Müller, Titus – Brillenmacherin, Die

_Geschichte mit Durchblick?_

Englische Midlands im Jahre 1386:
Catherine Rowe ist die junge Ehefrau des alten Brillenmachers Elias. Ganz gegen seine Wünsche kann sie die Finger nicht von seinem Handwerk lassen und findet die richtige Brille für seinen Kunden Sir Thomas Latimer. Kurz darauf wird ihr Ehemann ermordet und das Haus der Rowes angezündet. Und dann stellt sie auch noch fest, dass sie ein Kind erwartet. Auch ihrem Bruder Alan ergeht es schlecht: Die Hand des Mädchens, das er liebt, wird ihm von ihrem Vater, Sir William Nevilles Vogt, verwehrt, sein Pachthof wird niedergebrannt und sein Pferd gestolen. Die Geschwister glauben nicht an einen Zufall und beklagen sich bei William Courtenay, dem Erzbischof von Canterbury, über Sir William Nevilles Ungerechtigkeit. Und der Erzbischof formt die beiden zu seinen Werkzeugen im Kampf gegen die „Bedeckten Ritter“, die einen Professor dabei unterstützen, die Bibel ins Englische zu übersetzen – ein Prozess, der die bestehende katholische Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern droht. So werden Catherine und Alan in ein Netz aus Intrigen verwickelt und zu Spielbällen der großen kirchlichen Gegner.
Als jedoch Catherine die Bedeckten Ritter und ihre Auftraggeber besser kennen lernt und schließlich auch den Mörder ihres Mannes erkennt, ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie auf der richtigen Seite kämpft und sie gerät mit ihrem Säugling in ein gefährliches Doppelspiel zwischen den Fronten …

_Unter die Lupe genommen_

Als Story klang das für mich vielversprechend und ist es auch. Der 1977 in Leipzig geborene Autor Titus Müller, der in Berlin nicht nur Neuere Deutsche Literatur sondern auch Mittelalterliche Geschichte studiert hat, zeigt hier eine trotz des Verwirrspiels politischer und religiöser Intrigen nachvollziehbare, gut aufgebaute Handlung, die zudem für den Leser spannend umgesetzt ist. Die sich langsam entwickelnde, stetig ansteigende Spannung, welche durch die Ermordung des Brillenmachers und die verschiedenen Loyalitäten Catherines gegenüber Bruder, Ehemann, Kind, Courtenay und Latimers entsteht, hält bis zum Ende des Buches an. Dennoch ist der Titel des Buchs irreführend – man sollte hier keinen im Handwerks-Milieu angesiedelten Mittelalterroman erwarten; das Brillenmacherhandwerk ist nicht Mittelpunkt des Romans, sondern bleibt eine relativ unbedeutende Nebensache. Auch der Klappentext lässt hier den Leser eine andere Art Geschichte vermuten, als er dann serviert bekommt. Stattdessen handelt es sich um eine Mischung aus historischem Roman und historischem Krimi.

Die Sprache ist im Wesentlichen angenehm zurückhaltend eingesetzt, aber ein wenig an die historische Handlung angepasst. Gemessen an dem doch eher schwierigen, relativ kirchlichen Thema gibt es jedoch nur wenige unerklärte Begriffe. Typisch für Müllers Schreibstil schien mir hier zu sein, dass er seine sehr kurz gehaltenen Kapitel gerne langsam mit einer poetisch anmutenden Landschaftsbeschreibung von ausgezeichneter Atmosphäre einleitet. Wenn die Handlung der einzelnen Kapitel sich entfaltet, hält sich die Sprache dann eher zurück. Die Erzählweise ist komplett in der dritten Person gehalten, die Erzählperspektive wechselt aber zwischen den einzelnen Protagonisten hin und her.

Die Charakterisierungen, insbesondere die der Hauptperson Catherine, stechen vor allem durch ihre Ambivalenz hervor. Müller folgt hier nicht den klischeehaften Vorstellungen der guten Heldin und des bösen Gegenspielers. Seine Catherine ist zwar im Grunde ihres Herzens sicherlich ein guter Mensch, begeht aber im Verlauf der Geschichte Fehler und zeigt Schwächen, die ihren Charakter menschlich und glaubhaft machen. Auch die Bösewichte folgen hier – zumindest zum Teil – nicht dem sonst leider oft so üblichen Schwarz-Weiß-Schema, sondern stellen ihr eigenes Handeln in Frage. Es handelt sich auch nicht um vollständig moderne Personen in einer historischen Umgebung. Insbesondere Catherine ist trotz ihres Wunsches, als Brillenmacherin zu arbeiten, eine Frau ihrer Zeit, keine übermächtige, immer starke Superwoman, die dem Gegner ordentlich zusetzt, sondern eine Frau voller Selbstzweifel, die ihre Taten zumeist aus einer verzweifelten Lage heraus oder durch die Intrigen der beiden gegenerischen Parteien bestimmt.

