Brian Keene – Leichenfresser

Das geschieht:

Spring Grove ist ein Städtchen im neuenglischen US-Staat Pennsylvania. Wir schreiben das Jahr 1984, gerade haben die dreimonatigen Schulferien begonnen. Vor Timmy Graco, Doug Keiser und Barry Smeltzer scheint sich ein endloser Sommer zu erstrecken. Alle sind sie zwölf Jahre jung, doch die Realität hat sie bereits gezeichnet: Barrys Vater ist ein gewalttätiger Säufer, Dougs alleinstehende Mutter zwingt ihren Sohn zum Sex, und Timmys geliebter Großvater erliegt einem Herzinfarkt.

Buchstäblich unter ihren Füßen bahnt sich ein wesentlich gefährlicheres Drama an: Clark Smeltzer, Barry Vater und Friedhofswächter von Spring Grove, hat mit seinem Bagger im Suff einen alten Grabstein zerbrochen. Darunter lag durch Magie gebannt ein Ghoul gefangen. Vor mehr als einem Jahrhundert war es gelungen, die bösartige Kreatur zu bannen. Nun ist der Ghoul wieder frei, hungrig und geil. Mit Clark schließt er einen Pakt. Er bringt ihm Wertsachen aus den Gräbern, und Clark ignoriert, dass der Ghoul Gräber schändet und die Leichen frisst. Außerdem führt er der Kreatur fruchtbare Menschenfrauen zu: Der Ghoul ist einsam und will eine Großfamilie gründen.

Pfarrerstochter Karen Moore wird die erste unfreiwillige Leichenfresser-Mutter, die der Ghoul in seine unterirdische Höhle zerrt. Katie Moore glaubt nicht, dass ihre ältere Schwester mit dem örtlichen Dorfrebellen durchgebrannt ist. Zeitgleich werden Timmy, Doug und Barry darauf aufmerksam, dass es auf dem Friedhof von Spring Grove nicht mit rechten Dingen zugeht. Immer wieder versinken dort Grabsteine in der Erde. An einen Ghoul denken die Freunde allerdings nicht; sie glauben an natürliche Höhlen unter dem Ort, die sie abenteuerlustig erkunden wollen.

Der Ghoul beginnt, sich unter dem Friedhof häuslich einzurichten. Auch frisches Menschenfleisch schmeckt ihm inzwischen. Clark Smeltzer wird dagegen angst und bange: Es bleibt keineswegs unbemerkt, dass in und um Spring Grove immer mehr Menschen verschwinden. Die Polizei wird aktiv, und dann sind da Sohn Barry und seine beiden lästigen, neugierigen, aufmerksamen Freunde, die dank intensiven Comic-Konsums ahnen, was auf dem örtlichen Friedhof umgeht …

Tiefer sinken kann man nicht

Sie müssen einst etwas wirklich Übles angestellt haben, um so finster bestraft zu werden: Ghoule sind eigentlich Dämonen und als solche mit großer Macht ausgestattet, weshalb sie in der Regel gewaltigen Schaden anrichten. Doch schon als sie in der arabischen Folklore erstmals auftauchten, waren sie zu Leichenfressern degeneriert, die auf den Friedhöfen der Menschen die Rolle von Aasgeiern übernehmen mussten.

Von jeglichem 1001-Nacht-Zauber blieben Ghoule auch zukünftig weit entfernt. Sie hausen unter der Erde, wo sie es sich wie gigantische Maulwürfe in Gängen und Schlupflöchern gemütlich machen. Lebensweise und Ernährung bedingen eine optisch abstoßende Gestalt, zumal Körperhygiene nicht zu den elementaren Trieben eines Ghouls gehört. Sonnenlicht gilt es tunlichst zu meiden; das ‚reine‘ Licht beschert dem Knecht der Unterwelt ein hässliches Ende.

Faktisch steht der Ghoul noch unter dem Zombie: Der ist zwar ebenfalls ein grausig anzusehender Kannibale, doch er kann nichts für sein Schicksal, denn er hat den Verstand verloren. Der Ghoul ist bei vollem Bewusstsein ein Widerling. Sein Hirn funktioniert ausgezeichnet; unser Leichenfresser aus Spring Grove versteht sogar Fremdsprachen. Zwar ist er zu seinem Dasein verflucht, doch er hat sich im Laufe eines langen, offenbar endlosen Lebens nicht nur daran gewöhnt, sondern sogar Gefallen bzw. Geschmack daran gefunden.

