Stefan Lehnberg – Durch Nacht und Wind. Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe. Aufgezeichnet von seinem Freunde Friedrich Schiller

Actionreiche, listige Sherlock-Holmes-Parodie

„Das scurrilste Ermittlerduo vor Sherlock Holmes und Dr. Watson!
Der Großherzog von N. ist zutiefst beunruhigt. Er hat einen Brief erhalten, in dem behauptet wird, dass ein Smaragdring, der sich in seinem Besitz befindet, mit einem alten Fluch beladen sey. Dieser soll unfehlbar den Tod seines Besitzers herbeiführen. Goethe und Schiller werden zur Hülfe gerufen…“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Stefan Lehnberg, geboren 1964, ist Autor der Radio-Comedy „Küss mich, Kanzler!“, die seit 2008 ununterbrochen gesendet wird. Seit Jahren ist er in der Berliner Comedy-Szene aktiv und hat als Autor für Harald Schmidt, Anke Engelke, 7 Tage 7 Köpfe, „Titanic“ u.v.a.m. gearbeitet. Sein Roman „Mein Meisterwerk“ wurde mit dem Ephraim-Kishon-Literaturpreis ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. (abgewandelte Verlagsinfo)

Handlung

Man schreibt im schönen Städtchen Jena den schneereichen März des Jahres 1797, und Friedrich Schiller, unser zuverlässiger Chronist, versucht wieder einmal vergeblich, eine Xenie oder Ballade zu dichten. Da wird er von einem Boten seines Freundes Johann Wolfgang von Goethe gestört, welcher ihn ins herzogliche Hauptstädtchen Weimar ruft: Es sei dringend.

Zusammen mit Goethe begibt er sich flugs zum Fürstenhaus, welches nach dem Brand des Schlosses 1774 als Residenz herhalten muss. Welche Demütigung, den Dienstboteneingang nehmen zu müssen! Die Treppe hoch, dann zur Herzoginmutter Anna Amalia. Schiller muss draußen vorm Salon warten, während Madame Goethe empfängt. So ein geheimer Geheimrat hat’s eben gut. Selbiger reißt urplötzlich die Tür auf, eilt die Treppe hinab und in die wartende Kutsche. Schiller saust ihm nach, und ab geht die Post.

Zwei Pistolen

Die Herzoginmutter hat den Minister Goethe mit einem geheimen Geheimauftrag betraut: Er soll auf Lustschloss Belvedere eine „hochgestellte Persönlichkeit“ besuchen. Zu Schillers Erstaunen handelt es sich um einen veritablen Fürsten. Dero Beleibtheit empfängt die beiden Herren ungemein gnädig, hält aber Schiller für Lessing und Goethe für Götz von Berlichingen. Der Großherzog von N., von abscheulichem Anblick wie weiland Kaiser Nero, wird von seiner recht stillen Gattin begleitet.

Der Großherzog reicht Goethe, eine Forelle mampfend, einen Brief von einem Professor Ludwig Kranigk, welchselbiger ihn dringend vor einem Smaragdring warnt, weil dieser mit einem tödlichen Fluch beladen sei. Mit dem bedauerlichen Ableben des Fürsten sei alsbald zu rechnen. Nach Inaugenscheinnahme besagten Ringes konstatieren Goethe und Schiller mit ernster Leichenbittermiene: „Aussichtslos.“ Der Großherzog flucht und enthüllt zwei Pistolen auf seinem Esstisch, die irgendwie geladen aussehen.

„Unsinn!“ zischt auch ein weiterer Besucher, ein schlanker, schwarzhaariger Kerl von grausamer Physiognomie, wie Schiller findet. Es handelt sich um den Prinzen von S., den künftigen Schwiegersohn des Großherzogs, der schon bald dessen Tochter Dorothea ehelichen soll. Die beiden Dichter machen sich aus dem Staube. Sie lachen über ihre scheinbar harmlose Fopperei, doch schon wenige Tage später wendet sich das Blatt.

Am Tatort

Schiller eilt zu Goethe und Herzog Carl August ins Lustschloss Belvedere, doch dort herrscht eine düstere Atmosphäre: „Der Großherzog ist tot.“ War es Mord, Herzanfall oder Selbsttötung, rätselt Schiller, der Medicus. Goethe verneint alle drei Vermutungen. Der Fall ist ein völliges Rätsel. Der Herzog indes ist besorgt: Nicht der Schatten eines Zweifels dürfe auf die Schuldlosigkeit seiner Person und seiner Familie fallen. Versteht sich – Ehrensache. Ein Jurist und ein Medicus – mit vereinten Geisteskräften der Fall müsste doch zu klären sein.

