Christopher Priest – Der Traumarchipel. Ein Zyklus um Liebe und Krieg

Phantastische Literatur zwischen allen Stühlen

Dieses Buch umfasst einen von Übersetzer Michael Nagula herausgegebenen „Zyklus um Liebe und Krieg“ aus drei längeren Erzählungen. Eine Einleitung und ein Nachwort von Michael Nagula sowie eine Rede von Priest runden das Buch ab.

Der Autor

1943 in Cheshire/England geboren, veröffentlichte Priest 1966 seine erste Erzählung „The Run“ in dem Science Fiction-Magazin „Impulse“. In der Folge publizierte er verstärkt in „New Worlds“, jenem Magazin, das unter Michael Moorcock zum Bannerträger einer „neuen Art Science Fiction“, der sogenannten „New Wave“, werden sollte. Priest jedoch sieht nicht als Teil der New Wave, sondern als eigenständiger Autor.

1970 erschien sein erster Roman „Indoctrinaire“, der schon in der Szene aufhorchen ließ. Mit dem klassischen Katastrophenroman „Fugue for a Darkening Island“ (1972; „Die schwarze Explosion“) und dem Hard-SF-Roman „The Inverted World“ (1974, dt. als „Der steile Horizont“ bei Heyne) schrieb sich Priest in die erste Reihe der britischen Genre-Autoren.

Die zwei nächsten Romane waren eher Rückgriffe auf Bewährtes: „The Space Machine“ (1976, „Sir Williams Maschine“) lehnte sich an H.G. Wells‘ Klassiker „The Time Machine“ an. Und „A Dream of Wessex“ (1977; „Ein Traum von Wessex“, 1979) basiert auf der Idee der totalen Simulation einer Welt, die Daniel F. Galouye in „Simulacron-3“ (verfilmt als „The thirteenth Floor“ und als „Welt am Draht“) entwickelt hatte.

Hintergrund zum „Traumarchipel“

Die imaginierte Welt des „Traumarchipels“ erschuf Priest in seinem radikalen Roman „The Affirmation“ (1981; „Der weiße Raum“, 1984). Ein depressiver junger Mann zieht sich in ein einsames Landhaus zurück, um in einem Zimmer, das er den „weißen Raum“ nennt, seine fiktive Autobiografie zu schreiben. Aus London wird darin die Stadt Jethra, und die Welt besteht aus einem Archipel von Inseln, ähnlich wie Ursula Le Guins Welt „Erdsee“.

Peter Sinclair zieht in der Hauptstadt Jethra ein Lotterielos und es ist der Hauptgewinn: ewiges Leben. Es gibt nur einen Haken dabei: Der Preis bedingt den totalen Gedächtnisverlust. Die Menschen im Archipel, die Schatten seiner realen Bekannten sind, versuchen Peter sein Gedächtnis, seine Identität wiederzugeben. Wechselte Peter zunächst ständig zwischen Real- und Traumwelt, so beginnen die beiden Ebenen schließlich in Peters Wahrnehmung miteinander zu verschmelzen: aus Vernunft und Kreativität wird Wahnsinn. Bemühte er sich anfangs noch um die Wahrheit des absoluten Erkennens, so wird daraus nun ein beliebiges Spiel des Selbstbetrugs. Dazu gehört, dass er das Schreiben des Manuskripts braucht, um seine Existenz und Identität zu affirmieren, zu bestätigen und zu bekräftigen (vgl. O-Titel). Aufgrund seines totalen Realitätsverlustes bieten sich aber einem objektiven Betrachter des Manuskripts nur ein Haufen leere Seiten dar. Der Text bricht mitten im Satz ab.

Das klingt nicht wie ein gutes Omen für den hier initiierten Traumarchipel-Zyklus. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn das Konzept der imaginierten Realität ist ja in jedem erzählenden Buch, jeder fiktionalen Geschichte enthalten. Lediglich der Schauplatz ist bei Priest der gleiche: der Traumarchipel. Nur dass dieser Ähnlichkeiten zur realen Welt des 20. Jahrhunderts aufweist und so Kommentare liefert, die sich deuten und kritisieren lassen.

