Jörg Kleudgen – Cosmogenesis

Das geschieht:

Europäische Händler und Flüchtlinge – unter ihnen viele deutscher Herkunft – gründeten Mitte des 17. Jahrhunderts an der Ostküste Indiens in Sichtweite des Himalaja-Gebirges die Stadt Cathay. Von Anfang an war der Ort verflucht. Die Siedler haben angeblich einen dämonenbeseelten Götzen mitgebracht haben. Außerdem verärgerten sie einen ortsansässigen Zaubermeister, der die Stadt daraufhin mit einem Fluch belegte.

Tiefe Dschungel und schroffe Berge umgeben die Stadt. Der Standort ist sumpfig, das Klima feucht, die Kanalisation marode, sodass immer wieder Seuchen die Bürger heimsuchen. Schon lange liegt der Handel brach. Cathay verfällt, viele Häuser stehen leer. Dekadenz greift um sich, Melancholie liegt über den vernachlässigten Straßen. Seltsame Kulte treiben ihr Unwesen, noch seltsamere Wesen streifen oft mordend durch die Nacht.

Seit einiger Zeit mehren sich die Anzeichen für eine große Krise. Irgendetwas geht in und vor allem unter Cathay in den gewaltigen Höhlen und zu dumpfen Wohnstätten ausgebauten Kanälen vor. Die Mehrheit der Bürger verharrt in Lethargie, doch immer wieder gibt es einige allzu neugierige Zeitgenossen, die hinter die Kulissen zu blicken versuchen.

Sie finden selten eine Erklärung aber stets ein unglückliches Ende. In vielen Gestalten geht das Böse in Cathay um. Verbrecher aus aller Welt fliehen vor ihren Verfolgern hierher. Risse durchziehen die Realität, durch die Kreaturen aus fremden Sphären schlüpfen. Die Stadt und ihre Bewohner scheinen dem Untergang geweiht, und über allem steht die Frage, ob es Cathay überhaupt gibt …

Ein ganz besonderer Ort

Mit der deutschen Phantastik der Gegenwart ist es oft ein Kreuz. Ihre Verfasser und Befürworter würden empört protestieren, doch das Genre wird dominiert von nur halb ausgebrütetem, plump abgekupfertem, amateurhaft geschriebenem Schmalspurhorror. Die Ausnahmen sind rar; mit „Cosmogenesis“ halten wir eine in den Händen.

Dabei sind es weniger die Geschichten, die durch Originalität auffallen. Nüchtern betrachtet präsentieren sie die alten Plots von Somnambulen, Wahnsinnigen und Besessenen. Abgerundet wird das Ganze durch Gastauftritte von Dämonen, Fabelgestalten und mysteriösen Wesen aus Zeit & Raum. Allerdings sind diese bekannten Elemente gut gemischt und variiert, so dass sie – zumal in der gewählten Kulisse – trotz der allgegenwärtigen Morbidität frisch und unterhaltsam wirken.

Doch ohne Cathay ginge gar nichts. Hier ist Jörg Kleudgen etwas Besonderes gelungen. Der Skeptiker mag einwenden, mit Cathay habe man es mit einer Trabantensiedlung der lovecraftschen Hafenstadt Innsmouth zu tun. Hier wie dort gehören Verfall, Dekadenz und der gotteslästerliche Umgang mit eher unmenschlichen Zeitgenossen zur Tagesordnung.

Innsmouth ist indes von H. P. Lovecraft als ‚reale‘ Stadt geschaffen worden, auch wenn man sie auf einer Landkarte nicht finden wird. Cathay ist ein weitaus komplexeres Gebilde – weniger ein Ort, sondern ein Zustand, eine Geisteshaltung, eine Stimmung. Obwohl Kleudgen sogar eine detaillierte Gründungschronik entwirft, erweist diese sich im Handlungsverlauf als trügerisch.