Leichenfund auf Truhengrund

In dem Zimmer herrscht ein beißend süßlicher Gestank, und als Schiller an den Kamin tritt, wird ihm schwindlig. Er gießt sich ein Glas Wasser ein, um wieder zu Sinnen zu kommen – da schlägt es ihm Freund Goethe flugs aus der Hand! „Gift?!“ fragt Schiller entgeistert. „Wir sollten nichts ausschließen“, knurrt Goethe. Er lenkt Schillers Blick auf eine große Eichentruhe, die mitten im Zimmer steht.

Darin liegt der Großherzog, mausetot, mit bläulich angelaufenem Gesicht und grässlich verzerrtem Mund. „Mord?“ vermutet Schiller. „Mitnichten“, meint Goethe, „die Truhe war von INNEN verschlossen.“ Und da deshalb das Schloss blockiert war, konnte man es auch nicht mit dem Nachschlüssel des Haushofmeisters öffnen. Eine Geheimtür ist an der Truhe auch nicht zu finden, und es ist physisch unmöglich, dass sich ein Mensch selbst erwürgt, etwa um sich einer Gefahr zu entziehen: Er würde ja vor Eintreten des Todes ohnmächtig werden.

Das Gesicht im Fenster

Noch über dieses Mysteriums rätselnd hören die zwei Ermittler zwei streitende Männerstimmen, anschließend einen lauten Knall, als sei eine Tür ins Schloss geworfen worden. Gleich darauf eilt der Prinz von S. die Treppe hinab und zu einer Kutsche, mit der er sich entfernt. Da bereits der Vollmond aufgegangen ist, machen sich auch Goethe und Schiller auf den Weg. Als er sich zufällig umwendet, erblickt Schiller das Antlitz einer wunderschönen jungen Frau, die traurig aus einem der oberen Fenster schaut. Zweifellos die Prinzessin von N., die schon bald die Fürstin von S. werden soll.

Vernehmungen

Am nächsten Tag wird Schiller von Goethe in einer Kutsche mitgenommen, in der sich bereits die Herzoginmutter und der widerliche Prinz von S. befinden. Auch diesmal geht’s nach Belvedere. Der Bruder des Verstorbenen, ebenso korpulent wie jener, ist der neue Großherzog. Die Großherzogin sei für längere Zeit nicht zu sprechen, sagt er. Die Bediensteten sagen nichts, die Prinzessin ist unauffindbar. Und da der Prinz von S., wütend ob dieser Verdächtigungen, laut darauf hinweist, dass er sich in der Tatnacht 300 Meter entfernt im Kavaliershause befunden habe, gibt es keinen einzigen Verdächtigen.

Im Eishaus

Da lässt die Großherzogin von N. die beiden Ermittler holen. Ein Diener führt sie weit in den Schlosspark hinein, bis sie zu einer niedrigen Hütte gelangen, die als Eishaus dient. Hier werden üblicherweise die verderblichen Lebensmittel kühl gelagert, doch heute beherbergt die Hütte die Leiche des Fürsten. Sie sollte hier für den Abtransport in die Heimat aufbewahrt werden.

Schiller schnappt nach Luft, als er die grässlichen Verstümmelungen am Körper des Toten bemerkt. „Ist es der Fluch?“ will die Witwe wissen. Da Schiller keine Ursache für solche Verletzungen nennen kann, neigt sie dazu, an eine übernatürliche Ursache zu glauben.