Für diese Erzählhaltung hat Priest den Ausdruck „Visionärer Realismus“ geprägt: „visionär“ insofern, als er radikale Ideen, die unausführbar sind, vorbringt, und realistisch, weil er sich der Erzähltechniken der Science Fiction bediene. Diese Erzählhaltung sei sowohl resümierend, was die bisherigen Werke der Science-Fiction anbelange (BEschreibend), als auch VERschreibend, insofern als es alle Einengungen des Genres durch Begriffe ablehne und vielmehr einbeziehend wirken wolle. (Diese Definition legt Priest in seiner „Verlorenen Rede eines Sohns“ (1984) dar, die in der deutschen Luchterhand-Ausgabe von „Traumarchipel“ angedruckt ist.

Die bisherigen Teile des Zyklus:

The Affirmation (1981; Der weiße Raum)
The Glamour (1984; Der schöne Schein)
The Dream Archipelago (Originalausgabe „Der Traumarchipel“, 1987 bei Luchterhand); Einzelgeschichten siehe unten.

Erzählungen, die laut Autor zum Zyklus zählen:

• Die Verneinung (The negation, 1979)
• Ein endloser Sommer (An infinite summer, in „Zielzeit“, 1985)
• Der Beobachtete (1985, in „Venice 2“)
• Die Feuerbestattung (The cremation, 1978)
• Der wundervolle Steinhügel (The miraculous cairn, 1986, dt. Erstveröffentlichung in „Der Traumarchipel“)

Der Herausgeber Michael Nagula liefert in seinem Essay „Von den Inseln im Hier und Heute – Die literarischen Welten des Christopher Priest“ eine kritische Darstellung der Werke des Autors bis zum Jahr 1984. Dabei greift er auf Fachliteratur, Rezensionen und eigene Recherchen zurück, so dass ein rundes Bild entsteht, das Priest und seine Werke in einen weiten Kontext stellt.

Inzwischen hat Priest weitere Romane und Erzählungen veröffentlicht:

• Die stille Frau (The quiet woman, 1990)
• Das Kabinett des Magiers (The prestige, 1995)
• Die Amok-Schleife (The Extremes, 1998), etc.

Die Erzählungen

• Die Verneinung (The negation, 1979)
• Die Feuerbestattung (The cremation, 1978)
• Der wundervolle Steinhügel (The miraculous cairn, 1986, dt. Erstveröffentlichung)

Die fiktive Welt des Traumarchipels entpuppt sich auf den zweiten Blick als Großbritannien. In Zeiten des Krieges versuchen die Menschen einander näher zu kommen. Doch sie werden ständig voneinander abgestoßen, obwohl ihr ganzes Streben und ihre Moral auf Selbsterkenntnis und Zuneigung ausgerichtet sind. Sie befinden sich auf einer Gratwanderung zwischen kreativer Selbstverwirklichung und Wahnsinn.

Unterm Strich

Christopher Priest hat in diesen Texten seine fiktionale Umwelt realistisch gezeichnet und doch verfremdet, um die Erkenntnis zu fördern, was hier nicht mit den Leuten stimmt. Liebe und Krieg – die zwei Pole des Daseins. Liebe als Schöpfungsimpuls, Krieg als Zerstörungsimpuls – ist dies die Summe der Vorgänge in aller Welt?

Feststeht, dass sich Priest mit diesem Zyklus in die oberste Liga der britischen Science Fiction schrieb: stilistisch brillant, lebendig und anrührend. Die Plots sind nicht so spannend und stringent wie in „Der schöne Schein“, aber das störte mich nicht.

Bemerkenswert sind die Aussagen, die Priest über das Verhältnis zwischen Science Fiction und Literatur macht. Priest dachte, als er „Der weiße Raum“ vollendete, habe er Science Fiction geschrieben, aber die Leute aus der Science Fiction sagten ihm, dass er sich irrte – und umgekehrt.

Priest saß also zwischen allen Stühlen! Dies dürfte einer der Gründe sein, warum er sich bis heute keines großen kommerziellen Erfolgs erfreuen konnte – mit einer Ausnahme: „The Prestige“ wurde von Christopher Nolan mit Christian Bale, Hugh Jackman und David Bowie verfilmt.

Taschenbuch: 159 Seiten
Originaltitel: The Dream Archipelago
Aus dem Englischen von Michael Nagula
ISBN-13: 9783472617068

Luchterhand Literaturverlag

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)