E. C. R. Lorac – Stille Wasser

lorac-stille-wasser-cover-1958-kleinEine abgelegene Landidylle entpuppt sich als Stätte diverser krimineller Umtriebe, in denen ein Scotland-Yard-Beamter und ein etwas übereifriger Hobby-Detektiv parallel ermitteln, was zu diversen Missverständnisse führt … – Rätselkrimi aus der langen Endphase dieses Subgenres: Alle Elemente sind ebenso spannend wie humorvoll vertreten, was diesem Roman trotz der veralteten Übersetzung seinen Lektürespaß bewahrt.

Das geschieht:

Lunesdale ist ein Distrikt der mittelenglischen Grafschaft Lancashire. An der Westküste und in Meeresnähe gelegen, ist dies eine raue aber reizvolle Region. Caroline Bourne hat den Entschluss gefasst, sich hier in der Nähe ihrer Kusine und besten Freundin Kate Hoggett niederzulassen. Die recht erfolgreiche Künstlerin ersteigert Broadgarth, eine kleine und abgelegene Farm, zu der ein ehemaliger Steinbruch gehört, der sich längst mit Wasser gefüllt hat.

Caroline bleibt wenig Zeit, sich mit der pittoresken Landschaft und ihren eigensinnigen Bewohnern anzufreunden, denn auf dem gerade erworbenen Grundstück geht Merkwürdiges vor. John Wilson – kein Ehrenmann – ärgert sich, dass ihm Caroline Broadgarth weggeschnappt hat, denn er wollte die einsame Farm für Machenschaften jener Art nutzen, die am besten ohne polizeiliche Präsenz gedeihen. Francis Rolph, ein Architekt, der die Sanierung von Broadgarth plant, wird auf einem nächtlichen Spaziergang von zwei unbekannten Männern niedergeschlagen, die offensichtlich etwas in den Steinbruch-Teich werfen wollten. Und wo ist Bauer David Wynne geblieben, der sich mit zwielichtigen Zeitgenossen eingelassen hat?

Kates Gatte Giles ist ein begeisterter Hobby-Detektiv. Da die örtliche Polizei nicht einschreiten mag, beginnt er eigene Ermittlungen. Auftrieb gibt ihm der Besuch eines alten Freundes: Chefinspektor Robert MacDonald jagt Gauner, die Luxusgüter über die Irische See und am englischen Zoll vorbei ans englische Festland schmuggeln. Er lässt sich von Giles Hoggett überzeugen, dass Seltsames auf Broadgarth vorgeht, und vermutet sogar eine Verbindung zu seinem Fall. Deshalb ist er einverstanden, dass Giles weiter ermittelt – und bringt dadurch seine Freunde in Gefahr, denn die Gauner sind ausgezeichnet organisiert. Listenreich fädeln sie einen Plan ein, die Farm doch an sich zu bringen. Für alle Fälle gibt es dort ja noch den tiefen Teich …

Die Zeiten ändern sich

Nicht zu Unrecht sagt man dem klassischen Rätselkrimi englischer Provenienz eine gewisse Weltfremdheit nach. Schon in seiner großen Zeit, die vor dem Zweiten Weltkrieg lag, blieb die Gegenwart irgendwie ausgeklammert. Der Kenner des Genres wird sicherlich Gegenbeispiele nennen können. Nichtsdestotrotz scheinen die detailfroh beschriebenen Verbrechen meist in einem luftleeren Raum außerhalb realer Alltäglichkeiten zu spielen.