Ein Glück, dass am nächsten Tag jemand eintrifft, der Licht ins Dunkel bringen kann: Professor Kranigk höchstpersönlich. Doch unsere Ermittler haben sich zu früh gefreut, denn der Professor führt etwas im Schilde…

Mein Eindruck

„Der Ring muss zerstört werden!“ – Na, an wen erinnert uns dieser fordernde Satz? Natürlich an Herrn Elrond im mittelirdischen Bruchtal. Die Geschichte laviert sich durch viele weitere solche Assoziationen, nur um dann die Erweiterungen des Lesers auf den Kopf zu stellen. Wohl dem, der mit den Werken der criminalistischen Ermittler Schiller und Goethe vertraut ist. Im letzten der 61 kurzen und superkurzen Kapitel listet der wackere Chronist Schiller auf, zu welchem poetischen Durchbruch ihm diese curiose Fall verholfen: Seine beste (und heute bekanntesten) Balladen entstanden gleich danach: „Der RING des Polykrates“, Der Taucher“ und „Die Kraniche des Ibykus“. Auch Goethe hat einen guten Einfall: „Hermann und Dorothea“ soll sein neuer Roman heißen. (Muss man aber nicht gelesen haben.)

Menschliche Ermittler

Offenbar kennt sich der Autor bestens mit diesen Werken aus, ist aber auch mit den menschlichen Eigenheiten der beiden Spürnasen vertraut. So weiß wohl jeder Schiller-Fan, dass der Maestro auf den Duft gäriger Äpfel stand, die bei irgendein ein unterbewusstes Kreativitätszentrum anregten. Er pflegte sie jedenfalls in der Schublade seines Schreibtisches aufzubewahren.

Na, und Goethe erst! Der ist ein rechter Autoritätsfanatiker und bannt mit seinem strengen Blick, den Schiller genial zu beschreiben weiß, jedes Gegenüber – solange dieses männlich ist. Für Frauen hat der geheime Geheimrat ein viel zu weiches, mitfühlendes Herz. Wie sonst ließe sich erklären, dass er einen der Täter laufen lässt, weil dieser alles aus Liebe zu seiner Angebeteten tut? Zuweilen ergeht sich Goethe auch in sentimentalen Träumereien oder in Trübsinn, aus denen ihn der wackere Schiller wecken muss.

Zwei Täter?

Dass es mindestens zwei Täter geben muss, ergibt sich aus der Vielzahl der rätselhaften Beobachtungen, die der scharfäugige Schiller schon von Anfang macht. Da heißt es für den Krimi-Freund aufpassen und höchste Aufmerksamkeit walten lassen! Schon nach meiner kurzen Inhaltsangabe, die nur den allergeringsten Teil der Geschichte anzureißen vermag, stellen sich dem Leser eine ganze Menge Rätsel. Wie Schiller hätte unsereins ja einen Dukaten auf den Prinzen von S. gesetzt, der ja so ein widerlicher Fiesling ist und auch noch die holde Prinzessin bekommen soll. Doch schon bald nach dem Fund im Eishaus wird auch der Prinz von S. an eisiger Ruhestätte gefunden, geradezu zerfleischt wie von wilden Hunden – an seinem Finger der verfluchte Ring.

Viele Täter?

So richtig mulmig wird es unseren wackeren Schnüfflern, als sie entdecken, dass man an der Uni Erfurt weder einen Prof. Kranigk kennt, noch einen Secretarius Bühler, der diesem assistieren soll. Stattdessen wird die ganze Sache recht brenzlig: Der Rock des Professors geht unvermittelt in Flammen auf, die Stube Bühlers wird in Brand gesetzt und diverse andere chemische Reaktionen bringen unsere Ermittler in Bedrängnis. Um ein Haar wäre Goethe frühzeitig den Weg allen Fleisches gegangen, wenn es nicht Schiller gelungen wäre, aus dem Fenster auf den Sims zu springen, auf diesem zum Fenster des Nachbarzimmers zu gelangen, dieses einzuschlagen und sodann die blockierte Tür zu entsperren, so dass der eingeschlossene Goethe wieder Luft bekommen konnte. Puh!

Chemie!

Chemie begann in der aufgeklärten Gegend von Weimar, Jena und Erfurt bereits eine Flut von Hobby-Experimentierern auslösen – bis es die ersten schweren Unfälle gab. Genauso aktuell ist der Roman, als die Gebrüder Montgolfier mit ihrem Heißluftballon in der Region landen. Sie hoben bekanntlich erstmals 1783 damit ab. 1797 ist also 14 Jahre später. Natürlich liegt es nahe, den Ballon als schnellere Alternative zu Pferd und Kutsche zu benutzen – mit allen Gefahren und komischen Situationen. Dabei lernen wir verblüfft, dass Goethe höhenkrank ist – er kann die „Existenz auf einer höheren Ebene“ ganz im Unterschied zu gewissen seiner Figuren überhaupt nicht lustig finden: Er hat Flugangst.

