Vor 13000 Jahren wurde Nordamerika von Gletschereis geprägt und von Elefanten mit und ohne Fell, walrosszahnigen Raubkatzen, turmhohen Faultiere und bärengroßen Bibern bewohnt. „Wildes Amerika“ stellt die eiszeitliche Landschaft, die Pflanzen und vor allem die Tiere vor. Letztere präsentieren sich uns nicht nur als bleiche Knochen, sondern werden digital ins ‚Leben‘” zurückgerufen … – Begleitbuch zur BBC-Serie gleichen Namens; wissenschaftlich präzise aber inhaltlich simpel gestrickt. Das Interesse gilt eindeutig den à la „Jurassic Park“ nachgebauten Kreaturen, die qualitativ nicht mit den BBC-Sauriern der Serie „Im Reich der Giganten“ mithalten können: informativ aber nicht mitreißend.
Tierriesen in eisiger Wildnis
In Nordamerika ist alles „larger than live“. So ist es (angeblich), und so war es in gewisser Weise tatsächlich. Zumindest die Tierwelt kann mit eindrucksvollen Superlativen prunken. Dazu muss man allerdings ein paar Äonen zurückgehen: in die letzte Eiszeit, die ihren Scheitelpunkt vor etwa 20000 Jahren hatte und den Kontinent bis hinunter nach Wisconsin unter einem meilendicken Eispanzer verschwinden ließ.
Ganz Nordamerika? Nicht ganz: Zwischen Sibirien und Alaska stieg ein neues Land aus dem absinkenden Meer: Beringia, wo diese Reise durch das „Wilde Amerika“ beginnt. Dort, wo heute höchstens Seewölfe heulen und -bären brummen, tummelten sich einst kniehohe Moschusochsen, rundohrige Pfeifhasen, Hirsche aller Art – und lastwagengroße Mammut-Elefanten mit Korkenzieher-Stoßzähnen und Pelzmütze, belauert von säbelzahnigen Tigern, waschechten Löwen, gruselfratzigen Stelzbein-Bären und anderen seltsamen Kreaturen, die sich pudelwohl in der meist eisigen Graswüste fühlten.
Weiter geht es die pazifische Nordwestküste hinab, wo es allmählich wärmer und vor allem feuchter wurde. Hier finden wir schon wieder Elefanten, aber diese heißen „Mastodons“ und waren rotblond sowie reichlich kantig. Durch die Luft segelte ein Geier namens „Teratorn“, der mit fünf Metern Spannweite für Unruhe unter den Bodenbewohnern gesorgt haben dürfte. Grizzlybären, Bisons und weitere Überlebende interessieren angesichts solcher Ungetüme weniger; ungeduldig blättern wir weiter und schaudern „Amerikas Serengeti“, den Great Plains, entgegen. 3800 mal 1600 Kilometer Prärie – eine Grassteppe, die vor bizarrem Leben barst. Da sind auch schon wieder Elefanten, die hier aber „Präriemammut“ hießen, vier Meter hoch waren und 10 Tonnen wogen. Es überraschen außerdem Löwen und Geparde, die wir hier eigentlich nicht vermuten würden. Um sie von den afrikanischen Spiegelbildern zu unterscheiden, waren sie freilich – richtig geraten! – ein gutes Stück größer gewachsen.
Der Mensch macht sich bemerkbar
Das galt auch für den weiter oben bereits erwähnten Säbelzahntiger. Wir lernen viel von ihm und seinen unglücklichen Opfern aus den Teergruben von La Brea, einer Art Fliegenfalle für unvorsichtige Riesensäuger, gelegen praktischerweise in der Innenstadt von Los Angeles, was diesen Arbeitsplatz für Wissenschaftler sehr beliebt macht.
Im „Land der Canyons“ im Südwesten der USA treffen wir neben Bekannten wie Pumas, Schneeziegen und Dickhornschafen auf die skurrilen, kleinbusgroßen Bodenfaultiere. Auf unserer letzten Station lernen wir noch das Riesen-Panzergürteltier kennen. Im angenehm temperierten Florida und fernab der eiszeitlichen Unbilden hatte es sich angesiedelt: ein auf Öltankumfang aufgeblasenes Meerschweinchen, belegt mit 5 cm dicken Hornplatten, auf dem Kopf einen Hornplattenhelm, an anderen Ende ein Panzerringschwanz, der mit durchschlagender Wirkung geschwungen wurde.
Das Kapitel „Mammuts in Manhattan“ fasst zusammen, was schon mehrfach zur Sprache kam: Wie passt der Mensch in dieses nordamerikanische Puzzle? Woher kam er, wohin ging er, hat er – grünherzige Misanthropen aufgepasst! – womöglich zu tun mit dem recht plötzlichen Verschwinden der Eiszeit-Giganten? Oder war es ein Klimawechsel? Eine kontinentale Seuche? Alles zusammen? Nichts von allem? Nichts Genaues weiß man nicht, aber sicher ist, dass der Nordamerika in den letzten fünf Jahrhunderten nachdrücklich vom Menschen geprägt, d. h. verändert wurde.