Keine Geschichte für Feingeister

Nur die Einsamkeit macht unserem Ghoul zu schaffen. Doch die Natur bietet dafür eine zumindest für Horror-Autoren erfreuliche Lösung: Leichenfresser können sich mit Menschenfrauen paaren und Nachwuchs zeugen. Deshalb ist der Ghoul von Spring Grove bald vor allem damit beschäftigt, einen Harem zusammenzustellen – einer Herausforderung, der er gewachsen ist, denn zumindest Gott Priapus war ihm gnädig.

Somit steht die Richtung fest, in der sich unsere Geschichte bewegen wird. Die Mischung aus Sex, Monster und totem Fleisch bedeutet Horror der harten Art. Allerdings hält sich Keene mit schaurigen Beischlafszenen zurück; er belässt es bei Andeutungen. Der Leser darf sich zusammenreimen, was der Ghoul unter der Friedhofserde mit seinen weiblichen Opfern anstellt.

Wie sich der Leichenfresser den stets knurrenden Magen füllt, ist Keene dagegen viele detailfreudige Schilderungen wert. Wem die Zergliederung zerfallender Leichen nicht gorig genug ist, darf sich darüber hinaus über drastische Morde freuen. Der Ghoul arbeitet dabei ausschließlich mit Zähnen und Klauen, und er legt eine kindliche Freude über hoch aufspritzende Blutfontänen an den Tag.

Wer ist das Ungeheuer?

Nichtsdestotrotz ist „Leichenfresser“ trotz der Ghoul-Thematik keiner jener angeblich ‚modernen‘ Roman-Splatter, deren Verfasser Mordmetzeleien und Sex mischen bzw. gewaltpornografisch auf die Spitze zu treiben versuchen. Entweder wollen sie einfach ein entsprechend gepoltes Publikum bedienen, oder sie rennen im Kampf gegen echte oder eingebildete Tabus voller Eifer gegen Gummiwände an: Was sie zu entfesseln versuchen, lässt höchstens Tugendwächter aufheulen. Faktisch ist dieser Brachial-Horror langweilig, weil er vor allem Exzess an Exzess reiht und sich darin erschöpft.

Obwohl Keene wie gesagt in Ghoulitäten schwelgt, berücksichtigt er gleichzeitig die wichtigste Lehre des klassischen Grusels: Du sollst Figuren schaffen, die den Leser rühren. Das betrifft nicht nur diejenigen Pechvögel, die vom Übernatürlichen heimgesucht werden, sondern schließt ausdrücklich das ‚Monster‘ ein.

Schon Mary W. Shelley hatte 1818 nicht nur dem ‚Schöpfer‘ Frankenstein, sondern auch seinem Geschöpf echte Charakterzüge verliehen. Aus einer tumben Mordmaschine wurde so eine tragische Gestalt, die vor allem ein Gefangener ihres Körpers sowie menschlicher Vorurteile war. Mensch und Monster waren einander nicht fremd, sondern erschreckend nahe. Tatsächlich verkörperte dieses Monster das Böse im Menschen, und seine Gestalt spiegelte es wider. Wer ist eigentlich das Monster, fragt sich auch Timmy Graco mehrfach. Er fürchtet sich vor einem bissigen Hund und dem Ghoul, muss aber lernen, dass beide Kreaturen sind, wie sie sind, und buchstäblich nicht aus ihrer Haut können.

Der Mensch benötigt keine Monster

Das eigentliche Grauen geht stattdessen von Menschen aus. Der böse Hund wurde von seinem Herrn aufgehetzt, den Ghoul treibt sein Selbsterhaltungstrieb an. Clark Smeltzer und Doug Keisers Mutter sind schlimmer: Sie wissen, dass sie falsch handeln, und lassen dennoch nicht von ihren Kindern ab. Aus Eltern, die ihre Kinder schützen und erziehen sollten, sind heimtückische Bestien geworden. Sie sitzen ihren Opfern wesentlich fester im Nacken als der Ghoul, der an die Nacht und den Friedhof gebunden ist.