Kein Heim, sondern eine Stätte der Heimsuchung

Für eine Reise nach Cathay gibt es keine Rückfahrkarte. Wer kommt, der bleibt – freiwillig oder nicht. Der normale Ablauf der Zeit ist in Cathay aufgehoben. Die Außenwelt bleibt ausgesperrt. Nicht nur die Abgelegenheit der Stadt in einer dicht bewaldeten, von Bergen durchzogenen Region ist die Ursache. Es gibt zusätzlich eine Barriere, die Cathay vom alltäglichen Universum trennt. Die Stadt wirkt wie im frühen 19. Jahrhundert eingefroren, während es andererseits Kraftfahrzeuge, Telefone oder Elektrizität gibt.

Für diese und weitere Widersprüche deutet Kleudgen verschiedene Lösungen an. Im Finale lüftet er schließlich das Rätsel. Cathay ist ein in sich ruhendes Mysterium, das Hirngespinst eines Wahnsinnigen, ein toter Arm auf dem Strom der Zeit. Cathay hat es niemals gegeben, Cathay existiert in einer Parallelwelt, Cathay ist überall, wo wir es sehen wollen.

Natürlich gibt die Bruchstückhaftigkeit des Werks Anlass zur Kritik. Man könnte argumentieren, der Verfasser drücke sich um eine zentrale Handlung herum, weil er außerstande ist, sich eine einfallen zu lassen. „Cosmogenesis“ ist harte Kost für den Liebhaber lieber handfesten Grusels. In der vagen Ziellosigkeit der Cathay-Geschichten liegt freilich ihr besonderer Reiz. Kleudgen erklärt nicht zu Tode, er erzählt und gibt Hinweise, überlässt jedoch letztlich den Lesern die Interpretation. Deshalb ergibt „Cosmogenesis“ auch keine stringente Handlung, sondern zerfällt in einzelne Storys und Fragmente: Cathay entzieht sich einer Erklärung, lässt sich nur bruchstückhaft wahrnehmen.

Stadt und Werk im Wandel

Folgerichtig ist die „Cosmogenesis“ nicht nur unvollständig, sondern darüber hinaus im steten Wandel begriffen. Kleudgen streicht für diese überarbeitete Neuauflage – eine erste Fassung erschien im Selbstverlag des Verfassers – alte Episoden und fügt neue hinzu. Cathay-Geschichten erzählt er auch in den Songtexten seiner Gothic-Rockband „The House of Usher“, von denen er einige wiederum zu Storys umgeschrieben hat, die in die „Cosmogenesis“-Ausgabe des Blitz-Verlags Eingang fanden.

Das Experiment „Cosmogenesis“ gelingt auch deshalb, weil Kleudgen ein Autor ist, der sein Handwerk versteht bzw. mit seinem Handwerkszeug – der deutschen Sprache – umzugehen weiß. Man kann ihn im Wortgebrauch altmodisch nennen. Allerdings ist die Abwesenheit dessen, was weniger talentierte Autoren gern „geschriebene Alltagssprache“ nennen, eine gern gelesene Abwechslung: Literatur ist auch in ihrer unterhaltenden Sparte eine Symbiose aus Inhalt und Ausdruck. Insofern wird die Geschichte Cathays erst durch Kleudgens Schreibstil zur „Cosmogenesis“.

Eine gesonderte Erwähnung wert sind die Illustrationen des Textes. Mark Freier bearbeitete und verfremdete Fotos, die Jörg Kleudgen an der Atlantikküste des bretonischen Rothéneuf gemacht hat. Dort meißelte der geistliche Eremit Adolphe Julien Fouéré (1839-1910) in jahrelanger Arbeit etwa 300 Dämonenfratzen in die Felsen. Von der Witterung gezeichnet, hat sich ihr abschreckender Charakter noch verschärft. Als Hintergrund zur „Cosmogenesis“ erfüllen die Bilder einen wichtigen Zweck, denn sie visualisieren die lauernde Bedrohung, die so typisch für Cathay ist.

