_Auf den Hund gekommen_
Kurz vor Weihnachten erreicht Hanne Wilhelmsen die Schreckensnachricht, dass vier Leichen gefunden worden sind, die von Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen durchlöchert wurden. Ihr Urlaub muss folglich erst einmal verschoben werden und auch an ruhige Feiertage ist selbstverständlich nicht zu denken. Drei der Opfer zählen zur reichen Familie Stahlberg, doch das vierte Opfer gibt der Polizei Rätsel auf; zunächst ist seine Identität unklar, doch auch als Knut Sidensvans als viertes Mordopfer identifiziert ist, fehlt sämtlicher Zusammenhang zur Familie Stahlberg. Erschwerend für die Ermittlungen kommt hinzu, dass ein Hund zuerst am Tatort gewesen ist und sich dort an den Leichen gütlich getan hat. Viele Spuren sind dadurch verwischt worden.
Dennoch zeichnet sich schnell ab, dass Familie Stahlberg einiges zu verbergen hat. Das Familienoberhaupt Hermann Stahlberg und seine Ehefrau Tutta sind ermordet worden, sowie der älteste Sohn Preben. Zurück bleiben die Kinder Carl-Christian und Hermine, die beide mehr zu wissen scheinen, als sie zugeben wollen. Zudem besitzt Carl-Christian einen Waffenschein und hatte sich offensichtlich mit seinem Vater überworfen. Hermine dagegen hat zwar ein Drogenproblem, scheint aber dennoch von ihren Eltern bevorzugt worden zu sein. Billy T. findet über zweideutige Kontakte im Osloer Untergrund heraus, dass Hermine illegal Waffen gekauft und sich in den letzten Wochen seltsam benommen hat. Auch die Alibis der beiden Stahlbergkinder sind mehr als dünn, sodass der Schluss nahe liegt, dass eine Familientragödie aufzuklären ist.
Doch Hanne Wilhelmsen will sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und bemüht sich, mehr über das vierte Opfer herauszufinden, das ihrer Meinung nach nicht nur zufällig in das Familiendrama geschlittert ist, sondern eine wichtige Rolle spielen könnte. Dennoch macht sich Hanne mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden keine Freunde. Am Ende steht aber allen Beteiligten eine große Überraschung bevor …
_Interessant und überraschend, aber konstruiert_
In einer Art Prolog begleiten wir einen herumstreunenden Hund bei seinem blutigen Leichenfund, der für das ausgehungerte Tier ein wahres Festmahl darstellt. Gleich darauf beginnen auch schon die Ermittlungen, als Billy T. spätabends seine Kollegin Hanne Wilhelmsen zum Tatort beruft, obwohl diese kurz vor ihrem wohlverdienten Weihnachtsurlaub steht. Der begangene Mord ist grausam, doch verdichten sich die Hinweise schnell zu einem konkreten Tatverdacht, denn es ist offensichtlich, dass Carl-Christian und auch Hermine Stahlberg einiges zu verbergen haben. Beide lügen und können kein entlastendes Alibi vorweisen.
Wie nach einem Rettungsanker greifen die Polizisten dankbar diese Verdachtsmomente auf, um ihre Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen zu können. Der Mord hat viel Aufsehen erregt, außerdem sind die Beamten urlaubsreif und übermüdet, sodass man es ihnen fast nachsehen kann, dass sie viele Hinweise nicht hinterfragen, sondern sich nur noch in eine Richtung fortbewegen.
Dem gegenüber steht allein Hanne Wilhelmsen, die zwar auch nicht so recht an die Unschuld der Stahlbergkinder glauben kann, da diese sich immer mehr in Lügen verstricken, doch Hanne möchte sicher sein und die Verbindung Knut Sidensvans zur einflussreichen Familie Stahlberg herausfinden. Dennoch entwickelt der Kriminalfall sich relativ einseitig weiter, es wird kaum in andere Richtungen ermittelt und für den Leser zeichnet sich auch kein anderer Tatverdächtiger ab. Erst mit Kenntnis der Auflösung bemerkt der Leser, dass Anne Holt ganz unbemerkt zwischendurch Hinweise eingeflochten hat, die sehr wohl einen weiteren Verdächtigen bemerkbar machen. Diese Andeutungen sind allerdings so geschickt eingestreut, dass ich sie überlesen hatte und am Ende von der Autorin überrascht wurde. Um sich das ganze Lesevergnügen zu erhalten, empfehle ich, die Inhaltsangabe auf Seite 2 nicht zu lesen, da hier ein wenig vorgegriffen wird.
Trotz alledem war ich mit der Auflösung am Ende nicht vollauf zufrieden; es war klar, dass Anne Holt noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde und am Ende nichts so ist, wie es scheint, allerdings kam mir das Buchende künstlich konstruiert vor. Obwohl zwischendurch kleine Hinweise eingeflochten waren, fiel der wahre Schuldige vom Himmel und auch die Hintergründe des Mordes und der Tatablauf scheinen nicht sonderlich realistisch, zu viele Zufälle kommen hier zusammen. Hier schießt Anne Holt in ihrem Wunsch, ihre Leser zu überraschen, meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus.
_Personalien_
„Die Wahrheit dahinter“ ist ein weiterer Krimi aus der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, der mit einem kleinen zeitlichen Bruch nach „Das letzte Mahl“ die Serie fortsetzt. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dringend dazu raten, die Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen, um der personellen Weiterentwicklung folgen zu können. Anne Holt verwendet viel Zeit darauf, um ihre handelnden Figuren näher vorzustellen; so erfahren wir in diesem Buch, dass Hanne Wilhelmsen nach dem Tod ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Cecilie eine wohlhabende Frau namens Nefis geheiratet hat. Die beiden leben zusammen mit ihrer skurrilen Haushälterin Marry in einer schönen Wohnung und auch Nefis äußert mehr als deutlich den Wunsch nach einem Kind. So sind auch in dieser Beziehung die Streitereien vorprogrammiert, denn in dieser Hinsicht ist Hanne Wilhelmsen uneinsichtig wie eh und je. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, konnte sie ihre traurige Kindheit noch nicht überwinden und mag auch nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen.
Eine weitere wichtige Figur ist Billy T., der mit der Frau seines fünften Kindes zusammenlebt, aber permanent unter Geldmangel leidet, weil er vier Exfreundinnen Alimente für die gemeinsamen Kinder zahlen muss. Auch seine Verbindung zu dubiosen Osloer Kreisen sind noch nicht eingeschlafen; so liefert Billy T. entscheidende Hinweise zur Auflösung des Mordfalles. Während Billy T. in den vorigen Romanen Hannes einziger Vertrauter war und er allein wusste, dass seine Kollegin lesbisch ist, distanziert sich Hanne in diesem Buch mehr denn je von Billy T.
Doch auch die Stahlbergkinder bekommen viel Raum in der Erzählung. Anne Holt stellt ausführlich Hermine und ihre Drogenprobleme vor, aber auch Carl-Christian und seine Ehefrau Mabelle finden Erwähnung. Die Autorin versucht hier bemüht, alle Charaktere nahezu gleichwertig zu behandeln; wir begleiten fast alle Personen in ihr Privatleben und lesen über ihre Gedanken und Handlungen. Allerdings franst die Erzählung dadurch so sehr aus, dass man den Gedankengängen der Autorin kaum folgen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Anne Holt sich auf drei oder vier Figuren konzentriert hätte, nicht jeder Charakter kann gleichwertig vorgestellt werden, ohne die Leser zu verwirren. Durch die vielen Charakterisierungen gerät leider die Erzählung ins Stocken, da es inhaltlich nur wenig vorangeht. Schade – eine gute Figurenzeichnung trägt zwar zum Lesegenuss bei, kann aber die Freude auch trüben, wenn sie übertrieben wird.
_Am Ende siegt die Wahrheit_
Anne Holt hebt sich alleine schon durch ihre lesbische Krimiheldin deutlich von ihren Krimikollegen ab, verwendet aber so viel Zeit und Mühe, um ihre Figuren zu präsentieren, dass dringend dazu geraten ist, Holts Romane in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Sonst ist es äußerst schwierig, die vergangenen personellen Entwicklungen nachzuvollziehen. Der vorliegende Kriminalfall erscheint uns äußerst brisant; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Stahlberg sind brutal ermordet worden und stören damit die idyllischen Vorbereitungen zum verschneiten Weihnachtsfest in Oslo. Dadurch entsteht ein interessanter Gegensatz. Durch die ausschweifenden Personenbeschreibungen verliert man sich aber schnell in den unterschiedlichen Handlungssträngen und blättert ein wenig verwirrt weiter; ein roter Faden wäre hier an einigen Stellen wünschenswert gewesen. Die Auflösung erschien mir ein wenig zu unwahrscheinlich und konstruiert, sodass ein fader Nachgeschmack zurückbleibt. Dennoch versteht es Anne Holt, ihre Leser zu unterhalten und wie immer am Ende auch zu überraschen. Es sind daher nur kleine Abzüge zu vermerken, die die Lektüre dieses Buches ein wenig verkomplizieren und das Lesevergnügen trüben.