Olivier Le Carrer – Atlas der Unheimlichen Orte

Der gemeine Tourist interessiert sich in der Regel für Museen, Kirchen und die besten Restaurants seines Reiseziels. Wer dem etwas Abseitigeren zugeneigt ist, besucht vielleicht auch mal einen Friedhof, eine Gruft oder ein unterirdisches Gewölbe. Und für alle, deren Abenteuerlust noch etwas weiter reicht, hat der Franzose Olivier Le Carrer einen „Atlas der Unheimlichen Orte“ verfasst, in dem er für garantiert jeden Geschmack etwas bereithält: Vom klassischen von Geistern geplagten Haus (Amityville) über einen mysteriösen Leuchtturm (Eilean Mor) bis zum menschengemachten Horror einer künstlich angelegten Müllinsel auf den Malediven (Thilafushi).

Dabei ist „Atlas“ zunächst wörtlich zu verstehen. Das bei Frederking & Thaler erschienene Buch ist zwar schmal, aber mit viel Liebe zum Detail aufgemacht. Die launig geschriebenen Texte Le Carrers werden von alten Karten illustriert und schaurig-schönen Grafiken von Schädeln und Gebeinen abgerundet. Als Leser wundert man sich vielleicht, warum nirgends Fotografien zu finden sind – schließlich könnte man dann den beschriebenen Horror einer alten Burg oder des Tals der Könige auch irgendwie visuell verorten. Andererseits wird bei der Lektüre schnell klar, warum Le Carrer offensichtlich darauf verzichtet hat: Als passionierter Segler findet er viele unheimliche Orte auf See, auf einsamen Inseln und an scheinbar unspektakulären Flecken. Wie fotografiert man das Bermudadreieck? Wie Kap Hoorn? Am besten gar nicht, denn so kann und muss der Leser seine Fantasie auf Reisen gehen lassen, wenn er Le Carrers Texte liest.

Der „Atlas“ ist ein Lese- und Blätterbuch. Er darf an jeder beliebigen Stelle aufgeschlagen und entdeckt werden. Le Carrers Texte sind kurz und knackig. Meist beginnt er, sich einem Ort zu nähern, indem er die Stimmung beschreibt, die er hervorruft, um dann dazu überzugehen, dem Leser Hintergrund und Geschichte zu präsentieren. Leider bleibt er aufgrund seiner gewählten Form oft sehr oberflächlich, und sobald man sich auf einen Ort eingestellt und eingelassen hat, geht die Fahrt auch schon weiter. Gern hätte man noch mehr erfahren … doch dazu muss man dann andere Literatur bemühen. Le Carrers Beschreibungen sind Appetithäppchen, aus denen sich jeder sein eigenes Menu zusammenstellen kann. In jedem Fall sorgt er aber für Lust auf mehr.

Dabei ist seine Auswahl eine persönliche und individuelle. Einige Klassiker, die man erwarten würde, stellt er auch vor. Vieles jedoch ist dem Durchschnittsreisenden völlig unbekannt, weil es abseits der ausgetretenen Pfade liegt. Das „Unheimliche“ kann für Le Carrer Vieles sein. Vielleicht eine Geister- oder Spukgeschichte, die mit einem Ort verknüpft ist. Vielleicht ein böser Fluch oder ein ungelöstes Rätsel. Manchmal, wie im Fall der Insel Nauru zum Beispiel, ist das Unheil menschengemacht. Oftmals jedoch liegt das Unbehagen darin begründet, dass der Mensch auf sich zurückgeworfen und den Mächten der Natur hilf- und schutzlos ausgeliefert ist – ein Gefühl, das ein Segler sicherlich zur Genüge verinnerlicht hat. So ziehen sich wie ein Refrain Erzählungen durch den Atlas, in denen Orte vom Meer verschlungen oder von Wanderdünen erdrückt werden. In seinem sicheren Heim in einer westlichen Großstadt darf sich der moderne Leser dann gern vorstellen, wie es wäre, der wilden Natur da draußen nicht entfliehen zu können. Und das ist dann der Moment, in dem ein kühler Schauer anfängt, die Wirbelsäule hinabzuperlen.

Der „Atlas der Unheimlichen Orte“ ist ein hübsches Buch, das mit den Abbildungen historischer Karten fast wie eine abwegige und geheime Schatzkarte daherkommt. Le Carrer lädt zum sanften Gruseln und neugierigen Entdecken ein. Sicher, aufgrund der sehr individuellen Auswahl wird jeder Leser die ein oder andere Beschwerde führen können: Warum wurde dieser Ort aufgenommen und jener nicht? Doch gleichzeitig lädt der Atlas damit auch dazu ein, von jedem Leser im Kopf weitergeschrieben zu werden. Wie sähe die persönliche Auswahl aus? Sollte man jemals auf eine unheimliche Weltreise gehen, welche Zwischenstopps dürfte man keineswegs auslassen? Damit lässt Le Carrer den Leser mit einem netten Gedankenspiel zurück und jeder darf seinen eigenen Atlas zusammenstellen. Denn eines ist sicher: Der „Atlas der Unheimlichen Orte“ erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Unsere Welt ist nämlich viel unheimlicher als gedacht …

Gebundenes Buch: 136 Seiten
ISBN 13: 978-3-95416184-3
Frederking & Thaler

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