frank Baum auf seine kuriosen Ideen kam. Gleichzeitig wird „Der Zauberer von Oz“ als Spiegel seiner Epoche enthüllt. Wir erleben die Geburt eines modernen Mythos’ mit, der zwar erhofft, aber nie geplant war.

Wie dies geschehen konnte, zeichnet Oz-Fachmann Michael Patrick Hearn ausführlich nach. Er beschäftigt sich 100-seitig mit den beiden Schöpfern des Zauberers von Oz: L. Frank Baum (1856-1919) und W. W. Denslow (1856-1915), Schriftsteller der eine, Zeichner der andere: zwei Männer, deren Talente im „Zauberer“ zusammenflossen und sich dabei nicht verdoppelten, sondern vervielfachten.

Aus dem Gesagten wir deutlich: Wir haben es hier nicht nur mit einer weiteren Neuausgabe des „Zauberers“ zu tun. Derer gab es zwar schon viele, die aber – das Schicksal so manchen ‚Kinderbuches‘ – von ihren Übersetzern ‚kindgerecht‘ bearbeitet, d. h. gekürzt und verändert wurden. (In der ehemaligen Sowjetunion entstand sogar eine Fassung mit ganz neuen Handlungskapiteln.)

Die zahlreichen Facetten von Oz

Mit solchen Machwerken werden wir hier nicht belästigt. Das ehrgeizige Ziel des Herausgebers Michael Patrick Hearn war es, buchstäblich jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Bis in L. Frank Baums Papierkorb ist er (bildlich gesprochen) geklettert, um dort und in vielen anderen Quellen das Material zur Rekonstruktion des ultimativen Oz‘ zu finden. Keine einfache Aufgabe; nicht aufgrund der inzwischen verstrichenen Zeit, sondern weil Baum die unterschiedlichen Auflagen durchaus selbst veränderte. Schwer zu sagen ist also, ob es so etwas wie eine endgültige Fassung überhaupt jemals gab.

Aber solche Schwierigkeiten sind Wasser auf Hearns Mühlen. Er hat sich tief in das Baumsche Literatur-Universum eingelesen hat. Deshalb ist er nicht nur der Autor der einleitenden Baum-Biografie, sondern kommentiert auch die eigentliche Oz-Geschichte mit unzähligen Anmerkungen, in denen er auf jeden vorstellbaren Aspekt des zauberhaften Landes eingeht.

Dabei gibt es keine Grenzen. In den vielen Jahren, die seit dem ersten Erscheinen des „Zauberers“ verstrichen sind, haben sich zahlreiche Literaturwissenschaftler aber auch Laien angeregt gefühlt, zwischen den Zeilen zu lesen. Dies beantwortet manchmal durchaus nützliche Fragen – wieso ein Blechmann, eine Vogelscheuche, ein Löwe? –, schießt aber nicht selten weit übers Ziel hinaus bzw. outet sich als Faktenhuberei, als müßiges intellektuelles Spiel, das sich selbst genügt (Vgl. zum Beispiel den Versuch, das Kapitel „Das niedliche Porzellanland“ als verschlüsselte Reflexion auf den 1900 gerade aktuellen Aufstand der Boxer im kolonialen China zu deuten: „china“ ist das englische Wort für „Porzellan“). Hearn schließt sich mit gesunder Selbstironie immerhin selbst nicht aus: „Baum hätte bestimmt auch über manche Anmerkungen in ‚Alles über den Zauberer von Oz‘ den Kopf geschüttelt.“ (S. 306, Anm. 7).

Ein Bestseller, zwei Lebenswerke

Neben L. Frank Baum, dem Schriftsteller, kommt auch Baum als Erfinder, Theatermann oder Pionier des frühen Films zu neuen Ehren. Dieser Mann lässt sich nicht auf seine Rolle als „königlicher Schreiber“ des Landes Oz reduzieren. Baum war auch privat ein interessanter Mensch, der Zeit seines Lebens etwas riskierte, mehr als einmal auf die Nase fiel und sich wieder aufrappelte – ein Mann, der alles andere als ein weltfremder Bücherwurm war.

Gewürdigt wird der neben L. Frank Baum zweite Schöpfer des „Zauberers“. W. W. Denslow ist das fast zum Klischee geronnene Beispiel eines Sonder- und Widerlings, hinter dessen großartigem Werk ein trauriges Leben heute verschwindet. Hier widerfährt ihm Gerechtigkeit, denn Hearn forscht einerseits Denslows Geschichte nach – seine Rolle am „Zauberer“ wurde von Baum später heruntergespielt –, während er andererseits seine wunderbaren Illustrationen diesem Werk beifügt.

Viele Zeichner haben sich Dorothy & Co. gewidmet, aber Denlow deklassiert sie alle mit seinem täuschend simplen Stil, der indes alle für die Geschichte wichtigen Elemente transportiert. Der legendäre Hollywood-Film von 1939 (der selbstverständlich ebenfalls ausführliche Behandlung findet) gestaltet seine wichtigsten Figuren nach Denslow und tut sehr gut daran.

„Alles über den Zauberer von Oz“ sammelt sämtliche Zeichnungen, die Denslow für sowie im Umfeld des Klassikers schuf. Noch besser: Sie erscheinen hier in den prächtigen Farben der heute unbezahlbaren ersten Auflagen. Darüber hinaus gibt es eine Flut zeitgenössischer Werbebroschüren, Umschlagentwürfe, interessante Belege für frühes Merchandising, Hommagen und Parodien Denslowscher Kollegen … Die Palette ist breit und bunt, das Ergebnis ein Buch, das seinen Preis eindeutig wert ist.

Autor

Michael Patrick Hearn verfasste „Alles über den Zauberer von Oz“ im zarten Alter von 20 Jahren. Der studierte Literaturwissenschaftler und Journalist (u. a. „New York Times“ und „The Nation“) schrieb auch eine umfangreiche L. Frank Baum-Biografie und gilt längst als einer der weltbester Kenner von Autor und Werk. Darüber hinaus schuf Hearn „The Annotated Huckleberry Finn“, das unter dem Titel „Alles über Huckleberry Finn“ ebenfalls im Europa-Verlag erschienen ist.

„The Annotated Wizard of Oz“ erschien zuerst 1973. Die deutsche Ausgabe ist die Übersetzung der neu überarbeiteten und ergänzten Fassung von 2000. Sie ist erstaunlicher- und traurigerweise keineswegs frei von teilweise entstellenden (Druck-) Fehlern, was bei einem Buch dieser Preiskategorie definitiv unentschuldbar ist.

Gebunden: CII + 353 S.
Originaltitel: The Annotated Wizard of Oz (New York : Norton 2000)
Übersetzung: Alfred Könner (Anmerkungen: Änne Troester)

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