Dabei ist der „Whodunit“ flexibel genug für profane Realitäten, wenn sie nur gut dosiert in die Handlung einfließen. E. C. R. Lorac hatte keine Scheu aber das Geschick, ihre Kriminalgeschichten in einem behutsam aktuell gestalteten Ambiente spielen zu lassen. „Stille Wasser“ entstand 1949 und damit nur vier Jahre nach dem oben genannten Weltkrieg. Zwar konnte sich England zu den Siegern zählen, doch der Konflikt hatte das Land hart an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Weiterhin blieben Treibstoff, Baumaterialien oder Holz rationiert, während Zigaretten und Alkohol hoch besteuert wurden. Der schwarze Markt und der Schmuggel blühten. Wer es sich leisten konnte, zahlte gern ein bisschen mehr für jenen Luxus, den es offiziell noch nicht gab.

Auch sonst ist in Lunesdale die Zeit nicht stehengeblieben. Lorac schildert eine landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft im Umbruch. Der Krieg beschleunigte diesen Prozess, der sich freilich schon zuvor abgezeichnet hatte. Wo einst die Menschen unter sich blieben und auf dem Land feste Gemeinschaften bildeten, beginnt es zu bröckeln. Die Jungen suchen ihr Glück in der Ferne, die Alten bleiben ratlos zurück. Man muss sich an Fremde und Städter gewöhnen, die gutes Land nicht beackern und ihm eine Ernte abringen wollen, sondern es wie Caroline Bourne als exotische Sommerfrische betrachten.

Spuk & Schmuggel

Wo Profit winkt, ist das Verbrechen niemals weit. Zumindest die vom Krieg geprägte Generation Lunesdaler Jungbauern will sich da nicht mehr ausschließen. Die Folgen sind tiefgreifend und werden von Inspektor Bord gegenüber dem Kollegen MacDonald laut beklagt: „Als ich zuerst bei der Polizei hier war, ist ein richtiges Verbrechen nie geschehen. Hin und wieder ein Betrunkener, ein Landstreicher, einmal ein oder zwei Diebstähle … Heute gibt es den Schwarzmarkt, Verrückte und Perverse – tja, und überall könnte dies oder jenes geschehen.“ (S. 68)

Ungeachtet einiger Übertreibungen liegt Bord damit richtig. Insofern ist an den Geschehnissen um Broadgarth eigentlich nichts Romantisches. Lorac schwelgt denn auch nicht in genretypischen Klischees, mit denen sie eher ironisch spielt; so gibt die alte Bauersfrau Mrs. Brough scharfäugig und -züngig und gar nicht naiv in Vertretung eines griechischen Chores ihre Kommentare ab. Das ‚langsame‘ Denken der Landbevölkerung ist hier nicht die Grundlage zur Schaffung treuherzig-ulkiger Randgestalten, sondern Ausdruck von Gründlichkeit.

Trotzdem gelingt es Lorac, die Form des „Cozys“, des gemütlichen Krimi-Rätsels also, zu wahren. Anfänglich scheint die Autorin ganz unterschiedliche Umtriebe zu schildern. Nach und nach schürzen sich die Ereignisse zu einem kriminellen Gesamtknoten. Die Landschaft selbst unterstützt den getragenen Rätselkrimi-Charakter. In einem Vorwort gibt Lorac Auskunft über Lunesdale, das wie die meisten anderen Handlungsorte tatsächlich existiert. Dem Leser wird deutlich, dass die Verfasserin sich mit Land & Leuten der Grafschaft Lancashire sehr gut auskennt.

Sherlock Holmes in Holzschuhen

Robert MacDonald ist ein ungewöhnlicher Ermittler. Dies liegt nicht daran, dass sein Name heute unglückliche Assoziationen an den Konsum-Clown einer großen Fastfood-Kette weckt, die 1949 in England noch gar nicht präsent war. MacDonald erstaunt durch seine Präsenz, obwohl er sich unauffällig an den Rand des Geschehens zu stellen scheint. Er gibt den Figuren um sich herum Raum – ein kluger Schachzug der Autorin, die ihren Helden vor Abnutzung und Wiederholung schützt. MacDonald bleibt meist Katalysator, kann aber sehr aktiv werden.