Bewegte Bilder vertuschen Mangelhaftes
Damit hat sich der Kreis geschlossen; aus dem „Wilden Amerika“ ist das uns bekannte „God’s Own Country“ (plus Kanada) geworden. Wir wissen nun, wieso es so aussieht wie es aussieht – keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis monumentaler, vieltausendjähriger Entwicklungen und Veränderungen. Diese werden hier vorgestellt. Das ist an sich spannend und geschieht hier vor-bildlich, d. h. überzeugend illustriert und einfach im Text, ohne dabei die historische Realität zwecks Vereinfachung mit Füßen zu treten.
Mit „Naturwissenschaft für Dummies“ werden wir also verschont – eine typische Tugend angelsächsischer Sachbücher, deren oft akademisch hochkarätigen Autoren ihre Leser so ernst zu nehmen pflegen wie es sich ziemt. Zuviel sollte man trotzdem nicht erwarten. „Wildes Amerika“ ist ebenso Information wie Unterhaltung. Das sind zwei nur bedingt harmonierende Komplexe. Ein wenig flach kommt der Text manchmal doch daher. Selbst der lesende Laie würde hier und da gern mehr erfahren. Aber im Vordergrund stand der größte gemeinsame Nenner, „Wildes Amerika“ ist in erster Linie Begleitbuch einer Fernsehserie – ein Abfallprodukt, wenn man es zynisch ausdrücken möchte. Als Buch soll es den Profit für den Sender mehren, ohne allzu viel Mehrarbeit zu verursachen. Das wird ab und an ein wenig zu deutlich.
Fernsehen – das sind bewegte Bilder mit Ton, die ungleich stärker fesseln als Texte und Fotos. „Wildes Amerika“ legt kontraproduktiv einen entscheidenden Mangel des Konzepts offen. Die digitale Rekonstruktion der Eiszeit-Riesen ist nur bedingt gelungen. Bewegen sie sich – vor allem im Verbund mit realen Tieren und Urmenschen-Darstellern -, wirken sie überzeugend, auch wenn sich das Auge schon jetzt nicht wirklich täuschen lässt. Die Qualität der Software-Kreaturen lässt z. B. gegenüber den Dinosauriern des BBC-Klassikers „Im Reich der Giganten“ arg zu wünschen übrig. Plump tappen sie jederzeit als Trick erkennbar über den Bildschirm.
Gelungene Wissensvermittlung mit dicken Abstrichen
Im Buchbild erstarrt lassen sie endgültig jede Illusionskraft vermissen. Die Mammuts, Mastodons, Riesenbären, Faultiere etc. wirken wie grob gestrickte Stofftiere. Sie wurden zudem deutlich erkennbar in die Hintergrundszenerie einmontiert. Die Dimensionen stimmen manchmal, die Perspektiven nie. Das wirkt ernüchternd, zumal „Wildes Amerika“ den allzu unvorteilhaften Vergleich ermöglicht: Mehr als die Hälfte der Abbildungen zeigt noch heute lebende Eiszeittiere Nordamerikas in ihrer natürlichen Umwelt. Diese Bilder ‚stimmen‘, der Leser registriert es auf den ersten Blick. Weniger und dafür bessere Rekonstruktionen wären deshalb besser gewesen.
Ärmlich fällt das zusätzliche Informationsmaterial aus. „Wildes Amerika“ ist wie gesagt ein Begleitbuch, keine eigenständige Publikation. Der Clou sind die wieder erschaffenen Eiszeit-Getüme – der originale Untertitel („Recreating Ice-Age North America“) macht es deutlich. Doch das Buch gäbe Raum für zusätzliche, dem Medium angemessene Illustrationen: Fundstätten, Fossilien, Artefakte, Verbreitungskarten usw. Das finden wir jedoch vergleichsweise selten, denn es müsste zeit- und kostenintensiv hergestellt werden.
So ist das hier vorgestellte Amerika zwar stets wirklich wild, aber es schürft doch ein wenig zu sehr in Oberflächennähe und bleibt zu eng an der TV-Vorlage. Als erster Wegweiser in ein faszinierendes Thema ist es brauchbar, aber das definitiv vorhandene Potenzial wurde nur bedingt ausgeschöpft.
Autoren
„Wildes Amerika“ ist ein Gemeinschaftswerk der Herren Miles Barton, Nigel Bean, Stephen Dunleavy, Ian Gray und Adam White, ihres Zeichens Naturwissenschaftler, die sich nicht für die Forschung, sondern für die Vermittlung von Wissen entschieden haben, das ihre Kollegen schürfen. Das ist eine ehrenvolle und überaus wichtige Aufgabe und schafft eine Schnittstelle zwischen der Forschung und dem durchaus interessierten aber oftmals überforderten Laien.
Die fünf Autoren – auch verantwortlich für die TV-Miniserie – leisten gute Arbeit, für die sie sich nicht selbst auf die Schulter klopfen, sondern die Urheber der vorgestellten Thesen und Erkenntnisse nennen. „Wildes Amerika“ – dies sei hier abschließend noch einmal in Erinnerung gerufen – ist trotz des leichten Tons ein Schnappschuss der Forschung in vielen unterschiedlichen Zweigen, deren Ergebnisse an dieser Stelle allgemein verständlich zusammengefasst werden. Antiquarisch kann das Buch inzwischen erfreulich kostengünstig erworben werden.
Gebunden: 192 Seiten
Originaltitel: Wild New World. Recreating Ice-Age North America (London : BBC Worldwide Ltd. 2002)
Übersetzung: Thomas Seewöster
http://http://www.egmont-vg.de
Der Autor vergibt: