Swanwick, Michael – Engel der Schwerkraft. Storys

_Ausgezeichnete Science-Fiction-Storys_

Michael Swanwick ist einer der besten Story-Autoren in der Science-Fiction. Aber auch mit einfallsreichen Romanen machte er auf sich aufmerksam. Mit dem Roman „Vakuumblumen“ wagte er einen sinnlichen Ausflug in den Cyberpunk, mit „Die Tochter des stählernen Drachen“ verschmolz er Fantasy- mit SF-Motiven. Swanwick ist ein sehr wandlungsfähiger Stilist mit überraschenden Einfällen.

Als 1980 die Story ‚Das Fest der heiligen Janis‘ veröffentlicht wurde, war allen Kennern des Science-Fiction-Genres klar, dass mit Michael Swanwick ein neuer Star am Himmel der amerikanischen Science-Fiction aufgetaucht war. Die meisterhafte Erzählung gelangte prompt in die Endausscheidung des begehrten |Nebula Award| und machte Appetit auf mehr von ihm. Aber der Fan musste weit umher suchen, um zu entdecken, wo Swanwick weitere Erzählungen veröffentlichte, denn die wenigsten erschienen in den üblichen Science-Fiction-Magazinen wie |Asimov’s| oder |Analog|, sondern in |Omni| oder |Interzone|.

In dieser Collection sind nun Swanwicks beste Arbeiten, die von 1980 bis 1991 erschienen, vereint – und noch dazu ausgezeichnet illustriert. Swanwick hat bis in jüngste Zeit ausgezeichnete und preisgekrönte Storys geschrieben – es lohnt sich, sie zu suchen, u. a. in der deutschen Ausgabe von |Asimov’s Science Fiction| #53.

_Die Storys_ (in der Reihenfolge ihres Abdrucks)

|Ein Wintermärchen|

Der Titel ist täuschend harmlos und erinnert ein wenig an Shakespeares gleichnamiges Stück. Das ist nur Tarnung für eine ziemlich grausige Art, Gedächtnisinhalte weiterzugeben. Ein Larl genanntes Fremdwesen erzählt, wie es das Gehirn seines ersten menschlichen Opfers verspeiste, um seine Erinnerungen zu erhalten. So erfahren die Larls, intelligente Tiere, von der Herkunft der Menschen auf ihrem Planeten und erhalten die Sprache. Das Baby der Frau, die sich opferte, brachten sie zurück und wurden dafür als Freunde von den Menschen angenommen. Einer der Larls erzählt einem Menschenkind namens Flip davon.

Die Story zeichnet sich durch mehrere Zeitebenen und nahtlose Übergänge zwischen Bewusstseinen aus. Es reicht nicht, sie nur einmal zu lesen. Und am Schluss fragte ich mich immer noch, von wem sie eigentlich erzählt wird: von einem Mann oder einem Larl?

|Das Fest der heiligen Janis|

Dies ist die Story, in der „The Rose“ sozusagen posthum noch einmal richtig lossingen darf. Man könnte sie als Swanwicks orgiastisch-psychedelische Antwort auf den unzählige Male prophezeiten Kollaps Amerikas und den anschließenden Aufstieg der Dritten Welt betrachten.

|Der blinde Minotaurus|

… ist ein Unsterblicher auf einer Menschenwelt in ferner Zukunft. Nachdem er seinen Freund, den Harlekin bei einer Gauklertruppe, aufgrund einer Hormonmanipulation getötet hatte, riss er sich zur Strafe die Augen heraus. Geblendet nimmt ihn seine Tochter an der Hand. Später, unter den Attacken junger Tunichtgute leidend, erzählt er ihr und den anderen Bürgern der Stadt, was mit ihm geschah und wie es dazu gekommen war.

|Die Seelenwanderung des Philip K.| (The transmigration of …)

Als Philip K(indred) Dick 1982 kurz vor dem Start der von seinem Werk inspirierten Filme „Blade Runner“ und „Total Recall“ verstarb, führte dies zu einigen Spekulationen. Schließlich hatte Dick eine Art göttlicher Erleuchtung durch ein Fremdwesen namens VALIS für sich reklamiert und drei Romane (eigentlich vier) darüber geschrieben. Einer davon hieß „The Transmigration of Timothy Archer“. Darauf spielt Swanwicks Story an, in der er dem Genie Dicks huldigt – eine angemessen verschrobene Story.

