Neil Gaiman wandelt mit einer gewissen Vielseitigkeit durch die literarische Welt. Bekannt wurde Gaiman zunächst einmal als Autor der vielgepriesenen Comicreihe „Sandman“ (immerhin die meistausgezeichnete Comicreihe der Welt), bevor er sich als Romanautor einen Namen machte. Sein Roman „Niemalsland“ wurde als TV-Serie von der BBC verfilmt, das Buch „Ein gutes Omen“ schrieb er in Zusammenarbeit mit Terry Pratchett und seinem guten Freund Douglas Adams widmete er die Biographie [„Keine Panik!“. 1363 Über Gaimans literarische Vorlieben sagt dieser grobe Überblick schon so einiges aus. Ein wenig fantastisch, ein wenig skurril und auf seine ganz eigene Art immer liebenswürdig erzählt.
In dieser Tradition steht auch „American Gods“. Keine blütenreine Fantasy, sondern ein Mix mit vielerlei Einflüssen. Eine Prise Thriller, ein Schuss Fantastik, abgeschmeckt mit einer großen Portion Roadmovie. Das ist die Mischung, die Neil Gaiman mit „American Gods“ auffährt.
Erzählt wird die Geschichte von Shadow, dem nach drei Jahren Gefängnis die Haftentlassung bevorsteht. Das Leben in Freiheit hatte er sich allerdings ein wenig anders vorgestellt, denn am Tag vor der Entlassung verunglückt Ehefrau Laura mit seinem besten Freund Robbie auf etwas pikante Art tödlich. Shadow steht damit vor dem Nichts. Mit Robbies Dahinscheiden ist auch Shadows Job als Fitnesstrainer in dessen Fitnessstudio weg und mit Lauras Tod scheint ihn ganz allgemein das Glück verlassen zu haben.
Unter recht merkwürdigen Umständen trifft er in dieser Situation einen älteren Herrn namens Wednesday, der ihm recht aufdringlich einen Job als Chauffeur anbietet. Mangels Alternativen und nach anfänglichem Widerwillen nimmt Shadow das Angebot an und stürzt sich damit in eine Reihe ereignisreicher Monate. Wednesday entpuppt sich als der mythische Allvater Odin, der zusammen mit Shadow kreuz und quer durch die USA zieht, um hinter sich die dort versammelten Gottheiten für eine letzte Schlacht zu gewinnen. Gegner sind die modernen Götter des Fernsehens, des Internets und der Technologie. Ein Sturm zieht herauf, der alles zu verändern droht und mittendrin in dieser Götterdämmerung steht Shadow …
In epischem Format breitet Gaiman die Geschichte vor dem Leser aus. Gemächlich baut er die Handlung auf, führt Götter und Hauptfiguren ein und webt einen kontinuierlich aufwärts strebenden Spannungsbogen. „American Gods“ ist schon ein recht dicker Brocken geworden, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat.
Besonders intensiv begleitet Gaiman seinen Protagonisten Shadow, angefangen von dessen letzten Stunden in Haft. Shadow ist eine durchweg sympathische Hauptfigur, die auf den ersten Blick manchmal ein wenig naiv wirken mag, sich aber bei näherer Betrachtung durch eine gewisse Bauernschläue auszeichnet. Shadow ist gerissener und cleverer, als man es ihm im ersten Moment zutraut, behält aber den ganzen Roman über ein recht hohes Maß an Bodenständigkeit, was in Anbetracht seiner Erlebnisse beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.
So kurios die Dinge auch sein mögen, die Shadow passieren, er nimmt das alles relativ gelassen. Und Shadow hat so einiges mehr an merkwürdige Dingen zu ertragen. Immer wieder wird er von sonderbaren Träumen geplagt, deren Bedeutung sich erst im Laufe des Buches herauskristallisiert. Seine verschiedene Ehefrau Laura stattet ihm, etwas blass um die Nase zwar, aber scheinbar lebend, bzw. zumindest nicht so richtig tot, immer wieder Besuche ab. Seine Arbeit für den Allvater Odin mag da schon fast als natürlich erscheinen.
Zusammen mit Wednesday begibt sich Shadow auf eine Reise kreuz und quer durch die USA, auf der er seltsame Erfahrungen sammelt und den sonderbarsten Gottheiten begegnet. Das Auftreten der unterschiedlichsten Gottheiten ist dabei eine unverkennbare Stärke des Romans. Gaiman zeigt, wie diese Gottheiten, die aus allen Teilen der Welt stammen, in der realen Welt leben. Von der Menschheit nicht mehr beachtet und nicht mehr geehrt, fristen sie teilweise ein recht trostloses, geradezu menschliches Dasein in den USA. So haust beispielsweise der slawische Gott Tschernobog als pensionierter Schlachthofangestellter in Chicago, während die hübsche Bilquis, ehemals die Königin von Saba, sich ihren Unterhalt als Prostituierte verdient. Gaiman skizziert allerlei skurrile Portraits, so dass die Zeichnung der Figuren in jedem Fall ihren Reiz hat. Gaiman wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy und bekannten Mythen und spinnt daraus eine ganz eigene, reizvolle Geschichte. Damit der Leser zwischen den vielen Figuren und Gottheiten nicht den Überblick verliert, gibt es obendrein am Ende ein Götter-Glossar.