Zu bemängeln gibt es hier allerdings für mich, dass der Leser stellenweise nicht tief genug Einblick in die Hauptpersonen erhält und einige Handlungen nicht nur völlig überraschend kommen, sondern auch nicht erläutert werden. Dies verhindert nicht nur eine vollständige Glaubwürdigkeit der Geschichte, sondern kostet die Protagonisten auch einige sonst mögliche Sympathiepunkte. Auch einige Szenen setzen solcherart zu abrupt ein, ohne dass der Leser versteht, was hier vor sich geht und wie es seit dem Ende des letzten Kapitels hierzu gekommen ist.

Auch die Entdeckungen, die Catherine im Brillenhandwerk macht, erschließen sich dem Leser nicht vollständig. Hier hätte man sich generell eine deutlichere Herausarbeitung der Arbeit der mittelalterlichen Brillenmacher gewünscht. Stattdessen zeigt uns Müller eine unausgebildete junge Frau, die an einem einzigen Nachmittag Entdeckungen macht, die ihrem erfahrenen und angesehenen Mann während seiner gesamten Berufslaufbahn nicht eingefallen sind. Dass sie dann gegen Ende des Buches noch die Erfindung der „Laterna Magica“ aus der hohlen Hand zaubert, trägt auch nicht zu ihrer Glaubwürdigkeit bei.

Der kriminalistische Anteil der Geschichte ist aber gut in Szene gesetzt und spannend beschrieben. Und auch die Zeit und die religiösen Hintergründe hat Müller sehr gut herausgearbeitet und, ohne Langweile aufkommen zu lassen, in seine Geschichte eingebunden.

Einen weiteren angenehmen Ausbruch aus bestehenden Allgemeinvorgaben zeigt „Die Brillenmacherin“ und selbst die integrierte, obligatorische Liebesgeschichte aber im Bezug auf das Ende. Es gibt kein kitschiges Happy-End mit Hochzeit und Babys, kein edler Ritter in schimmernder Rüstung durchbohrt den Anführer der Bösewichte mit seinem Schwert und führt ihn seinem verdienten Ende zu. Die Liebesgeschichte ist für mich zwar nicht komplett nachvollziehbar aufgezeichnet, ist aber sehr unaufdringlich dargestellt, ohne Plattheiten und ohne die stets als nächstes erwarteten Wendungen. Insgesamt bleibt sie so (ganz anders als der Klappentext des Buches vermuten lässt, der eine komplett andere Geschichte suggeriert) eine Nebensache, die sich in die Geschichte integriert, ohne der eigentlichen Handlung den Rang abzulaufen. Die Lösung vom gegebenen Schema und die Nicht-Erfüllung einer unterschwelligen Erwartungshandlung diesbezüglich halte ich für einen der besten Punkte des Buches. Titus Müller hat es hier wirklich verstanden, mich durch seine Integrität zu überraschen und das ist mir allemal lieber als ein Friede-Freude-Eierkuchen-Ende. Zugleich suggeriert dieses Buchende, das dadurch etwas abseits der allgemeinen Erwartungshandlung liegt, aber auch, dass die Geschichte noch nicht ganz abgeschlossen sein könnte und ließ mich sofort an eine mögliche Fortsetzung des Buches denken. Und tatsächlich soll die Geschichte um Catherine Rowe fortgesetzt werden. Vielleicht kommt das von den Klischees vorgeschriebene Happy-End also doch noch.

Insgesamt hat mir „Die Brillenmacherin“ von Titus Müller gut gefallen. Die Handlung und Spannung sind gekonnt dargestellt, einige Schwächen zeigt das Buch vor allem bei den insgesamt etwas zu oberflächlich gehaltenen Charakteren. Aber ich werde den Nachfolgeroman bestimmt ebenfalls lesen.

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