Der englische Historiker Paul Doherty, der auch unter den Pseudonymen Paul Harding, Michael Clynes, Celia L. Grace, P. C. Doherty, und Ann Dukthas Bücher verfasst, hat mit „Der gefallene Engel“ einen faszinierenden historischen Roman geschaffen, der intensiven Gebrauch von Mystik, Religion und Elementen des Vampirmythos‘ zu machen weiß. Angesiedelt ist die Geschichte des von dunklen Geheimnissen umgebenen Matthias Fitzosbert in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wobei sich der erzählerische Zeitbogen vom Fall Konstantinopels 1453 bis zu Kolumbus‘ Entdeckungsfahrt 1492 spannt. Hauptort der Handlung sind England und Schottland, die zu dieser Zeit von schweren Unruhen und Bürgerkriegen zerrissen sind.
Eigenartige Morde verunsichern die Einwohner im ländlichen Sutton Courteny in Gloucestershire, die zu diesem Zeitpunkt von den Wirren der Kriege verschont blieben und ein beschauliches Leben abseits der Machtkämpfe bestreiten. Die Umstände der Tötungen tun ihr Übriges, um für Verwirrung zu sorgen, denn den Opfern wurde offenkundig das Blut ausgesaugt, was uns natürlich direkt an Vampirgeschichten denken lässt. Aber die Konstruktion Dohertys hat hier mehr zu bieten als abgewetzte Blutsaugermythen, denn in diesem Falle steckt hinter dem unheimlichen Treiben ein Dämon, genauer gesagt der Rosendämon, einstiger Hüter der himmlischen Gärten, der gemeinsam mit Luzifer aus den Himmeln gestürzt wurde, als die Engel sich gegen Gottes Entscheidungen auflehnten. Dieser religiöse Hintergrund wird im Verlauf des Buches immer detaillierter offenbart und macht einen der Spannungspunkte der Geschichte aus. Der besagte Matthias, seines Zeichens Pfarrerssohn und damit ein gesellschaftlicher Außenseiter und Schandfleck, hegt eine geheime Freundschaft zu einem in der Nähe lebenden Eremiten, der ihn in so manches Wissen einweiht. Als der Eremit durch Intrigierung eines seltsamen Predigers mit den Morden in Verbindung gebracht und letztlich nach einem Schauprozess verbrannt wird, ist es mit der Ruhe im Dorf vorbei und ein wahres Blutbad tilgt Sutton Courteny förmlich von der Landkarte. Matthias jedoch bleibt verschont und für ihn beginnt nun eine lebenslange Odyssey auf der Suche nach sich selbst, seiner Vergangenheit, seiner Bestimmung und nach einer Lösung für all die Seltsamkeiten, die ihm beständige Begleiter sind und es ihm unmöglich machen, Ruhe zu finden.
Bis auf die drei Prologe, die sich immerhin über 40 Seiten erstrecken, begleitet der Leser während des gesamten Buches Matthias auf seiner Irrfahrt von einem Abenteuer ins nächste; es gibt keine Perspektivenwechsel oder parallele Handlungen, so dass wir bis auf diesen Prologvorsprung nicht viel mehr wissen als Matthias selbst. Das sorgt zwar für eine sehr dichte Identifizierung mit der tragischen Hauptfigur, die alles andere als heldenhaft ihr scheinbar unausweichliches Schicksal meistert, ist zugleich aber ein Stolperstein, was die Dramaturgie angeht, denn bereits nach dem ersten Drittel – bei 668 Seiten immerhin schon eine ordentliche Lesestrecke – hat man genug Hinweise, um sich die größeren Zusammenhänge und selbst den Ausgang der Geschichte denken zu können. Von da an wird das Interesse des Lesers aufrechterhalten von der Frage, in wessen Körper der Rosendämon gerade wieder steckt, um von dort aus Einfluss auf Matthias‘ Lebensgeschichte zu nehmen. Außerdem sind die Abenteuer seiner Odyssey wirklich spannend zu lesen, und nicht zuletzt faszinieren die historischen Details und bringen zugleich einen nicht zu verachtenden Bildungsfaktor in punkto Geschichte mit sich. Doherty geht als Historiker, der in Oxford promoviert hat, detailgetreu zu Werke und selbst die mystischen Begebenheiten sind zwar fiktiv in ihren Einzelheiten, bauen aber auf Überlieferungen der Chronisten auf. Die Erzählhandlung wird stets in den korrekten und sehr lebendig präsentierten historischen Rahmen eingebettet, und so begegnet der Leser gemeinsam mit Matthias den Großen jener Zeit, Königen, Feldherren, Kirchendienern, Inquisitoren, allerlei zwielichtigen und einflussreichen Gestalten und wird in ihre Intrigen und Machtränke involviert. Und da letztlich das Kernthema des Romans sich als Suche nach Zugehörigkeit, Geborgenheit und Zuneigung offenbart, kommt auch die emotionale – und nebenher erwähnte erotische – Seite beim Lesen nicht zu kurz.
Wenn man sich – wie dies auch bei so manch gelungenem Film der Fall ist – mit diesen Ansatzpunkten und der Art der Darstellung begnügen kann und nicht nur deshalb weiter liest, weil auf ein überraschendes Finale und die Enthüllung weiterer verborgener Geheimnisse gehofft wird, dann lohnen sich auch die letzten beiden Drittel von „Der gefallene Engel“ auf jeden Fall. Zusätzliche Erzählebenen und sparsamer gestreute Lösungshinweise hätten der Spannung zwar sicherlich gut getan, aber ich habe diesen Roman, der in der durchaus üblichen Tradition historischer Werke eine Mischung aus Reisebericht, Biographie und Abenteuerepos ist, dennoch sehr genossen und bin von der lebendigen und detailgetreuen Darstellung, den mystischen Verflechtungen und philosophischen Bezugspunkten beeindruckt genug, um eine Leseempfehlung für dieses gelungene Werk aussprechen zu können.