Die Handlung selbst überzeugt dabei je nach Ausprägung unterschiedlich. Gaiman arbeitet sich durch einen recht komplexen Stoff, mit vielen Haupt- und Nebenfiguren, und manchmal erweckt der Roman ein wenig den Anschein, als würde er sich dabei verzetteln. Immer wieder schiebt er neue Handlungsstränge ein, setzt zu Zwischenspielen an und lässt seine Figuren auf unterschiedlichen Handlungsebenen agieren. Das hat zwar durchaus seinen Reiz, ist aber manchmal etwas viel des Guten, denn nicht immer wird dabei die Geschichte so konsequent weitergeführt, wie man es sich als Leser wünschen möchte.
So schleichen sich an manchen Stellen kleinere Längen ein, die Spannung sackt ein wenig ab und die Atmosphäre wirkt nicht mehr so dicht, wie sie noch an anderen Stellen erscheint. Auch die Auflösung überzeugt dabei nicht bis ins Detail. Ein wenig plötzlich kommt das Ende und in Teilen auch ein wenig aus dem Nichts. Dadurch bedingt, legt man das Buch am Ende zwar insgesamt zufrieden beiseite, aber dennoch auch mit einem leichten Stirnrunzeln. Die letzten Zweifel an der logischen Zusammenführung der Handlung kann das Ende leider nicht ausräumen, wenngleich es sich durchaus spannend liest.
Deutliche Stärken zeigt der Roman allerdings immer dann, wenn er sich auf Shadow als Hauptfigur konzentriert. Shadows Teil der Reise, den er alleine bestreitet, sein zeitweiliges Leben in der Abgeschiedenheit des eingeschneiten Ortes Lakeside, seine Zeit im Hause der Bestattungsunternehmer Ibis und Jacquel (ihrerseits ebenfalls in die Jahre gekommene Gottheiten) – das sind die Teile der Geschichte, die erzählerisch am meisten zu überzeugen vermögen.
Ansonsten ist „American Gods“ ein Roman, in den sich obendrein sehr viel hineininterpretieren lässt. Der Kontrast zwischen den Göttern der alten Welt und ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit und den neuen Göttern der Menschheit hat einen gewissen Reiz. Fortschritt trifft auf alte Mythen, Tradition trifft auf Moderne und das alles in einem Land, das für sich genommen noch recht jung ist und welches das Bewusstsein für die eigenen Wurzeln oft vermissen lässt. In diesem Aspekt steckt schon ein gewisser Symbolcharakter, der sich sicherlich auch als Kritik verstehen lässt. Gaimans Roman bekommt durch solche Denkansätze mehr Tiefe, als man auf den ersten Blick vermuten mag.
Doch darüber hinaus weiß Gaiman obendrein zu unterhalten. Es ist die Mischung, die den Reiz ausmacht. Einerseits die mythenbehafteten Figuren, in einer Welt´, der es zunehmend an Mythen mangelt, andererseits aber auch eine sehr ausgeprägte Ader für das Skurrile und mitunter Komische. „American Gods“ ist eine durchaus vielschichtige Mischung, die man mit Vergnügen lesen mag. Gaimans Stil liest sich ganz locker runter, seine Art zu erzählen ist für sich genommen schon recht unterhaltsam, auch wenn die Übersetzung in manchen Punkten ein wenig steif wirken mag.
Kurzum, „American Gods“ ist sicherlich Neil Gaimans bislang komplexester Roman. Schön zu lesen, unterhaltsam und mit zunehmender Seitenzahl obendrein spannend, ist „American Gods“ ein Roman, der ganz eigenwillig auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy, Mythologie, Roadmovie und Thriller wandelt. Gaiman fährt skurrile und liebenswerte Figuren auf, erzählt schräge und komische Geschichten und fasst das Ganze in einen größtenteils überzeugenden Rahmen. Dass die Handlung manchmal ruhig etwas straffer und logisch nachvollziehbarer verlaufen dürfte und die Geschichte nicht immer mit der letzten Konsequenz erzählt wird, sind zwar kleine Schönheitsfehler, aber mit denen lässt es sich durchaus leben.
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