Wie man sieht, hat die Geschichte jede Menge Action, Geheimnisse und sogar Verfolgungsjagden zu bieten. Der Showdown findet stilecht in einem kleinen Provinztheater mitten in der Altstadt von Nürnberg statt. Der Weg dorthin kann es mit gewissen Verfolgungsjagden in Venedig oder Rom durchaus an Gefahr und Dramatik aufnehmen. Werden wir Professor Kranigk wiedersehen? Das sollte jeder Leser selbst ehrausfinden.

Unterm Strich

Selbstredend ist das Ermittlerduo an das weltbekannte Duo Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson angelehnt. Letzterer ist wie Schiller ein Arzt von Profession, doch Goethe unterscheidet sich deutlich in Anatomie und Geist von Sherlock, so dass er fast noch der interessantere Teil des dynamischen Duos darstellt. Er mag ja in den Dialogen mit anderen das Sagen haben, aber Schiller ist nicht der Bauch und das Herz des Duos, sondern dies trägt Goethe bei. Schiller wäre gerne der einfallsreiche Kopf des Duos, doch mehr als einmal „zermartert er sich das Hirn“ auf der Suche nach einem Einfall, einer spitzen Replik oder auch nur einem guten Reim. Manchmal erweist sich ein drohend erhobener Degen (den unter den Zivilisten nur Hofräte und Adlige führen durften) als wirkungsvoller.

Beide Spürnasen sind menschlich-allzu-menschlich, und das macht sie sowohl sympathisch als auch nahbar. Die Dichterfürsten gibt es hier nicht – sie werden auf den Boden der banalen Realität heruntergeholt. Der Fall führt nämlich in die letzten Jahre des Deutschen Reiches, das vor 1806, als Napoleon es auflöste, in zahlreiche Fürstentümer gespalten war – mit Ausnahme von Preußen und Österreich-Ungarn, versteht sich.

Man genieße nur mal die wunderbare Szene, in der Goethe mit dem Polizeihauptmann von Nürnberg zu kommunizieren versucht. Doch dieser brave Mann spricht ein derart „schauderhaftes Fränkisch“, dass die Verständigung mit Händen und Füßen erfolgversprechender ist. Die Kleinstaaterei des Reiches macht sich auch in solchen Sprachbarrieren bemerkbar. Der ganze Fall besteht fast nur aus solchen Grenzüberschreitungen, nicht nur geografisch, sondern auch politisch und sozial.

Meine Lektüre

Das Buch kommt im idealen Taschenbuchformat daher, ist aber in Leinen gebunden – siehe Titelbild. Nach einer gewissen anfänglichen Verwirrung über die mehreren Fehlstarts dieser Ermittlung fand ich mehr und mehr Vergnügen an der rasanten Entwicklung des Falls, so dass das Buch zum Pageturner wurde – ideal für Zugfahrten und lange Flüge. Geheimnisse werden entdeckt, Verdächtigungen widerlegt, Rätsel gestellt, Identitäten erweisen sich eine nach der anderen als falsch – unseren beiden wackeren Ermittlern bleibt nichts erspart, und der Leser kann froh sein, dass sie mit heiler Haut aus dieser brenzligen Affaire herauskommen.

Ein Schlag auf den Hinterkopf ist allerdings das äußerste Maß an Gewaltanwendung, das „live in action“ stattfindet. Auch dieser Roman ist familienkompatibel. Für eine Theateraufführung wäre er zwar hervorragend geeignet, doch die vielen Brände und Reise machen die Aufführung kompliziert und riskant.

Was mir gefehlt hat, ist eine romantische Verwicklung der beiden Schnüffler im Laufe ihres Falls. Prinzessin Dorothea ist zwar ganz nett anzusehen, aber als Zeugin völlig unbrauchbar, alldieweil sie lieber schluchzend in ihr Taschentuch heult, als eine brauchbare Täterbeschreibung zu liefern. Deshalb hoffe ich, dass „Durch Nacht und Wind“ (ein Zitat aus Goethes „Erlkönig“) nicht der letzte kriminalistische Fall der Herren Goethe und Schiller gewesen ist.

Gebundene Ausgabe: 237 Seiten
ISBN-13: 978-3608503760
www.klett-cotta.de/buecher/tropen

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