|Die Kirche der göttlichen Verheißung| (Covenant of souls)

Diese Story führt die politisch-militärische Entwicklung der Amtszeit von Ronald Reagan warnend zu ihrer letzten Konsequenz: Der Atomkrieg bricht aus. Dies ist jedoch nicht der Schauplatz: In der im Titel genannten Kirche finden merkwürdige Vorgänge statt. In den Kellern hat sich ein telekinetisch begabtes Mädchen, Jennifer, einquartiert. Und über dem Altar wächst ein seltsames „Ding“. Zunehmend versammeln sich Penner und Obdachlose um die Kirche und verkünden das Ende der Welt, zur Umkehr mahnend. Schließlich kommt es zur Apokalypse und die Worte des Apostels Paulus aus dem 1. Korintherbrief werden wahr: „Wir werden alle verwandelt werden.“ An diese Prophezeiung glauben eine Menge Amerikaner.

|Die Drachenlinie|

Mit ihrem Weltbestseller „Die Nebel von Avalon“ entschleierte Marion Zimmer Bradley einen patriarchalisch besetzten Urmythos des christlichen Abendlandes: die Artus-Sage. Swanwick geht noch weiter. In „Die Drachenlinie“ versuchen Merlin, der Zauberer, und Mordred, Artus‘ missratener Sohn, in unserer Gegenwart eine Zukunft für die vom Menschen zugrunde gerichtete Erde zu finden.

|Mummenkuss|

Aus dieser Geschichte ging Swanwicks Katastrophen-Roman „Die Todesschneise“ hervor, der vor Jahren bei |Heyne| erschien. Sie entstand wohl unter dem Eindruck des größten Atomkraftwerkunfalls vor Tschernobyl, nämlich in Harrisburg, Pennsylvania (der auch Michael Douglas zu seinem Film „Das China-Syndrom“ inspirierte). Hätte man die Katastrophe nicht verhindert, dann wäre die gesamte Region Pennsylvania radioaktiv verseucht worden. Bei Swanwick hat diese bizarre Situation eine interessante neue Gesellschaftsstruktur hervorgebracht.

|Das trojanische Pferd|

… bezeichnete der Sage nach eine geniale Kriegslist des Odysseus. Heutzutage versteht man darunter eine Spezies von Computerviren, die schädliche Eigenschaften besitzen. Die vom Cyberpunk inspirierte Story Swanwicks hingegen konzentriert sich auf das Herumbasteln an der Persönlichkeit und der Beinahe-Vergöttlichung des Menschen mit Hilfe seiner totalen Digitalisierung: deus digitalis! Doch Software hat ja bekanntlich so ihre Tücken …

|Schnee-Engel|

Zunächst erinnert die Handlung an „Nevada-Pass“, einen Film, in dem Charles Bronson über die Grenze nach Kanada zu fliehen versucht, aber in den Bergen gestellt wird. Sehr stimmungsvoll schildert Swanwick die Begegnung eines vor der US-Regierung flüchtenden Mannes mit einer sonderbaren jungen Frau, die einsam in einer Berghütte lebt (die Figur des Titels). Halb Mensch, halb Maschine, war sie einst eine bekannte Skirennläuferin. Doch nun ist sie schwer auf Droge. Es ist nicht leicht, mit ihr auszukommen, aber es wird zumindest eine schöne Nacht. Beide versuchen auf ihre Art, als Ausgestoßene einen Weg zu finden, der ihnen eine Zukunft verspricht.

|Der Mann, der Picasso kannte|

Ein positiv nachschwingende Künstler-Erzählung um den Meister aller Klassen: Pablo Picasso. Obwohl er bei seinen Besuchern und Studenten ob seiner groben Gemütsart gefürchtet wurde, fragt ihn der Student Weil, warum er „La belle“ mit einem orangefarbenen Nabel gemalt habe und nicht mit einem grünen. Picasso schickt den Studenten nach Madrid in den Prado, um dort El Grecos „Dächer von Toledo“ zu betrachten und dann mit einer Erkenntnis zurückzukommen. Dieser Besuch ist von Erfolg gekrönt und so könnte der Student ein großer Meister werden, doch ach! sein Vater liegt im Sterben und er muss nun die Familie ernähren. Erst als alter Mann hätte er wieder Zeit, als Bildhauer aktiv zu werden – wenn er nur Hoffnung und Zuversicht fände. Da taucht der tote Picasso auf …