Seltsamer Ort mit entsprechenden Einwohnern

Die Absonderlichkeit der Bürgerschaft wurde bereits erwähnt. Sie haben sich in ihrem selbst gewählten Exil eingelebt, ohne zufrieden oder gar glücklich zu sein. Neuankömmlinge haben in der Regel gute Gründe die ‘normale’ Welt zu fliehen. Neben Teufelsanbetern, Altnazis, Serienmördern und gefährlichen Irren bilden die Ich-Erzähler der “Cosmogenesis” eine eigene Gruppe. Sie gehören in ihrer Mehrzahl zu den Kindern Bethanys, eines nie identifizierten, nur äußerlich menschlichen Mischwesens, dessen bizarres Schicksal Kleudgen in der gleichnamigen Erzählung dokumentiert. (Aus dem Text geht dies nicht klar hervor, wird aber im ausführlichen und informativen Nachwort von Uwe Voehl erläutert.)

Als Erbe einer unbestimmbaren biologischen Abstammung bleiben sie gesellschaftliche Außenseiter, die von Visionen und Blackouts heimgesucht werden. Cathay zieht sie an wie das Feuer die Motten – und so enden sie auch, denn die Neugier wird ihr Verderben. Von ihrer unnatürlichen Einfühlsamkeit verleitet, lassen sie sich zu tief in das Geschehen unter der Oberfläche Cathays ziehen.

Eine (wichtige) Nebenrolle spielen die Ureinwohner jenes Landstrichs, auf dem Cathay entstand. Sie bildeten schon vor Ankunft der europäischen Siedler ein isoliertes, mutiertes, mürrisches Volk, das von Zaubermeistern gegängelt wurde. Die Neuankömmlinge betrachteten sie als Menschen zweiter Klasse und zwangen sie unter ihre Knute. Bis in die Gegenwart betrachten beide Gruppen einander mit Abscheu und Misstrauen. Die Ind(ian)er haben sich in der Kanalisation von Cathay einquartiert und diese in unbekannt bleibendem Umfang ausgebaut. Sie können sich praktisch unbemerkt und unkontrollierbar unter der Stadt bewegen und an die Oberfläche kommen, was die Angst der ‚weißen‘ Bürger schürt. Außerdem pflegen sie offenbar Umgang mit Kreaturen, die zwar intelligent aber ganz sicher nicht menschlich sind.

In der Charakterisierung seiner Figuren leistet abermals Kleudgen hervorragende Arbeit. Unter seinen Protagonisten findet sich keiner, der Sympathie für sich und sein meist trauriges Schicksal wecken könnte. Die innere Zerrissenheit dieser Personen, die sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten und unbeantworteten Fragen quälen, weiß der Verfasser mit der schon angesprochenen Virtuosität in Worte zu fassen. Er komplettiert damit ein Werk, das Niveau mit Unterhaltsamkeit verbindet und schön gestaltet wurde. Es muss gar nicht immer Phantastik aus dem Ausland sein; es gibt auch in diesem unseren Lande Autoren, die ihren Job beherrschen!

Autor

Jörg Kleudgen (auch Bartscher-Kleudgen), geboren 1968, begann bereits während eines Architekturstudiums als Schriftsteller und Musiker zu arbeiten. Storys erschienen in diversen Anthologien, Romane zunächst im Eigenverlag „Goblin Press“. Kleudgens Interesse für eher dunkle Orte schlug sich 2002 in einem Beitrag zur Reihe „Die Schwarzen Führer“ des Eulen-Verlags, nieder, zu dem der Autor den Band „Eifel-Mosel“ als Reiseführer zu sagenumwobenen Stätten beisteuerte.

1990 war Kleudgen ein Mitbegründer der in ihrer Szene renommierten Band „The House of Usher“, die fünf Alben und einige Singles im klassischen Gothic-Rockstil veröffentlichte und weltweit auf einschlägigen Festivals auftrat. Kleudgens Musik und seine Texte stehen nicht selten in einer gewollten Wechselwirkung; sie ergänzen und verstärken einander, was ihre Rezeption nicht einfach macht aber zu einer reizvollen Herausforderung werden lässt.

Paperback: 335 Seiten
Cover u. Innenillustrationen: Mark Freier
http://www.blitz-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar