Quigley, Sheila – Lauf nach Hause

Sheila Quigleys Geschichte erinnert ein wenig an die der englischen Bestsellerautorin Joanne K. Rowling. Abgesehen vom gleichen Herkunftsland hat auch sie von Sozialhilfe gelebt, als ein Verlag das Manuskript ihres ersten Buches „Run for home“ kaufte. Allerdings ist ihre Geschichte vermutlich noch ein wenig erstaunlicher. Immerhin soll die 1948 Geborene mit fünfzehn Jahren als Analphabetin und ohne Abschluss in einer Textilfabrik gearbeitet und mit achtzehn geheiratet und vier Kinder bekommen haben. Trotz dieser eher ungewöhnlichen Lebensgeschichte schreibt sie mittlerweile Romane.

Die Geschichte spielt in dem fiktiven englischen Armenviertel Seahills Estate. Im Mittelpunkt steht die Familie der sechzehnjährigen Kerry. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, sie hat fünf Geschwister und kennt weder ihren eigenen noch deren Väter. Das Einzige, was sie am Leben hält, ist das Rennen. Sie ist sehr gut in diesem Sport und träumt davon, die nächste Meisterschaft zu gewinnen. Doch ihr Training wird jäh unterbrochen, als eines Tages ihre Schwester, die hübsche Claire, verschwindet. Sie hat die Dreizehnjährige eigentlich nicht besonders gut leiden können, doch nun fehlt sie ihr. Gemeinsam mit ihren Geschwistern macht sie sich auf die Suche, genau wie die Polizei unter der Führung der temperamentvollen Lorraine.

Die Polizei interessiert sich aber nicht nur für Claire und weitere entführte Teenagermädchen. In letzter Zeit sind immer wieder ältere Leichen ohne Köpfe aufgefunden worden und es gibt lange Zeit keine Hinweise darauf, wer die Toten oder wer sie auf dem Gewissen haben könnte. Als es schließlich erste Hinweise gibt, wird die Situation nur noch verzwickter. Es scheint, als sei die resolute Kneipenbesitzerin Mrs. Archer in den Fall verwickelt, doch an sie gibt es kein Herankommen. Oder gibt es noch eine ganz andere, nicht greifbare Person im Hintergrund, die die Geschehnisse im Seahills Estate lenkt? Was hat Kerrys Familie damit zu tun? Ist das Geheimnis von Vanessa, der Mutter, vielleicht nicht nur ein Familiengeheimnis, sondern eines, das die Ermittlungen gewaltig vorantreiben könnte?

Das Beachtenswerteste an Quigleys Debüt sind dessen dichtes Personennetzwerk sowie die herausragend ausgearbeiteten Charaktere. Kerry und Co. besitzen alle ihre ganz eigene Persönlichkeit, die die Autorin perfekt in Worte zu formen weiß. Neben einer gehörigen Ecken und Kanten stellt sie vor allem die Mentalität solcher Menschen, die in ihrem Leben nichts geschenkt bekommen, gekonnt dar. Obwohl Kerry aufgrund ihrer Kratzbürstigkeit und ihres Hangs zu derbem Vokabular nicht unbedingt die freundlichste Zeitgenossin ist, wirkt sie doch sympathisch und vor allem authentisch. Man kann gut nachvollziehen, wie das junge Mädchen zu dem geworden ist, was sie ist.

Allerdings ist Kerrys Protagonistenrolle nur eine kleine. Eine einzige Hauptperson in dem Buch auszumachen fällt schwer, da Quigley das Seelenleben beinahe jeder Person beleuchtet, indem sie aus wechselnden Perspektiven schreibt. Was anderen Büchern schadet, tut „Lauf nach Hause“ gut. Die Abwechslung sorgt für einen fantastischen Gesamtüberblick, der weder die rasante Handlung beeinträchtigt noch zu sehr in die Breite geht. Da beinahe jede Person ein Geheimnis zu verbergen hat, ist es umso interessanter, etwas von dieser Person zu erfahren. Da dies zumeist durch eine gehörige Portion Humor gewürzt wird, kommt auch der Lesespaß nicht zu kurz.

Die Handlung ist gut konstruiert und verliert ihr Ziel nie aus den Augen. Es gibt verschiedene Erzählstränge, die Quigley auf interessante und nachvollziehbare Art und Weise zusammenführt. Dabei geht so gut wie keine Spannung verloren und der Leser weiß bis zum Finale nicht, wer hinter dem Gespinst aus Verbrechen steckt. Es ist allerdings nicht so, dass die Lösung zu überraschend oder aus dem Kontext gerissen wäre. Die Autorin bettet ihre Geschichte ihn einen genau abgesteckten Rahmen, der sowohl zeitlich als auch räumlich stimmig ist.

Als ob dies noch nicht genug wäre, überzeugt auch der Schreibstil auf ganzer Linie. Zum einen schafft es die Autorin, mit einem angemessenen Wortschatz und einfachen Sätzen das Innenleben sowie die Ereignisse präzise und lebendig darzustellen. In den Dialogen nimmt sie kein Blatt vor den Mund – besonders Kerry tut sich durch ihr unflätiges Mundwerk hervor -, doch ansonsten schreibt sie auf hohem Niveau. Was zusätzlich dafür sorgt, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann, ist der unterschwellige Humor, den die Autorin einfließen lässt. Anfangs fällt er gar nicht richtig auf, doch mit der Zeit bemerkt man die Ironie und den Zynismus, die sie immer wieder einflicht. Das lockert die Geschichte unheimlich auf und sorgt an der einen oder anderen Stelle sogar für einen Lacher.

Sheila Quigley schafft das, was vielen anderen Autoren nie gelingt. Sie webt einen geradezu magischen Erzählteppich, der nicht nur überquillt vor interessanten Charakteren und einem humorvollen Schreibstil, sondern auch mit einer spannenden, dichten Handlung aufwarten kann. Das Einzige, was Quigley fehlt, ist wohl der Erfolg ihrer Landsmännin Rowling.

|Originaltitel: Run for home
Deutsch von Monica Bachler
356 Seiten, Taschenbuch|

http://www.dtv.de

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