|Weit-Sicht|

Eine echt ver-rückte Story! In naher Zukunft hat ein Experiment dazu geführt, dass sich das menschliche Gedächtnis nicht vorwärts in der Zeit erinnert, also akkumuliert, sondern rückwärts. Dementsprechend erzählt Swanwick die Story von John Fox rückwärts. Das erinnert uns doch sehr an den Thriller „Memento“ und das Motto „Remember the future“. Denn John Fox wird sterben, nein, er ist gestorben, in der ersten Zeile, aber zuvor hat er noch Carolyn geliebt, die ihn verraten haben wird (oder so). Jedenfalls wusste er schon ein Jahr zuvor, dass er sterben würde, denn er schrieb sich einen Warnbrief, hatte diesen Akt aber vergessen.

Vielleicht sollte man die Geschichte von hinten nach vorne lesen, um sie gänzlich zu verstehen.

|Ginungagap|

… ist das altnordische Wort für den „gähnenden Abgrund“ in der mythischen Anderswelt. Dort lauern Ungeheuer. Bei Swanwick wird eine junge Heldin mit Hilfe von Molekültransfer durch den Mahlstrom eines Schwarzen Lochs zu den Aliens am anderen Ende verfrachtet – und, wen wundert’s, mit unerwarteten Ergebnissen, aber einem guten Ende. Eine der besten Storys in diesem Band; sie wurde von Terry Carr als Jahresbest-Story anthologisiert.

|Der Rand der Welt|

Diese Erzählung erhielt 1990 den |Theodore Sturgeon Award| für die beste Kurzgeschichte des Jahres. Der Titel ist wörtlich zu nehmen: Donna, Piggy und Russ, lauter Soldatenkinder, leben auf einem Army-Stützpunkt irgendwo in den arabischen Emiraten, und eines langweiligen Tages beschließen sie, zum Rand der Welt zu gehen. Dahinter kommt nur der Himmel – und eine Treppe. Die zwei Jugendlichen folgen dem verrückten Punk Russ die elend lange Treppe hinunter, aber weil Donna in Russ verliebt ist und Piggy in Russ seinen Anführer sieht, folgen sie ihm. Unten, nach all dem Müll der Touristen, wartet ein mystischer Tempel aus uralter Zeit auf sie. Hier sollen einst Mönche Wünsche erfüllt haben. Nach einiger Zeit gehen Donna und Piggy wieder zurück. „Russ? Wer ist Russ?“ fragt Piggy. Und selbst Donna kann sich kaum an einen gewissen Russ erinnern, der sich wünschte, er wäre nie geboren worden …

_Mein Eindruck_

Dieser Band bietet einen lohnenswerten Querschnitt durch das Werk eines Meisters der kurzen Form. Es erlaubt zuweilen die nostalgische Rückschau auf Motive und Moden (Cyberpunk etc.) der Science-Fiction der achtziger Jahre.

Von allen Zeitgeistereien mal abgesehen, gelangen Swanwick zeitlos gute, eindringliche Geschichten, die die sich wandelnden Bedingungen menschlicher Existenz beleuchten – man denke nur an die Durchquerung eines Schwarzen Loches oder die Reise durch eine radioaktive Todeszone.

Auffällig ist jedoch bei einer Betrachtung des Themas der meisten Erzählungen, dass sie ein mystisches oder spirituelles, wenn nicht sogar ein religiöses Zentrum besitzen, um das sich die Handlung oder die Gedanken der Protagonisten drehen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zum krassen Materialismus einer Zeit, die sich durch skrupellosen Kapitalismus wie auch durch eine Expansion des militärisch-industriellen Komplexes unter Reagan und Thatcher auszeichnete.

Insofern hat(te) der Autor den Finger am Puls der Zeit, wenn er unsere verborgenen bzw. überdeckten Ängste auslotet und in Bilder fasst. Er beschreibt seine Eindrücke mit eigenständiger Vorstellungskraft und andauernder Sympathie für den Menschen, den er als weitaus komplexer wahrnimmt, als es der Materialismus wahrhaben will. Die Atmosphäre jeder Geschichte nimmt den Leser sofort gefangen. Allein dies ist bereits ein Qualitätsmerkmal.

|Originaltitel: Gravity’s Angels, 1991
Aus dem US-Englischen übertragen von Norbert Stöbe|