Er hat seinen großen Auftritt im Finale, das Lorac als actionreichen Showdown in der Dunkelheit gestaltet. Zuvor erledigt Giles Hoggett die kriminologischen Vorarbeiten; Lorac zweiteilt die zentrale Ermittlerfigur, was problemlos funktioniert. Giles nimmt den Leser durch seine offensivere Art ein. Er steht zwischen den Welten, ist gleichzeitig Landmann und Gelehrter, was ihn zum idealen Vermittler zwischen Lunesdale und der ‚Außenwelt‘ macht. Als Detektiv amüsiert durch einen gewissen Übereifer. Für voreilige und falsche Schlussfolgerungen ist vor allem er verantwortlich, während MacDonald routiniert und freundlich aber nie arrogant im Hintergrund wirkt.

Moderne Zeiten – aktive Frauen

Lorac gelingt das seltene Kunststück einer Figurenzeichnung, die weder die zeitgenössischen noch die modernen Leser vor den Kopf stößt. Gleich zwei Frauen spielen Hauptrollen, hinzu kommt allerlei weibliches Landvolk, das indes nie – es wurde schon angesprochen – drall, rotbäckig und fröhlich-dumm die Romankulisse belebt. Lorac nimmt sich die Zeit, hinter die Fassade zu blicken. Siehe da, auch Bauersfrauen haben Wünsche, Ehrgeiz und Ziele, die über das Backen möglichst schmackhaften Apfelkuchens hinausgehen …

Caroline Bourne und Kate Hoggett sind zumindest Vorbotinnen einer neuen Zeit. Caroline lebt allein und gedenkt daran nichts zu ändern. Beim Kauf der Farm lässt sie sich beraten aber nicht über sich bestimmen. Als Gefahr droht, verweigert sie es, ‚beschützt‘ zu werden, sondern ergreift selbst die Initiative. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Cousine, die zwar verheiratet ist, sich aber von ihrem Gatten nicht nur nie vorschreiben lässt, was sie zu tun oder zu lassen hatten, sondern damit auch Gehör findet. Dass sie sich auf diese Weise in Gefahr begibt, geht logisch in den Handlungsfluss einer ausgezeichnet unterhaltenden Geschichte ein, die sich für eine (neu übersetzte) Neu-Auflage laut und nachdrücklich empfiehlt!

Autorin

E. C. R. Lorac (1894-1958), geboren (bzw. verheiratet) als Edith Caroline Rivett-Carnac, muss man wohl zumindest hierzulande zu den vergessenen Autoren zählen. Dabei gehörte sie einst zwar nicht zu den immer wieder aufgelegten Königinnen (wie Agatha Christie oder Ngaio Marsh), aber doch zu den beliebten und gern gelesenen Prinzessinnen des Kriminalromans.

Spezialisiert hatte sich Lorac auf das damals wie heute beliebte Genre des (britischen) Landhaus-Thrillers, der Mord & Totschlag mit der traulichen Idylle einer versunkenen, scheinbar heilen Welt paart und daraus durchaus Funken schlägt, wenn Talent – nicht Ideen, denn beruhigende Eintönigkeit ist unabdingbar für einen gelungenen „Cozy“, wie diese Wattebausch-Krimis auch genannt werden – sich mit einem Sinn für verschrobene Charaktere paart.

Zwischen 1931 und 1958 veröffentlichte Rivet-Carnac unter ihrem Pseudonym „E. C. R. Lorac“ 49 Kriminalromane um Inspektor (später Chefinspektor) Robert Macdonald. Damit war ihr Schaffensdrang längst nicht erschöpft; um sich nicht selbst Konkurrenz zu machen, veröffentlichte Lorac unter einem zweiten Pseudonym – Carol Carnac – ähnlich fleißig weitere Krimis und als „Carol Rivett“ zwei ‚richtige‘ Romane.

Taschenbuch: 189 Seiten
Originaltitel: Still Waters (London : Collins 1949)
Übersetzung: N. N.

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