„Leichenfresser“ ist somit auch eine „Coming-of-Age“-Geschichte, wie sie beispielsweise Stephen King seit Jahrzehnten erfolgreich schreibt. Das Grauen nistet nicht nur unter dem Bett, es ist allgegenwärtig – ein schmerzhafter Lernprozess, den Keene vor allem Timmy Graco zumutet. Er ist auf den ersten Blick ein glückliches Kind mit Eltern, die sich um ihn kümmern. Doch auch hier gibt es schmerzhafte Missverständnisse. So fühlt sich Vater Graco einmal ‚verpflichtet‘, die Comic-Sammlung seines Sohnes zu zerstören, um Timmy von seinen fixen Ideen – ein Ghoul in Spring Grove! – zu ‚heilen‘. Diese Tat wirkt dank Keene ebenso grausam wie Clark Smeltzers brutale Ausraster.

Als es den Ghoul erwischt, geschieht dies nicht im Verlauf eines heroischen Kampfes. Der Verlust seiner ‚Familie‘ treibt die einsame Kreatur an die Oberfläche. Die wahren Monster überleben. In einem deprimierenden Epilog lässt Keene Timmy Graco viele Jahre nach dem Kampf mit dem Ghoul nach Spring Grove zurückkehren. Die ‚lebenslangen‘ Freundschaften der Kindheit sind sämtlich zerbrochen, und Barry Smeltzer ist zum Ebenbild seines Vaters herabgesunken.

Keene trägt in seinen Kindheitserinnerungen manchmal sehr zu auf. Der Ghoul benimmt sich und spricht wie ein TV-Krimi-Drogendealer. Oft wird Keene didaktisch; wenn er uns etwas verdeutlichen möchte, schwebt der erhobene Zeigefinger über den Zeilen. Stephen King (oder Dan Simmons) bewegen sich auf diesem Terrain wesentlich eleganter. Dennoch gehört „Leichenfresser“ zu den besseren Romanen des Vielschreibers Keene. Er weckt Gefühle, ohne sentimental zu werden: die ideale Mischung, um eine ansonsten spannende Gruselgeschichte mit Leben zu füllen, obwohl sie auf einem Friedhof spielt.

Autor

Brian Keene (geboren 1967) wuchs in den US-Staaten Pennsylvania und West Virginia auf; viele seiner Romane und Geschichten spielen hier und profitieren von seiner Ortkenntnis. Nach der High School ging Keene zur U.S. Navy, wo er als Radiomoderator diente. Nach Ende seiner Dienstzeit versuchte er sich – keine Biografie eines Schriftstellers kommt anscheinend ohne diese Irrfahrt aus – u. a. als Truckfahrer, Dockarbeiter, Diskjockey, Handelsvertreter, Wachmann usw., bevor er als Schriftsteller im Bereich der Phantastik erfolgreich wurde.

Schon für seinen ersten Roman – „The Rising“ (2003), ein schwungvoll-rabiates Zombie-Garn – wurde Keene mit einem „Bram Stoker Award“ ausgezeichnet. Ein erstes Mal hatte er diesen Preis schon zwei Jahre zuvor für das Sachbuch „Jobs In Hell“ erhalten. Für seine Romane und Kurzgeschichten, ist Keene seitdem noch mehrfach prämiert worden. Sein ohnehin hoher Ausstoß nimmt immer noch zu. Darüber hinaus liefert er Scripts für Comics nach seinen Werken. Außerdem ist Keene in der Horror-Fanszene sehr aktiv. Sein Blog „Hail Saten“ gilt als bester seiner Art; die Einträge wurden in bisher drei Bänden in Buchform veröffentlicht.

Brian Keene hat natürlich eine Website, die sehr ausführlich über sein Werk und seine Auftritte auf Lesereisen informiert. Über den Privatmann erfährt man allerdings nichts; es gibt nicht einmal die obligatorische Kurzbiografie.

Taschenbuch: 397 Seiten
Originaltitel: Ghoul (Portland/Oregon : Deadite Press/Eraserhead Press 2011)
Übersetzung: Michael Krug
Cover: Shutterstock.com
www.festa-verlag.de

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